Tacheles Rechtsprechungsticker KW 23/2019

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 29.05.2019 – B 8 SO 14/17 R und B 8 SO 8/17 R

Passbeschaffungskosten aus der Regelleistung!

Orientierungssatz (Redakteur)
Passbeschaffungskosten sind nicht nach § 73 SGB XII zu übernehmen; es fehlt an der hierfür erforderlichen atypischen Bedarfslage, weil diese Kosten dem Regelbedarf zuzuordnen sind (anlehnend an BSG, Urt. v. 12.09.2018 – B 4 AS 33/17 R).

Quelle: www.juris.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 02.04.2019 – L 6 AS 467/17

Angelegenheiten nach dem SGB II – Angemessenheit der Kosten der Unterkunft – schlüssiges Konzept Göttingen 2012/2014

Leitsatz (Juris)
1. Das Konzept zur Ermittlung der Angemessenheitsgrenzen für die Kosten der Unterkunft im Landkreis Göttingen 2012 mit der Indexfortschreibung 2014 erfüllt nicht die Anforderungen des Bundessozialgerichts an ein schlüssiges Konzept.

2. Bei einem methodischen Ansatz, zur Bestimmung der Grenzwerte den gesamten Wohnungsmarkt zu erheben, muss die gezogene Stichprobe diesen widerspiegeln, also repräsentativ sein.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

2.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.03.2019 – L 11 AS 1334/15

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – angemessene Unterkunftskosten – schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers – Einbeziehung von Daten über Bestandsmieten

Leitsatz (Juris)
1. Ermittelt der Leistungsträger die Angemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II ausschließlich unter Berücksichtigung von Angebotsmieten und ohne Bestandsmieten, handelt es sich wegen fehlender Repräsentativität der Daten nicht um ein schlüssiges Konzept im Sinne der BSG-Rechtsprechung (Anschluss an Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24. Mai 2018 – L 8 SO 193/13 –; Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch BSG, Beschluss vom 28. Januar 2019 – B 8 SO 41/18 B –).

2. Dass im Rahmen eines schlüssigen Konzeptes zur Bestimmung der abstrakt angemessenen Aufwendungen auch auf Bestandsmieten abzustellen ist, ist vom BSG in jüngerer Zeit nochmals ausdrücklich bestätigt worden und daher nicht (mehr) klärungsbedürftig (BSG, Urteil vom 12. Dezember 2017 – B 4 AS 33/16 R -, SozR 4-4200 § 22 Nr 93, Rn 17 unter Bezugnahme auf die Regelung des § 22c Abs 1 Satz 3 SGB II; so auch BSG, Beschluss vom 28. Januar 2019 – B 8 SO 41/18 B -, Rn 6).

3. Ein solches Konzept beinhaltet auch nicht deswegen Bestandsmieten, weil davon auszugehen ist, dass Wohnungen mit den in Vergangenheit erhobenen Angebotsmieten zu diesem Preis vermietet worden sind. Es handelt es sich dabei nicht um Bestandsmieten im Sinne eines schlüssigen Konzeptes, weil weder bekannt noch plausibel nachzuvollziehen ist, welche der angebotenen Wohnungen tatsächlich zu welchen konkreten Konditionen vermietet worden sind.

4. Wählt der Leistungsträger bewusst eine Methode, die ausschließlich Angebotsmieten ohne eine Begrenzung auf ein bestimmtes Wohnungsmarktsegment berücksichtigt, handelt es sich bei einer beabsichtigten nachträglichen Berücksichtigung der Bestandsmieten von Transferleistungsempfängern nicht um eine Nachbesserung des bereits vorhandenen Konzeptes, sondern um eine schon im Ansatz andere Herangehensweise. Zudem fehlt es an der Vergleichbarkeit dieser Daten.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

2.3 – LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 02.04.2019 – L 10 AS 61/17

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein Vermögensgegenstand ist nur dann verwertbar im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II, wenn hieraus im Bewilligungszeitraum auch Erträge zu erwarten sind, mit denen die bedürftige Person ihren notwendigen Lebensunterhalt wird bestreiten können.
In jedem Einzelfall hat geprüft zu werden, ob prognostisch von einer Verwertbarkeit des betr. Vermögens innerhalb von maximal einem Jahr (§ 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II) auszugehen ist.
Bei einer marktgängigen Immobilie ist eine entsprechende Verwertbarkeit grundsätzlich zu bejahen. Dies liegt aber bei einem im ländlichen Raum gelegenen Hausgrundstück mit ungünstiger verkehrsmäßiger Anbindung, das noch vollkommen neu vermessen zu werden hat, nicht vor.

Quelle: www.dgbrechtsschutz.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Braunschweig vom 11.04.2019 – S 41 AS 87/19 ER

Leitsatz RA Michael Loewy
Eine vollständige Leistungseinstellung bei einem eine nicht bedarfsdeckende sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aufnehmenden alleinstehenden Leistungsempfänger, der sich Mietforderungen, laufenden Energiekosten und einem Bedarf für Lebensmittel, Hygieneartikeln und ähnlichem ausgesetzt sieht, ist völlig indiskutabel.

Quelle: www.anwaltskanzlei-loewy.de

3.2 – Sozialgericht Köln, Urteil vom 20. Februar 2019 (Az.: S 8 AS 4068/17):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Anwendbarkeit des § 28 SGB X (Wiederholte Antragstellung), wenn zunächst ein Antrag auf Gewährung von Alg I gestellt wurden, den aber die BA für Arbeit ablehnte, weshalb beim Jobcenter erst zu einem späteren Zeitpunkt ein Antrag auf Alg II (§§ 19 ff. SGB II) einging.

Der Antragsteller war hier nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in der Weise zu stellen, als hätte er auf die Rückwirkungsfiktion des § 28 SGB X verzeichtet und Leistungen bereits zu einem früheren Zeitpunkt begehrt. Amtlicherseits wurde hier ein Verstoß gegen die Auskunfts- und Beratungspflichten (§§ 14 und 15 SGB I) begangen.

Eine dem Antragsteller bereits vor dem Antragszeitpunkt zugeflossene Abfindung nach § 1a KSchG steht – unabhängig davon, ob dieser Betrag als ein vorab gezahltes Arbeitsentgelt aufgefasst zu werden hat – der Geltendmachung eines Leistungsanspruchs gemäß den §§ 19 ff. SGB II nicht entgegen, sofern es sich bei diesem Kapitalzufluss um ein unter § 12 Abs. 2 SGB II subsumierbares Schonvermögen handelt.

Als Vermögen im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II – und nicht als Einkommen entsprechend § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II – ist alles dasjenige einzuschätzen, was einem Antragsteller bereits vor der Antragstellung wertmäßig zur Verfügung stand.

Quelle: www.dgbrechtsschutz.de

3.3 – Sozialrecht Heilbronn, Urteil vom 6. Februar 2019 (Az.: S 10 AS 1963/18):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine vom ehemaligen Vermieter eines Alg II-Empfängers zum Zwecke der Förderung der freiwilligen Räumung der bislang bewohnten Mietsache gewährte “Umzugsbeihilfe” (hier: EUR 2.500,-) darf vom Jobcenter nicht entsprechend § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II als Einkommen bedarfsmindernd berücksichtigt werden.

Hier wurde eine Vermögensumschichtung vorgenommen. Der Mieter tauschte sein Gebrauchs- und Besitzrecht an der Wohnung gegen die “Umzugsbeihilfe” seines (ehemaligen) Vermieters ein.

Wenn Einkünfte lediglich darauf beruhen, dass ein Vermögensgegenstand in Geld oder geldwerte Einnahmen umgesetzt wird, ist nicht von einem Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II auszugehen. Dieser Betrag hat hingegen dem Vermögen (§ 12 Abs. 1 SGB II) zugerechnet zu werden.

Quelle: www.dgbrechtsschutz.de

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 10.04.2019 – L 2 AL 55/18

Die persönliche Arbeitslosmeldung nach § 141 Abs. 1 SGB III ist auch zulässig, wenn die Arbeitslosigkeit noch nicht eingetreten, der Eintritt der Arbeitslosigkeit aber innerhalb der nächsten drei Monate zu erwarten ist.

Orientierungssatz (Redakteur)
Ergibt sich, dass entgegen den Erwartungen die Arbeitslosigkeit zu einem späteren Zeitpunkt eintritt, bleibt die Arbeitslosmeldung wirksam, wenn Arbeitslosigkeit tatsächlich eintritt und dies innerhalb der Frist von drei Monaten geschieht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.05.2019 – L 7 AL 84/18

Leitsatz (Juris)
1) Eine Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe tritt bei einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer auch dann ein, wenn zwischen Auflösungsvertrag und Beendigung des Arbeitsverhältnisses fast drei Jahre liegen.

2) Der Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Minderung der Anspruchsdauer infolge einer Sperrzeit kann mit einer Verpflichtungsklage verfolgt werden.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zum Asylrecht

5.1 – Sozialgericht Dresden, Beschluss vom 20. September 2018 (Az.: S 20 AY48/18 ER)

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine verfassungskonforme Auslegung des AsylbLG gebietet es, dass ein nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG anspruchsberechtigter Antragsteller, auch wenn er eine gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. Abs. 5 BAföG förderfähige Schulausbildung in einem Abendgymnasium durchläuft, um Grundleistungen entsprechend § 3 AsylbLG nachsuchen kann.

Dies folgt aus der überragenden Bedeutung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG). Der Antragsteller kann dieses Grundrecht außerhalb des AsylbLG nicht einlösen. Statusbedingt ist er von Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII ausgeschlossen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 23 Abs. 2 SGB XII).

§ 2 Abs. 1 AsylbLG ist deshalb verfassungskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass im Fall eines Ausschlussgrundes nach dem SGB XII die Inanspruchnahme von Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG unbenommen bleibt.

Quelle: www.saechsischer-fluechtlingsrat.de

6.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – Leistungen für Asylbewerber und Geduldete: keine Anpassung seit 2016, ein Beitrag von Rechtsanwältin Zahra Oubensalh

Leistungshöhe seit 2017 verfassungswidrig

weiter: www.anwalt.de

6.2 – Anspruch behinderter Studierender auf Zuschuss zur Miete, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

Behinderte Studierende, die wegen des Bezugs von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) keinen Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) oder Sozialhilfe (SGB XII) haben, können zuschussweise Eingliederungshilfeleistungen zur Deckung laufender Unterkunftskosten als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhalten.

weiter: sozialberatung-kiel.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker