Der gewalttätige Einsatz der Göttinger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) am 10.04.2014 gegen Abschiebungsgegnerinnen und -gegner im Neuen Weg in Göttingen war rechtswidrig. Das hat das Verwaltungsgericht (VG) Göttingen nach einer mündlichen Verhandlung am gestrigen 22.05.2019 entschieden und damit der Klage eines heute 27-jährigen Göttingers vollständig stattgegeben (Az.: 1 A 296/16).
Am frühen Morgen des 10.04.2014 hatten bis zu 60 Personen gegen eine durch die Stadt Göttingen angeordnete Abschiebung eines Geflüchteten aus Somalia demonstriert und zeitweise das Treppenhaus des Wohnhauses blockiert, in dem der Geflüchtete wohnte. Die Göttinger BFE räumte unter Einsatz erheblicher Gewalt den Treppenbereich. Die Abschiebung wurde unmittelbar nach dem Einsatz abgebrochen.
Die Klage des seinerzeit 22-jährigen Klägers richtete sich gegen den unmittelbaren und unangekündigten Einsatz von Reizgas im Treppenhaus des Wohnhauses sowie gegen den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt in Form von Schmerzgriffen und Faustschlägen gegen den Kopf. Durch den Reizgaseinsatz und die Schläge verlor der junge Mann zwischenzeitlich das Bewusstsein und musste von Sanitätern behandelt werden.
Das VG schloss sich in dem Verfahren nun der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Niedersachsen aus einem Urteil vom 28.10.2016 (Az.: 11 LB 209/15) an. Hiernach gebiete bereits der Grundsatz der Vorhersehbarkeit polizeilichen Handelns, die bewusste und gewollte Zufügung erheblicher Schmerzen im Rahmen der Anwendung unmittelbaren Zwanges gesondert und konkret vorher anzudrohen. Dies war nicht erfolgt, so dass der Einsatz bereits aus formalen Gründen rechtswidrig war.
Zu der eigentlichen Frage der Verhältnismäßigkeit der Anwendung von Reizgas in geschlossenen Räumen gegen eine größere Gruppe von Menschen und die Anwendung von Schmerzgriffen sowie Faustschlägen, um die Blockade eines Treppenhauses zu lösen, musste sich das Gericht daher nicht mehr äußern.
„Das Urteil begrenzt bereits auf formaler Ebene den Einsatz von Gewalt zum Zweck der Zufügung erheblicher Schmerzen und wird in die polizeilichen Schulungen einfließen müssen.“ begrüßt Rechtsanwalt Sven Adam, der den Kläger vertritt, die Entscheidung. „Wir hätten uns allerdings gefreut, wenn auch über die Frage der Verhältnismäßigkeit der Gewalt der Göttinger BFE an diesem Tag hätte entschieden werden können.“ so Adam weiter.
Zwei der eingesetzten Polizeibeamten hatten kurz vor dem Gerichtstermin einen Anwalt beauftragt, um ein Zeugnisverweigerungsrecht wegen einer möglichen Strafbarkeit des Einsatzes zu prüfen. Die zunächst geladenen Zeugen wurden vor dem Gerichtstermin daher wieder abgeladen.
Drei gegen Abschiebegegnerinnen und –gegner durch die Staatsanwaltschaft Göttingen erhobene Anklagen wegen der Vorfälle am 10.04.2014 endeten am 03.07.2017 vor dem Amtsgericht Göttingen mit Freisprüchen (z.B. Az.: 34 Ds 32 Js 21154/14 (5/15)) bzw. Einstellung ohne Auflagen (Az.: NZS 34 Ds 32 Js 21154/14 (5/15)). Diverse weitere Verfahren wurde bereits im Ermittlungsverfahren eingestellt (z.B. gegen den Kläger – Az.: NZS 32 Js 21154/14).
Eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen des Einsatzes am 10.04.2014 sind bis heute nicht bekannt.