Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 02.10.2019 – Az.: S 42 AY 77/19


URTEIL

In dem Rechtsstreit

xxx,

— Kläger —

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Stadt Göttingen, vertreten durch den Oberbürgermeister,
Hiroshimaplatz 1-4, 37083 Göttingen

— Beklagte —

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 02. Oktober 2019 durch den Richter am Sozialgericht xxx sowie die ehrenamtlichen Richterinnen xxx und xxx für Recht erkannt:

 

  1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 22. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2019 verurteilt, dem Kläger für April 2019 privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII analog in Höhe von 315,47 Euro zu gewähren.
  2. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
  3. Die Berufung wird zugelassen.

TATBESTAND

Der Kläger erstrebt die Gewährung höherer privilegierter Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) — Sozialhilfe — analog für den Monat April 2019.

Der 19xx geborene Kläger ist gambischer Staatsangehöriger und reiste im Jahre 2015 in das Bundesgebiet ein. Er schloss am 18. Juli 2017 einen Berufsausbildungsvertrag zum Dachdeckungstechniker ab dem 01. August 2017 bis Ende Juli 2020, wobei er im zweiten Lehrjahr ein Ausbildungsentgelt in Höhe von 800,– Euro erhalten sollte. Im April 2019 erzielte er 880,– Euro brutto bzw. 705,98 Euro netto. Er verfügte nicht über verwertbares Vermögen.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 22. März 2019 privilegierte Leistungen für die Zeit vom 01. Dezember 2018 bis zum 30. April 2019, wobei auf den Monat April 0,– Euro entfielen, weil sie auf das Ausbildungsentgelt keinen Freibetrag anrechnete.

Dagegen legte der Kläger am 05. April 2019 Widerspruch ein und begründete dies damit, dass zu Unrecht nicht die anteiligen Heizkosten berücksichtigt worden seien. Zudem verstoße die Nichtberücksichtigung des Einkommensfreibetrages nach § 82 Absatz 3 Satz 1 SGB XII gegen den Beschluss des Landessozialgerichtes (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 13. Februar 2018 — L 8 AY 1/18 B ER -.

Mit Abhilfebescheid vom 29. April 2019 bewilligte die Beklagte anteilig Heizkosten und wies den Widerspruch im Übrigen zurück. Sie führte zur Begründung an, dass nach dem Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 04. März 2019 die Absetzung des Freibetrages nach § 82 Absatz 3 SGB XII nicht geboten sei.

Dagegen hat der Kläger am 15. Mai 2019 Klage erhoben.

Er trägt vor:
Der Beklagte gehe zu Recht vom Vorliegen eines Härtefalls gemäß § 22 Absatz 1 SGB XII aus. Er berücksichtigte jedoch zu Unrecht nicht ab dem 01. April 2019 den Freibetrag. Damit werde der Zweck verfehlt, Leistungsberechtigte mit solchen nach dem SGB II gleichzustellen. Es entfalle nicht der Leistungszweck, Anreize für eine Beschäftigung zu schaffen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2019 zu verurteilen, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen monatlich in gesetzlicher Höhe ab dem 01. April 2019 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor:
Der Kläger habe aufgrund des Erlasses und den ergänzenden Hinweisen keinen Anspruch auf Absetzung der Freibeträge nach § 82 Absatz 3 SGB XII. Aus Gründen der Gleichbehandlung könne kein Freibetrag angesetzt werden.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage hat Erfolg.

Die Kammer konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierauf gemäß § 124 Absatz 2 SGG verzichtet haben.

Der Bescheid des Beklagten vom 22. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2019 erweist sich im tenorierten Umfang als rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in eigenen Rechten.

Der Kläger hat im streitigen Monat April 2019 Anspruch auf privilegierte Leistungen in Höhe von 315,47 Euro. Der Kläger ist leistungsberechtigt nach § 1 Absatz 1 Nr. 4 AsylbLG und hat nach 15-monatigem Vorbehalt, ohne die Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst zu haben, die Anspruchsvoraussetzungen des § 2 Absatz 1 AsylbLG, zumal ein Härtefall nach § 22 Absatz 1 SGB XII zu Recht von der Beklagten bejaht wurde.

Der Kläger hatte im April 2019 (unstreitig) einen Hilfebedarf in Höhe von 804,25 Euro. Hiervon ist zur Überzeugung der Kammer das bereinigte Einkommen abzusetzen. Der Kläger erzielte eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 880,– Euro brutto bzw. 705,98 Euro netto. Es ist nach § 82 Absatz 3 Satz 1 SGB XII ein Freibetrag von 30 Prozent des Bruttoeinkommens bzw. höchstens 50 Prozent der Regelbedarfsstufe I abzusetzen. Die Argumentation des Beklagten, dass dem Erlass des Niedersächsische Innenministeriums vom 04. März 2019 zu folgen sei, überzeugt nicht. Die Regelung des Bundesgesetzgebers in § 82 Absatz 3 SGB XII kann weder durch den Erlass eines Landesinnenministeriums noch überhaupt durch eine Landesregelung abbedungen werden, weil dies „nicht geboten” sei. Die Kompetenz, den Normbefehl des § 82 Absatz 3 SGB XII zu ändern oder ganz auszusetzen, hat allein der Bundesgesetzgeber und nicht ein Landesministerium. Solange Bundesnormen inkraft und nicht für verfassungswidrig erklärt worden sind, sind Verwaltung und Gerichte gemäß Artikel 20 Absatz 3 GG im Rahmen der Rechtsanwendung daran gebunden. Zur Überzeugung der Kammer ist damit der Erlass unbeachtlich für die allein durch Bundesnormen bestimmte Rechtsanwendung im vorliegenden Einzelfall. Im Übrigen würde die Nichtanwendung des § 82 Absatz 3 SGB XII auf Analogleistungsberechtigte in Ausbildung eine Ungleichbehandlung zu Leistungsberechtigten nach § 19 Absatz 1 oder 2 SGB XII, bei denen ebenfalls ein Härtefall nach § 22 Absatz 1 SGB XII vorliegt, darstellen, die eine Berufsausbildung absolvieren. Denn bei diesen ist die Freibetragsregelung anzuwenden, zumal und weil ihr eine Anreizfunktion zukommt. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Anreizfunktion nicht für Analogleistungsberechtigte nicht gelten sollte. Ein entsprechender Wille kann dem Gesetzgeber zur Überzeugung der Kammer nicht unterstellt werden bzw. dieser findet im Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag, so dass eine Ungleichbehandlung dem Gleichbehandlungsgrundsatz widerspricht, da kein zulässiges Differenzierungskriterium herangezogen werden kann.

Damit sind vorliegend neben dem Freibetrag nach § 82 Absatz 3 SGB XII in Höhe von 212,– Euro die Arbeitsmittelpauschale von 5,20 Euro vom Nettoeinkommen (705,98 Euro) abzusetzen, so dass bereinigtes Einkommen analog § 82 SGB XII in Höhe von 488,78 Euro auf den Hilfebedarf anrechenbar sind. Daraus ergibt sich der ermittelte Leistungsanspruch von 315,47 Euro (804,25 Euro abzüglich 488,78 Euro). Der angegriffene Bescheid vom 22. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides betrifft lediglich den Zeitraum von Dezember 2018 bis April 2019, so dass der folgende Zeitraum nicht Gegenstand dieses Klageverfahrens sein kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, weil hier die Beschwer der Beklagten mit 315,47 Euro unterhalb des Schwellenwertes von 750,– Euro liegt. Die Berufung wird zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.