Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 04.02.2020 – Az.: S 42 AY 201/19 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit
xxx,

– Antragsteller –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Stadt Göttingen, vertreten durch den Oberbürgermeister,
Hiroshimaplatz 1-4, 37083 Göttingen

– Antragsgegnerin –

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 4. Februar 2020 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:
 

  1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter Vorbehalt der Rückforderung privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB XII analog für die Zeit vom 17. bis zum 30. November 2019 in Höhe weiterer 101,73 Euro, für Dezember 2019 weiterer 218,–, für Januar 2020 weiterer 222,– Euro und für Februar bis April 2020 monatlich 389,– Euro zu gewähren, sofern nicht zuvor über den Widerspruch vom 15. November 2019 entschieden wird.
  2. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Der Antragsteller erstrebt im Wege der einstweiligen Anordnung die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der 1974 geborene Antragsteller gibt vor, liberianischer Staatsbürger zu sein, und reiste am 17. Oktober 2017 in das Bundesgebiet ein. Er gab in der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an, dass er vor der Einreise nach der Überfahrt von Marokko aus ca. einen Monat in Spanien verbracht habe und von Anfang an nach Deutschland habe reisen wollen. Seitdem er dort sei, werde er medizinisch behandelt, wobei er die Bezeichnung der Krankheit nicht kenne.

Das BAMF lehnte den Asylantrag sowie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutzes mit Bescheid vom 13. Juni 2018 als offensichtlich unbegründet ab, stellte keine Abschiebungsverbote fest und forderte den Antragsteller auf, innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe das Bundesgebiet zu verlassen. Sollte er die Ausreisepflicht nicht einhalten, werde er nach Liberia abgeschoben. Rechtbehelfe gegen diese Entscheidung blieben erfolglos.

Der Antragsteller war zunächst im Besitz einer Aufenthaltsgestattung, ehe sein Aufenthalt bei vollziehbarer Ausreisepflicht gemäß § 60a Absatz 5 Satz 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geduldet wurde (vgl. Schreiben der Beklagten vom 14. September 2018).

Er erhielt zunächst Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, ehe er ein Beschäftigungsverhältnis aufnahm. Mittlerweile lebt er in einer Sammelunterkunft.

Nach einem Vermerk des Ausländeramtes der Antragsgegnerin vom 12. November 2018 stelle die liberianische Botschaft in Berlin keine Nationalpässe aus, sondern verweise ihre Staatsangehörigen an ihre Botschaft in Brüssel. Nach dem Schreiben vom 15. November 2018 solle er sich an diese Botschaft wenden und klären, ob ihm aus Deutschland heraus ein Nationalpass ausgestellt werden könne. Hilfsweise sei er verpflichtet, andere Identitätsdokumente vorzulegen, wobei es auch zumutbar sei, einen Vertrauensanwalt in Liberia zu beauftragen. Diesbezüglich werde ihm bis zum 14. Dezember 2018 eine Frist zur Passbeschaffung gesetzt.

Mit Schreiben vom 11. Dezember 2018 teilte RA Deery, die Prozessbevollmächtigte im ausländerrechtlichen Verfahren, dem Ausländeramt mit, dass sich der Antragsteller per Email und Fax an die Botschaft in Brüssel gewandt habe und nunmehr eine Rückantwort abwarte. Sollte diese nicht erfolgen, werde er sich im Januar unaufgefordert selbst um den Kontakt zu Vertrauensanwälten bemühen. Es werde gebeten, die Arbeitserlaubnis zu verlängern, da es sehr schwierig sei, für Liberianer überhaupt Unterlagen von Botschaften zu erhalten.

Zwischenzeitlich wurden die Duldungen mehrfach verlängert.

Am 28. März 2019 teilte RA Deery mit, dass der Antragsteller noch keine Geburtsurkunde vorlegen könne, da er noch versuche, diese über Dritte im Heimatland zu beschaffen. Mit Schreiben vom 14. August 2019 fragte sie an, wie das weitere Vorgehen sich gestalten solle.

Daraufhin erklärte das Ausländeramt mit Schreiben vom 06. September 2019, dass er Vertrauensanwälte oder Verwandte/Bekannte im Heimatland beauftragen solle. Mit Schreiben vom 10. September 2019 forderte das Ausländeramt den Antragsteller bis zum 09. Oktober 2019 auf, im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten nach §§ 48, 49, 60b AufenthG einen gültigen Pass oder Passersatz und alle sonstigen in seinem Besitz befindlichen Urkunden oder Unterlagen zur Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit vorzulegen. Er werde nunmehr als geduldete Person mit ungeklärter Identität eingestuft gemäß § 60b AufenthG. Im Einzelfall könne er zumutbar Vertrauensanwälte beauftragen oder Verwandte/Bekannte im Heimatland kontaktieren. Ihm sei eine Erwerbstätigkeit nicht erlaubt und Leistungen könnten gemäß § 1a AsylbLG gekürzt werden, sofern aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können.

Mit Schreiben vom 08. Oktober 2019 erklärte RA Deery, dass der Antragsteller sich am 11. Dezember 2018 an die liberianische Botschaft in Brüssel gewandt und eine Liste mit Vertrauensanwälten erfragt habe, ohne dass bis heute eine Antwort eingegangen sei. Der Antragsteller könne die Geburtsurkunde nur erhalten, wenn er sich nach Liberia begebe. Die Erfahrung mit der Botschaft habe gezeigt, dass Versuche der Kontaktaufnahme erfolglos blieben. Der Antragsteller wolle unbedingt wieder arbeiten und sei bereit, den vom Ausländeramt aufzuzeigenden Mitwirkungsmöglichkeiten nachzukommen.

Auf den erneuten Leistungsantrag des Antragstellers vom 02. August 2019 bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 05. November 2019 gekürzte Leistungen nach § 1a AsylbLG für August 2019 in Höhe von 176,11 Euro und für September bis November 2019 in Höhe von monatlich 164,– Euro. Er begründete dies damit, dass die Kürzungstatbestände des § 1a Absatz 1 als auch § 1a Absatz 3 AsylbLG erfüllt seien. Da die Identität des Antragstellers nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne und er den Mitwirkungsaufforderungen nicht nachgekommen sei, seien aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht vollziehbar. Ferner ließen die Umstände auf eine leistungsmissbräuchliche Einreise schließen, da sich aus dem Bescheid des BAMF offensichtlich wirtschaftliche Gründe der Einreise ergäben. So habe er erklärt, im Heimatland die Familie nicht mehr versorgen zu können, und in Deutschland sei die medizinische Versorgung besser. Die Einreise sei über Spanien als sicherem Drittstaat erfolgt.

Dagegen hat der Antragsteller am 15. November 2019 Widerspruch eingelegt und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

Zwischenzeitlich hat die Antragsgegnerin gekürzte Leistungen konkludent ohne Erteilung eines Leistungsbescheides für Dezember 2019 in Höhe von 164,– Euro und für Januar 2020 in Höhe von 167,– Euro bewilligt.

Er trägt vor:
Die Kürzung gemäß § 1a AsylbLG sei verfassungswidrig, weshalb das LSG Niedersachsen-Bremen in solchen Fällen eine Folgenabwägung vornehme. Es sei kein Anhaltspunkt für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten erkennbar. Der Antragsteller bemühe sich ersichtlich um die Beibringung von Identitätsnachweisen, was aktenkundig sei. Eine konkrete Aufforderung nach § 82 AufenthG sei der Ausländerakte nicht zu entnehmen.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 15. November 2019 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 05. November 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor:

Der Antragsteller habe einen Pass oder sonstige Identitätsnachweise zu keinem Zeitpunkt vorgelegt, was auf eine leistungsmissbräuchliche Einreiseabsicht schließen lasse. Trotz wiederholter Aufforderung sei er der Klärung seiner Identität nicht nachgekommen, obgleich er seit dem 05. Juli 2018 vollziehbar ausreisepflichtig sei. Ihm sei lediglich eine Duldung nach § 60b AufenthG erteilt worden wegen der ungeklärten Identität. Diesen Umstand habe er selbst zu vertreten, weil er der Verpflichtung zur Passbeschaffung nicht nachgekommen sei. Aufgrund dessen seien die Grundleistungen gesetzeskonform zu kürzen, was nicht gegen die Verfassung verstoße. Ab dem 01. Februar 2020 werde nach Ablauf der Frist des § 14 AsylbLG die Kürzung neu geprüft.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den beigezogenen Verwaltungsvorgang und die Ausländerakte Bezug genommen.
 

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat insoweit Erfolg, als dem Antragsteller privilegierte Leistungen nach § 2 Absatz 1 Satz 1, 4 Nr. 1 AsylbLG in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe – analog in Höhe ab dem 17. November 2019 bis längstens zum 30. April 2020, sofern nicht zuvor über den Widerspruch vom 15. November 2019 entschieden worden ist, zu gewähren sind.

Mit dem Widerspruch vom 15. November 2019 besteht ein streitiges Rechtsverhältnis. Die konkludenten Bewilligungsentscheidungen für Dezember 2019 und Januar 2020 können noch innerhalb der Jahresfrist angegriffen werden.

Nach § 86 b Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des I. Rechtzuges.

Voraussetzung für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Absatz 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 -). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997 – L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).

Der Antragsteller hat neben dem Anordnungsgrund einen Anordnungsanspruch im tenorierten Umfang glaubhaft dargelegt und einen Anspruch auf privilegierte Leistungen von 101,73 Euro (17. bis 30. November 2019), 218,– Euro (Dezember 2019) und monatlich 222,– Euro (Januar bis April 2020).

(1)
Der Kürzungstatbestand des § 1a Absatz 2 AsylbLG (in der Fassung vom 15. August 2019) ist bei summarischer Prüfung nicht erfüllt. Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nr. 4 und 5, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, erhalten nur Leistungen entsprechend Absatz 1.

Beruht die Einreise auf einer Vielzahl an Motiven, ist die von Gesetzes wegen erforderliche Zweck-Mittel-Relation nur dann als erfüllt anzusehen, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem AsylbLG für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung war (vgl. Hohm, in GK/AsylbLG, Loseblattsammlung, § 1a, Rd. 67). Eine Prüfung im vorliegenden Einzelfall ergibt, dass der vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller § 1 Absatz 1 Nr. 5 AsylbLG seinen Heimatstaat Liberia vor allem aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hat und nicht im sicheren Drittstaat Spanien verblieb, weil Ziel seiner Flucht Deutschland war. Jedoch zeigt die Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses im Bundesgebiet, sobald dies mit Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG rechtlich möglich war, dass er nicht in erster Linie einreiste, um Sozialleistungen nach dem AsylbLG zu beziehen. Durch die Aufnahme der Erwerbstätigkeit war er eine längere Zeit finanziell unabhängig von Hilfen nach dem AsylbLG und musste im August 2019 erst wieder einen Leistungsantrag stellen, nachdem ihm die Arbeitserlaubnis entzogen worden war. Dass er auch aktuell bemüht ist, wieder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, zeigt sich insbesondere anhand des Schriftsatzes der RA Deery vom 08. Oktober 2019 an die Ausländerbehörde, in dem sie betont, dass er unbedingt wieder arbeiten wolle und daher bereit sei, den aufgezeigten Mitwirkungsmöglichkeiten in jedem Fall nachzukommen. Medizinische Gründe spielen lediglich eine untergeordnete Rolle, zumal der Antragsteller im Rahmen des Asylverfahrens nicht in der Lage war, die konkrete Krankheit mit ihrer medizinischen Bezeichnung zu benennen. Gesundheitliche Gründe haben zudem seine Integration in den Arbeitsmarkt ebenso wenig behindert wie sie ursächlich waren für Abschiebungsverbote. Damit wird aus Sicht der Kammer deutlich, dass der prägende Zweck der Einreise keinesfalls der Wille war, Leistungen nach dem AsylbLG zu beziehen, wobei dieser Tatbestand wegen der restriktiven Wirkung eng auszulegen ist.

(2)
Darüber hinaus sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Kürzungsnorm des § 1a Absatz 3 AsylbLG zur Überzeugung der Kammer ebenfalls bei summarischer Prüfung nicht gegeben.

Gemäß § 1a Absatz 3 Satz 1 AsylbLG gilt Absatz 2 entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nr. 4 und 5, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. In analoger Anwendung des Absatz 2 Satz 3 werden ihnen ist zu ihrer Ausreise oder Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können ihnen auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 gewährt werden (Satz 3). Die Leistungen sollen als Sachleistungen erbracht werden (Satz 4). Der Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 endet mit dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag (Absatz 3 Satz 2).

Dies zugrunde gelegt, ist nicht feststellbar, dass der Antragsteller den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen durch eigenes Verhalten vereitelt hat. Nach Durchsicht der Ausländerakte ist vielmehr davon auszugehen, dass er seinen ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten gemäß §§ 82, 48, 49, 60b AufenthG in ausreichendem Maße nachgekommen ist.

Mit Schreiben vom 11. Dezember 2018 teilte RA Deery auf das Schreiben des Ausländeramtes der Antragsgegnerin vom 12. November 2018 mit, dass sich der Antragsteller per Email und Fax an die Botschaft in Brüssel gewandt habe und nunmehr eine Rückantwort abwarte. Sollte diese nicht erfolgen, werde er sich im Januar unaufgefordert selbst um den Kontakt zu Vertrauensanwälten bemühen. Am 28. März 2019 teilte sie mit, dass der Antragsteller derzeit keine Geburtsurkunde vorlegen könne, da er noch versuche, diese über Dritte im Heimatland zu beschaffen. Mit Schreiben vom 14. August 2019 fragte sie an, wie das weitere Vorgehen sich gestalten solle, woraus aus Sicht der Kammer eine gewisse Ratslosigkeit hinsichtlich der Art und der Zielrichtung weiterer Mitwirkungshandlungen erkennbar ist.

Daraufhin erklärte das Ausländeramt, dass der Antragsteller (nicht näher benannte) Vertrauensanwälte oder Verwandte/Bekannte im Heimatland beauftragen solle. Mit dem Schreiben vom 10. September 2019, das nun die Grundlage für die Leistungskürzung darstellt, forderte das Ausländeramt den Antragsteller bis zum 09. Oktober 2019 auf, einen gültigen Pass oder Passersatz und alle sonstigen in seinem Besitz befindlichen Urkunden oder Unterlagen zur Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit vorzulegen. Im Einzelfall könne er zumutbar Vertrauensanwälte beauftragen oder Verwandte/Bekannte im Heimatland kontaktieren.

Mit Schreiben vom 08. Oktober 2019 erklärte RA Deery innerhalb der gesetzten Frist, dass der Antragsteller sich am 11. Dezember 2018 an die liberianische Botschaft in Brüssel gewandt und eine Liste mit Vertrauensanwälten erfragt habe, ohne dass bis heute eine Antwort eingegangen sei. Der Antragsteller könne die Geburtsurkunde nur erhalten, wenn er sich nach Liberia begebe. Die Erfahrung mit der Botschaft habe gezeigt, dass Versuche der Kontaktaufnahme erfolglos blieben. Der Antragsteller wolle unbedingt wieder arbeiten und sei bereit, den vom Ausländeramt aufzuzeigenden Mitwirkungsmöglichkeiten nachzukommen.

Damit war aus Sicht des Ausländeramtes klar, dass sämtliche Mitwirkungsmöglichkeiten, die mit dem Schreiben vom 10. September 2019 vom Ausländeramt aufgezeigt worden waren, ausgeschöpft oder erfolglos waren. Der Antragsteller hatte keine anderen Möglichkeiten der Mitwirkung zur Identitätsfeststellung und Passbeschaffung zur Verfügung, so dass er nicht durch eigenes Verhalten (monokausal) aufenthaltsbeendende Maßnahmen vereiteln konnte. Denn zwischen dem vorwerfbaren Verhalten des Ausländers und dem Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen muss im Rahmen des § 1a Absatz 3 Satz 1 AsylbLG ein Kausalzusammenhang bestehen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 12. Mai 2017 – B 7 AY 1/16 R -). Ausschlaggebend war vielmehr das offenbar bekannte, passive Verhalten der liberianischen Botschaft in Brüssel und der Heimatbehörden, die die Ausstellung der Geburtsurkunde von seiner persönlichen Anwesenheit abhängig machen. Dass er sich über Verwandte/Bekannte in Liberia bemüht hatte, an Passersatzpapiere zu erlangen, kann ihm letztlich genauso wenig widerlegt werden wie die Notwendigkeit der persönlichen Anwesenheit bei der Beschaffung der Geburtsurkunde in Liberia.

(3)
Der Antragsteller hat zur Überzeugung der Kammer Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 Satz 1, 4 Nr. 1 SGB XII i.V.m. SGB XII analog.

Gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Der Antragsteller reiste am 02. Oktober 2017 in das Bundesgebiet ein und hatte damit, ohne dass wesentliche Unterbrechungen vorlägen, im streitigen Zeitraum die 18-monatige Voraufenthaltszeit bzw. Wartezeit zurückgelegt.

Er hat zur Überzeugung der Kammer auch die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet bis zum Ende des streitigen Zeitraums nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, so dass der Regelfall der Höherstufung eintritt.

Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 5. Auflage 2014, § 2 AsylbLG, Rd. 22; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 19. Auflage 2015, § 2 AsylbLG, Rd. 20 m.w.N.). Rechtsmissbräuchlich handelt nach den Urteilen des BSG vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AS 1/07 R und B 8 AY 9/07 R) und 02. Februar 2010 (B 8 AY 1/08 R) derjenige, der über die Nichtausreise hinaus sich sozialwidrig unter Berücksichtigung des Einzelfalls verhält, wobei auf eine objektive und eine subjektive Komponente abzustellen ist. Erforderlich ist der Vorsatz bezogen auf eine die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung mit dem Ziel der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Das bloße Unterlassen einer freiwilligen Ausreise trotz Zumutbarkeit genügt in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2007 – B 9b AY 1/06 R -) nicht. Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte bereits mit Urteil vom 20. Dezember 2005 – L 7 AY 40/05 – festgestellt, dass das Ausnutzen einer Duldung nicht rechtsmissbräuchlich sei und ein weiteres Verhalten hinzutreten müsse.

Darüber hinaus setzt das BSG nicht als Tatbestandsmerkmal voraus, dass das missbilligte Verhalten für die Dauer des Aufenthaltes kausal sein müsse, sondern legt eine abstrakt-generelle Betrachtungsweise zugrunde. Demnach muss der Missbrauchstatbestand auch nicht aktuell andauern oder fortwirken. Eine Ausnahme wird für den Fall formuliert, dass aufenthaltsbeenden Maßnahmen während der gesamten Zeit des Aufenthalts aus Gründen, die der Leistungsberechtigte nicht zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Im Falle eines dauerhaften, vom Verhalten des Ausländers unabhängigen Vollzugshindernisses besteht somit eine Ausnahme von dieser typisierenden Betrachtungsweise.

Zum Verhalten des Ausländers hinzutreten muss nach der zitierten Rechtsprechung des BSG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten. Dabei dürfe sich der Leistungsberechtigte nicht auf einen Umstand berufen, welchen er selbst treuwidrig herbeigeführt habe. Der Pflichtverletzung muss in diesem Kontext im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips unter Berücksichtigung des Einzelfalles ein erhebliches Gewicht zukommen. Dabei stellt das BSG klar, dass auch ein einmaliges Verhalten diese Rechtsfolge zeitigen könne. Rechtsmissbräuchliches Verhalten kann nicht durch eine zwischenzeitliche Integration ausgeräumt werden. Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung unter anderem die Angabe einer falschen Identität oder die Vernichtung des Passes (BT-Drucks 15/420, Seite 121). Dabei erkennt das BSG als Ausnahmefall an, dass das Verhalten eine Reaktion oder vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei welchem um Asyl nachgesucht wird, darstellt. Darüber nennt das BSG im Urteil vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AY 1/07) auch die Weigerung an der Mitwirkung zur Passersatzbeschaffung als Grund für eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung, sofern eine gesetzliche Regelung für die Mitwirkungshandlung besteht. Auf der subjektiven Seite setzt nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet Vorsatz voraus.

Dies zugrunde gelegt, ist aus der Ausländerakte ersichtlich, dass der Antragsteller nicht über seine Identität getäuscht hat, sondern immer dieselben persönlichen Daten angab. Die Beweislast für das rechtsmissbräuchliche Verhalten trägt die Behörde, so dass das bisherige Fehlen von Identitätspapieren und damit die Abgleichmöglichkeit dem Antragsteller nicht zum Nachteil gereicht. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen hat er nicht durch eigenes Verhalten vereitelt oder wesentlich verszögert, wie vorstehend bereits zu § 1a Absatz 3 AsylbLG ausgeführt wurde. Eine rechtsmissbräuchliche Einreiseabsicht – unabhängig von der Auswirkung auf die Aufenthaltsdauer – ist nicht nachweisbar.

Der Antragsteller hat damit Anspruch auf privilegierte Leistungen der Regelbedarfsstufe 2 gemäß § 2 Absatz 1 Satz 4 Nr. 1 SGB XII, weil er im streitigen Zeitraum in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Absatz 1 AsylG wohnt. Höhere Leistungen wurden ausweislich des Antrages, in dem die gesetzlichen Leistungen wurden, in diesem Rechtsstreit nicht geltend gemacht. Vorsorglich wird auf den Beschluss vom 13. Dezember 2019 – S 42 AY 207/19 ER – Bezug genommen, nachdem die Kammer privilegierte Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 für Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften ablehnt, weil allein dem Bundesverfassungsgericht eine Verwerfungskompetenz bezüglich von Bundesgesetzen zusteht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde der Antragsgegnerin statthaft (§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), da die Beschwer mehr als 750,– Euro beträgt (2 x 218,–Euro zuzüglich 10 x 222,– Euro), wobei in der Regel auf einen Zeitraum von 12 Monaten abzustellen ist (vgl. Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 17. August 2017 – L 8 AY 17/17 B ER -).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.