Tacheles Rechtsprechungsticker KW 43/2019

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 29.05.2019 – B 8 SO 14/17 R

Keine zuschussweise Übernahme von Kosten für die Neubeschaffung eines ausländischen Passes.

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Bei den Kosten für die Passbeschaffung bei Ausländern handelt sich um solche Kosten, die vom Regelbedarf (vgl § 20 Abs 1 und 2 iVm Abs 5 SGB II bzw § 27a Abs 2 Satz 1 SGB XII, jeweils iVm § 28 SGB XII) erfasst sind. Die Notwendigkeit der Beschaffung eines neuen kongolesischen Passes stellte für den Kläger deshalb keine unbenannte Bedarfslage dar.

2. Eine erweiternde oder analoge Anwendung des § 73 SGB XII kommt mangels Regelungslücke nicht in Betracht, weil für Bedarfe, die der Sache nach vom Regelbedarf umfasst sind, neben den Fällen der abweichenden Bemessung nach § 27 Abs 4 SGB XII nur die – vom Kläger nicht gewollte – darlehensweise Gewährung von Leistungen in Betracht kommt (§ 24 Abs 1 SGB II; vgl dazu BSG vom 29.5.2019 – B 8 SO 8/17 R).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 09.09.2019 – L 7 AS 935/19 B ER – rechtskräftig

Orientierungssatz (Redakteur)
Die Frage, ob zwischen der Antragstellerin und Herrn L eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft iSv § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II besteht und ob aus diesem Grund die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin entfällt, ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zu klären.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 27.08.2019 – L 4 AS 472/17

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Die Angemessenheitswerte im Landkreis Wittenberg beruhten nicht auf einem schlüssigen Konzept im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG).

2. Eine Gewähr für den Ausschluss von Substandardwohnungen sei nicht gegeben. Methodisch fehlerhaft sei der Ausschluss von Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern aus der Erhebung, obwohl diese den Mietwohnungsmarkt im ländlich strukturierten Landkreis prägten. Der Umfang der erhobenen und in das Verfahren eingeführten Daten sei daher nicht dazu geeignet, den Mietwohnungsmarkt zuverlässig abzubilden. Mithin seien die erhobenen Daten nicht hinreichend repräsentativ, denn es werde die tatsächliche Wohnsituation im weitgehend ländlich geprägten Landkreis Wittenberg nicht abgebildet.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Ebenso Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 27.08.2019 – L 4 AS 474/17 u. L 4 AS 473/17

Leitsatz (Juris)
1. Werden Daten von Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern in einem ländlichen Vergleichsraum, der durch das Wohnen in solchen Gebäuden geprägt ist, nicht erhoben, liegt kein schlüssiges Konzept zur Ermittlung angemessener Unterkunftskosten vor.

2. Um die Repräsentativität der erhobenen Daten für ein Konzept sicherzustellen, ist der (lokale) Mietwohnungsmarkt wirklichkeitsgetreu abzubilden. Die Datenerhebung muss ihm in ihrer Zusammensetzung und in der Struktur der relevanten Merkmale möglichst ähnlich sein.

3. Eine fehlerhaft gezogene Stichprobe wird nicht durch eine größere Anzahl einbezogener Datenwerte repräsentativ.

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Bayreuth, Urteil vom 19. September 2019 (S 17 AS 7/19):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
1. Im Zusammenhang mit der bedarfsmindernden Berücksichtigung von Rückzahlungen und Guthaben, die dem Bedarf für Unterkunft und Heizung (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II) zuzuordnen sind, stellt § 22 Abs. 3 SGB II klar, dass hier vom Jobcenter auch der Punkt geprüft zu werden hat, auf welche Weise dieses Einkommen erwirtschaftet wurde.

2. „Nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung“ im Sinne des § 22 Abs. 3, 2. HS SGB II sind auch solche Kostenpunkte, mit denen eine nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigte Person außerhalb des Leistungsbezugs konfrontiert wurde.

3. Die Herkunft entsprechender Guthaben ist vom SGB II-Träger nur dann bedarfsmindernd zu berücksichtigen, wenn diese Mittel während des laufenden Leistungsbezugs und nach Vollzug der Kostensenkungsaufforderung entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II aus dem Regelbedarf oder anderen Eigenmitteln erwirtschaftet worden sind, nicht aber, wenn diese Gelder auf außerhalb des Leistungsbezugs z. B. durch eigenes Erwerbseinkommen finanzierte Vorauszahlungen zurückzuführen sind.

Hinweis:
S. a. dazu: Thomé Newsletter 38/2019 vom 13.10.2019, Punkt 3

3.2 – Sozialgericht Berlin, Urt. v. 18.01.2019 – S 37 AS 12211/18 – rechtskräftig

Vorläufige Bewilligung, Krankengeld, Nachzahlung, Monatsprinzip, Einmaleinkommen, Zufluss-Folgemonat

Zur Frage, wie laufende Krankengeldzahlungen anzurechnen sind und bei Nachzahlungen das Durchschnittseinkommen gemäß § 41a Abs. 4 SGB II zu bilden ist,

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Dass Nachzahlungen, die wie Einmaleinkommen anzurechnen sind, auch bei einer endgültigen Leistungsberechnung nach zunächst nur vorläufiger Bewilligung im Folgemonat anzurechnen sind, ergibt sich zwingend daraus, dass auch vorläufig bewilligte Leistungen “erbrachte Leistungen” i.S.v. § 11 Abs. 3 Satz 3 SGB II sind. Angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlauts gibt es keinen Spielraum und auch keinen Bedarf für eine richterrechtlich abweichende Gesetzesauslegung (so aber LSG Berlin-Brandenburg vom 24.8.2017 – L 19 AS 2006/16).

2. Zu Recht hat das BSG unter schlichter Bezugnahme auf die Regelung in § 11 Abs. 3 SGB II die Auffassung verworfen, der Zuflusszeitpunkt von Einmaleinkommen sei im Fall von Aufhebungsentscheidungen nach §§ 45, 48 SGB X abweichend von der gesetzlichen Regelung auf den Zuflussmonat zu bestimmen (Urteil vom 24.8.2017 – B 4 AS 9/16 R).

3. Es gibt keinen Grund, dies für die Abrechnung vorläufiger Leistungen anderes zu werten.

Hinweis: Leitsatz (Juris)
1. Auch nach Feststellung dauerhafter Erwerbsminderung können noch Leistungen nach dem SGB 2 geltend gemacht werden, die in einem abschließenden Bescheid nach vorläufiger Bewilligung fehlerhaft berechnet wurden.

2. Hat das Jobcenter monatsgenau gerechnet, können mit Anfechtung nur einzelner Monate höhere Leistungen, die sich aus einer Durchschnittsberechnung nach § 41a Abs. 4 Satz 1 SGB 2 ergeben hätten, geltend gemacht werden.

3. Bei durchgehender Erkrankung ist laufendes von nachgezahltem Krankengeld danach abzugrenzen, dass der monatliche Krankengeldanspruch nach § 47 Abs. 1 Satz 7 SGB 5 laufendes Krankengeld ist, ungeachtet der in Abhängigkeit von der Abgabe der Auszahlscheine überwiesenen Zahlbeträge; soweit diese über den Monatsbetrag hinausgehen, handelt es sich um Nachzahlungen i.S.v. § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB 2.

4. Nachzahlungen sind auch im vorläufigen Bewilligungsabschnitt und bei der endgültigen Leistungsberechnung dem Zufluss-Folgemonat zuzuordnen; auch vorläufig gewährte Leistungen sind „erbrachte Leistungen“ i.S.v. § 11 Abs. 3 SGB 2.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – SG Osnabrück, Beschluss v. 26.07.2019 – S 43 AL 68/19 ER

Keine weitere Förderung einer Hörgeschädigten für zweite Ausbildung.

Orientierungssatz (Redakteur)
In einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren wurde entschieden, dass die Bundesagentur für Arbeit nicht die Kosten für eine (zweite) Ausbildung einer erheblich Hörgeschädigten zur Erzieherin übernehmen muss, da sie grundsätzlich nicht verpflichtet ist, die bestmögliche Ausbildung zu finanzieren, sondern nur eine zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt notwendige Ausbildung.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Entscheidungen der Landessozialgerichte u. Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 25.09.2019 – L 7 SO 4349/16

Leitsatz (Juris)
Für die Abgrenzung von Vermögen und Einkommen nach der modifizierten Zuflusstheorie kommt es bei der Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII nicht auf den Tag der Antragstellung an, sondern auf den Tag, ab dem Leistungen beantragt werden.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.2 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 25.09.2019 – L 7 SO 4668/15

Leitsatz (Juris)
1. Eine zur Feststellungsklage berechtigende Wiederholungsgefahr kann nur hinsichtlich des geltenden, nicht aber in Bezug auf außer Kraft getretenes Recht vorliegen.

2. Im Rahmen des sog. Arbeitgebermodells (§ 63b Abs. 4, § 64f Abs. 3 SGB XII) kann der Pflegebedürftige nur besondere Pflegekräfte beschäftigen; die Beschäftigung von pflegenden Angehörigen ist nicht möglich.

3. Art 19 UN-Behindertenrechtskonvention (juris: UNBehRÜbk) begründet keinen subjektiven Anspruch des behinderten Menschen auf Gewährung von Sozialleistungen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

6.   Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Asylrecht

6.1 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 25.09.2019 – L 7 AY 3535/18

Leitsatz (Juris)
Der Anwendungsbereich des § 7a AsylbLG umfasst im Wesentlichen die Fälle des § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG, in denen Leistungsberechtigte trotz vorhandenen Vermögens in einer Einrichtung Sachleistungen beziehen und dem Träger deshalb zur Kostenerstattung verpflichtet sind.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

6.2 – Sozialgericht Detmold, Beschluss v. 27.06.2019 – S 16 AY 16/19 ER – rechtskräftig

Orientierungssatz (Redakteur)
1. Antragstellerin hat einen Anspruch auf die tenorierten Leistungen gemäß § 3 AsylbLG in gesetzlicher Höhe unter Anrechnung der gewährten Leistungen des § 1 a AsylbLG, denn die vorgenommene Leistungskürzung gemäß § 1 a Abs. 5 Nr. 1 AsylbLG in Verbindung mit § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG ist rechtswidrig.

2. Allein der Nichtbesitz von Ausweispapieren rechtfertigt – nicht die Anspruchseinschränkung, wenn der Nichtbesitz objektiv nicht im Verantwortungsbereich des Leistungsberechtigten liegt (siehe zum ganzen Oppermann in: Schlegel/Volzke, Juris PK-SGB XII, zweite Auflage 2014, § 1 a AsylbLG zweite Überarbeitung, dort Rn.: 71 und 72 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

7.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

7.1 – Hartz IV: Mann darf 74.000 Euro zu viel gezahlte Leistungen behalten

Als „Hartz IV Betrüger“ wurde ein Mann aus Lahnstein (Rhein-Lahn-Kreis) über eine lange Zeit abgestempelt, da das Sozialgericht Koblenz ihn zur Rückzahlung von scheinbar zu Unrecht erhaltenen Leistungen in Höhe von 74.163,62 Euro verurteilt hat. Das Urteil wurde zwei Jahre später schließlich vom LSG Rheinland Pfalz zu Gunsten des Mannes aufgehoben, so dass der Mann das Geld jetzt behalten darf.

weiter: www.hartziv.org

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker