Tacheles Rechtsprechungsticker KW 34/2019

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 15.07.2019 – L 18 AS 1241/19 B PKH – rechtskräftig

Prozesskostenhilfe; Sanktionsbescheid; Arbeitslosengeld II; ungeklärte Rechtslage

Orientierungssatz (Redakteur)
Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Frage, ob der in § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II angeordnete vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes (Alg) II verfassungskonform ist.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2019 – L 13/15 SF 12/17 EK (AS)

Überlanges Gerichtsverfahren – Entschädigungsklage – Verzögerungsrüge – Schriftform

Eine Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG bedarf, soweit sie nicht mündlich in einem Verhandlungs- oder Erörterungstermin oder in der Rechtsantragstelle zu Protokoll gegeben wird, der Schriftform.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

Hinweis:
Siehe dazu Anmerkung von Herbert Masslau

Das Entschädigungsklageverfahren LSG Niedersachsen-Bremen, Az.: L 13/15 SF 12/17 EK (AS) betraf ein erstinstanzliches Verfahren vor dem SG Stade wegen einer Insolvenzgeldforderung des Klägers sowie ein zweitinstanzliches Verfahren vor dem LSG Niedersachsen-Bremen.
Das erstinstanzliche Verfahren dauerte von Dezember 2004 bis Dezember 2008, das zweitinstanzliche von Januar 2009 bis Januar 2017.
Für die überlange Verfahrensdauer forderte der Kläger 8850 Euro Entschädigung. Das Entschädigungsgericht sprach dem Kläger schließlich 1500 Euro für das erstinstanzliche und 1000 Euro für das zweitinstanzliche Verfahren zu.

Wichtig erscheinen mir zwei Aspekte:

1. Für einen Entschädigungsanspruch ist es nicht erforderlich, daß die Ausgangsverfahren gewonnen werden, denn dem Kläger wurde Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer zugesprochen, obwohl er in beiden Instanzen hinsichtlich der Insolvenzgeldforderung unterlegen war.

2. Da das Urteil in der Entschädigungsklage aktuell vom Juli 2019 ist, scheint es immer noch Verfahren zu geben, die den Übergangszeitraum von vor und nach dem Inkrafttreten des Entschädigungsrechtes (Dezember 2011) betreffen. Hier gereichte dem Kläger zum Nachteil, daß er im zweitinstanzlichen Verfahren erst im November 2014 Verzögerungsrüge erhob statt in den ersten drei Monate nach Inkrafttreten des Entschädigungsgesetzes [BSG, Az.: B 10 ÜG 2/14 R, Rdnr. 27], so daß er für den Zeitraum Januar 2012 bis Oktober 2014 präkludiert war und keinen Entschädigungsanspruch geltend machen konnte. Der Einwand des Klägers, er habe gegenüber dem LSG telefonisch die Verfahrenslänge kritisiert, reichte dem Entschädigungsgericht nicht. Demnach ist eine Verzögerungsrüge entweder schriftlich, zur Niederschrift bei Gericht oder mündlich in dem Verhandlungstermin oder einem Erörterungstermin geltend zu machen.

Abschließend bleibt positiv anzumerken, daß mit dem Übergang der Entschädigungsverfahren durch den Geschäftsverteilungsplan 2019 des LSG Niedersachsen-Bremen vom 15. Senat auf den 13. Senat die Rechtsprechung des LSG vereinheitlicht wurde. Der 15. LSG-Senat hatte bundesweit einzigartig die Rechtsauffassung vertreten, „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger könnten keinen Entschädigungsanspruch geltend machen, weil dieser gemäß § 33 SGB II automatisch auf das Jobcenter überginge [stellvertretend: LSG Niedersachsen-Bremen, Az.: L 15 SF 21/15 EK AS], so daß dem Kläger die Aktivlegitimation (Klagebefugnis) abgesprochen wurde. Dieser absurden Rechtsauffassung war schon der 10. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen vehement entgegengetreten [hier nur: Az.: L 10 SF 10/17 EK U, Rdnr. 33 ff.].

Herbert Masslau

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Berlin, Beschluss v. 09.05.2019 – S 179 AS 3515/19 ER – rechtskräftig

Ermittlung des Einkommens eines selbständig tätigen Grundsicherungsberechtigten – Berechnungsweise nach Richtsätzen des Bundesministeriums der Finanzen

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Zu den voraussichtlichen Einnahmen der Antragstellerin aus ihrer selbständigen Tätigkeit als Betreiberin eines Cafés, Gericht sieht Indizien für ein höheres als bislang angegebenes Einkommen.

2. Ein Indiz für fehlerhafte Angaben ist das Verhältnis zwischen Wareneinkauf und Umsatz. Es weicht – ohne dass hierfür ein Grund ersichtlich ist oder von den Antragstellern eine nachvollziehbare Erklärung gegeben werden kann – von statistischen Werten ab. Das Gericht ist sich bewusst, dass allein die Abweichung von statistischen Kennzahlen eine Verwerfung der Buchführung nicht rechtfertigen kann (so auch Sozialgericht Neuruppin, Urteil vom 18. Februar 2016 – S 18 AS 882/15).

3. Das Gericht greift zur Prüfung des Verhältnisses zwischen Wareneinkauf und Umsatz auf die Richtsatzsammlung des Bundesfinanzministeriums zurück (entgegen LSG Hamburg im Urteil vom 10. September 2018 – L 4 AS 316/15).

Hinweis:
S. a. Dazu Leitsatz (Juris)

Richtsatzsammlung; Sachentnahme; unentgeltliche Wertabgabe; Einkommen; Einkommenskorrektur; Schätzung; Betriebswirtschaftliche Auswertung; BWA; Selbständiger; Wareneinkauf; Umsatz

Leitsatz (Juris)
1. Die Richtsatzsammlung des Bundesfinanzministeriums ist auch im Bereich des SGB 2 die geeignete Schätzgrundlage zur Bestimmung des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit, wenn die Buchführung des Selbständigen zu verwerfen ist.

2. Im Bereich des SGB 2 ist die Richtsatzsammlung besonders für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Wareneinsatz und Umsatz geeignet, bei Abschätzung des Verhältnisses zwischen Wareneinkauf und Gewinn ist sie hingegen mit besonderer Vorsicht anzuwenden.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – SG Mainz, Urt. v. 30.07.2019 – S 14 AS 260/19

Teleologische Reduktion der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB 2 bei unter fünfjährigen Familienangehörigen, die in Deutschland geboren sind.

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Gewährung von ALG II, denn der Gesetzeswortlaut des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II ist dahingehend zu reduzieren, dass leibliche Kinder eines Ausländers, der diese Norm erfüllt, die in Deutschland geboren sind und aufwachsen und das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nur für ihre Lebensdauer ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben müssen.

2. Es war eine teleologische Reduktion dahingehend vorzunehmen, dass die Fünfjahresfrist in § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht auf Familienangehörige zu beziehen ist, die als leibliche Kinder in Deutschland geboren wurden und hier aufwachsen.

Quelle: www.landesrecht.rlp.de

3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.11.2018 – L 8 SO 77/15

Sozialhilfe – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Beiträge für eine privaten Kranken- und Pflegeversicherung – Ruhen des Versicherungsvertrages aufgrund von Beitragsschulden – Versicherung im Notlagentarif – Einkommenseinsatz – Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit – Heranziehung des Einkommensteuerbescheides bei vergangenen Bedarfszeiträumen

Leitsatz (Juris)
1. Hat ein Hilfesuchender in der Vergangenheit erhebliche Beitragsschulden in der privaten Krankenversicherung aufgebaut und ist dementsprechend der Vertrag gemäß § 193 Abs 6 Satz 4 VVG zum Ruhen gebracht worden, sodass das Ruhen nicht allein mit der Feststellung der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII und mit der Bewilligung von Beiträgen im Basistarif beendet werden kann, sondern die vollständige Tilgung der Schulden voraussetzt, ist (nur) der Notlagentarif als weiterer zusätzlicher Bedarf gemäß § 32 SGB X zu berücksichtigen.

2. Liegt der Bedarfszeitraum in der Vergangenheit, ist für eine Einkommensprognose und eine hypothetische Einnahmenüberschussrechnung kein Raum mehr, wenn zwischenzeitlich der – bestandskräftige – Einkommensteuerbescheid des Finanzamtes vorliegt.

Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

3.2 – LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 30.7.2019, L 7 SO 2356/19 ER-B

Leitsatz (Juris)
1. Die Pflicht zur unverzüglichen Weiterleitung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX verlängert die Zweiwochenfrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht, sondern gilt nur in deren Rahmen.

2. Erfolgt die Weiterleitung an einen anderen Rehabilitationsträger nicht fristgerecht, ist im Außenverhältnis zum Antragsteller nur der erstangegangene Rehabilitationsträger zuständig.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.3 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 31,07.2019 – L 15 SO 133/19 B ER – rechtskräftig

Hilfe zur Pflege; Umfang des Hilfebedarfs; Wechsel der örtlichen Zuständigkeit; Weitergewährung durch den zunächst zuständigen Träger; Ende der Weiterzahlungsverpflichtung gemäß § 2 Abs. 3 SGB X; Schutzgedanke des § 2 Abs. 3 SGB X

Leitsatz (Juris)
Die in § 2 Abs. 3 SGB X normierte Leistungspflicht der ursprünglich örtlich zuständigen Behörde endet mit dem Erlass eines ablehnenden Bescheides der örtlich zuständig gewordenen Behörde. Dies gilt auch, wenn die örtlich zuständig gewordene Behörde aus anderen Gründen als der Frage der örtlichen Zuständigkeit einen Ablehnungsbescheid erteilt. Allerdings muss nach Auffassung des Senats der ablehnende Bescheid des zuständig gewordenen Leistungsträgers dann den Anforderungen der §§ 45 ff SGB X genügen. Nach Einschätzung des Senats wollte der Gesetzgeber einem Leistungsempfänger, für den sich die örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers ändert, mit der Vorschrift des § 2 Abs. 3 SGB X den Schutz der §§ 45 ff SGB X weitgehend erhalten.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.4 – Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 14.05.2019 -L 9 SO 31/18 B ER

Leitsatz (Juris)
Die Gabe von Sondennahrung fällt in den Bereich der Pflegeversicherung, auch bei einem Schüler.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

3.5 – Sozialgericht Darmstadt, Beschluss v. 05.08.2019 – S 17 SO 125/19 ER

Leitsatz (Juris)
1. Bereits die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU führt zum Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 7, 2. Halbsatz SGB XII. Auf die Bestandskraft der Verlustfeststellung kommt es nicht an.

2. Zu einer eigenständigen Prüfung der materiellen aufenthaltsrechtlichen Lage sind nach Verlustfeststellung weder der Sozialleistungsträger noch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit befugt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 28. September 2017, L 4 SO 55/17 B ER – Keine Ausnahme vom Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII bei nicht rechtskräftiger Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts durch die Ausländerbehörde

4.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

4.1 – Anmerkung zu: OLG Brandenburg 4. Senat für Familiensachen, Beschluss vom 19.03.2019 – 13 WF 61/19

Autor: Heinrich Schürmann, Vors. RiOLG a.D.

Verfahrenskostenhilfe: Erfolgsaussichten für Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen bei Bezug von SGB II-Leistunge

Leitsätze
1. Ein Forderungsübergang nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfolgt nur in Höhe geleisteter Aufwendungen, also nur für vergangene Unterhaltsperioden und steht einer aussichtsreichen Rechtsverfolgung (§§ 113 Abs. 1 FamFG, 114 Abs. 1 ZPO) von Kindesunterhaltsansprüchen für künftige Monate nicht entgegen. Bereits bestehende aber noch nicht fällige Ansprüche sind ebenso wie alle erst künftig entstehenden Ansprüche vom Anspruchsübergang ausgenommen (vgl. Schürmann, Sozialrecht für die familienrechtliche Praxis, Rn. 1161).

2. Die freiwillige Zahlung von Kindesunterhalt lässt weder das Rechtsschutzbedürfnis des Unterhaltsschuldners an einer vollständigen Titulierung entfallen (vgl. Wendl/Schmitz, Unterhaltsrecht, § 10 Rn. 39 m.w.N.), noch begründet sie Mutwillen des hierauf antragenden Unterhaltsgläubigers (vgl. Musielak/Voit/Fischer, ZPO, § 114 Rn. 38).

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4.2 – Anmerkung zu: LSG München 11. Senat, Urteil vom 16.05.2019 – L 11 AS 932/18

Autor: Dr. Stefan Meißner

Anrechnung des bayerischen Betreuungsgeldes bei SGB II-Leistungen

Leitsatz
Das Betreuungsgeld nach dem Bayerischen Betreuungsgeldgesetz ist keine zweckbestimmte Einnahme i.S.v. § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II und als Einkommen im Rahmen der Leistungsberechnung nach dem SGB II anzurechnen.

A.
Problemstellung
Ist das bayerische Betreuungsgeld bei Leistungen nach dem SGB II als Einkommen zu berücksichtigen?

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4.3 – Miete von Hartz-IV-Empfängern Jobcenter reagiert auf Gerichtsurteil – Altkreis Bernburg

Hartz-IV-Empfänger im Altkreis Bernburg können rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres mehr Geld für ihre Unterkunft erhalten. Die Maximalsätze sind gegenüber der bisher geltenden Richtlinie gestiegen.

Die Behörde hat wie angekündigt ihr sogenanntes schlüssiges Konzept überarbeitet und damit auf ein Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) in Kassel reagiert.

Das Gericht hatte am 30. Januar 2019 das Vorgehen mehrerer Jobcenter bei der Bemessung der Wohnungsmieten von Hartz-IV-Empfängern für unrechtmäßig erklärt.

weiter: www.mz-web.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker