Tacheles Rechtsprechungsticker KW 15/2020

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – LSG Baden- Württemberg, Urt. v. 18.03.2020 – L 3 AS 3218/18

Zur Übernahme von Fahrtkosten für die Methadonbehandlung durch das JobCenter als Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Fahrkosten zur Methadonbehandlung müssen vom Jobcenter bezahlt werden.

2. Es handelt sich nicht um eine Leistung der Krankenkasse bzw. der Bedarf muss nicht durch Einsparungen aus dem Regelbedarf gedeckt werden.

3. Die Kosten für eine Monatsfahrkarte (ca. 100 Euro) waren hier durch das JobCenter zu übernehmen.

Quelle: RA Martin Weise, Freiburg

Volltext

Rechtstipp:
So auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.3.2015 – L 6 AS 1926/14 -  zu Fahrtkosten zu einer täglichen ambulanten Substitutionstherapie mit Methadon; SG Koblenz, Beschluss vom 17.03.2015 – S 6 AS 214/15 ER; ebenso SG Detmold, Urteil vom 11.09.2014 – S 23 AS 1971/12 u. SG Wiesbaden, Beschluss vom 11.10.2010 – S 23 AS 766/10 ER

Hinweis: S. a. dazu Leitsatz (Juris)
1. Bei täglich entstehenden Fahrtkosten zu einer Methadon-Substitutionsbehandlung handelt es sich um einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II (Anschluss an LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.03.2015 – L 6 AS 1926/14 -).

2. Der Fahrtkostenbedarf ist insbesondere auch unabweisbar, weil er nicht durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt ist (Anschluss an LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.02.2016 – L 7 AS 1681/15 B -).

3. Die Trennung der Leistungssysteme der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der gesetzlichen Krankenversicherung steht einem Anspruch nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II nicht grundsätzlich entgegen (Anschluss an BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R -).

1.2 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 18.03.2020 – L 3 AS 2746/18

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Der Anwendungsbereich des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II a. F. auf Erstattungsverlangen ist hinsichtlich bereits ausgezahlter, endgültig bewilligter Leistungen beschränkt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.08.2017 – L 19 AS 2006/16).Bei lediglich vorläufig bewilligten Leistungen werden diese Leistungen stets unter dem Vorbehalt der Rückforderung erbracht.

2. Dieser Auslegung des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II a. F. steht auch nicht dessen Wortlaut entgegen (so aber SG Berlin, Urteil vom 18.01.2019 – S 37 AS 12211/18).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 26. Juni 2019 (L 3 AS 66/18):

Bedarf für selbstbeschafftes Brennholz

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Wenn ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter noch über Heizmittel (hier: Brennholz) verfügt, dann besteht kein Bedarf für Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

Ein Bedarf an neuen Heizmitteln entsteht erst dann, wenn für den Bewilligungszeitraum (§ 41 SGB II) kein Brennmaterial mehr vorhanden ist.

Ein gebundener Anspruch kann lediglich in Bezug auf den aktuellen Bedarf geltend gemacht werden.

Dies gilt gerade in dem Fall, wenn kein Anhaltspunkt dafür besteht, über welche Brennholzvorräte der Antragsteller noch verfügt und welches Holz von ihm mit den bislang entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II bewilligten Mitteln tatsächlich erworben wurde.

Zwar ist eine mehrmonatige Bevorratung mit Heizmaterial noch nicht als systemwidrig zu qualifizieren, eine weitergehende Bevorratung aber nur dann als sinnvoll aufzufassen, wenn ein Andauern des Sozialleistungsbezugs als hinreichend wahrscheinlich und eine solche Bevorratung auch als wirtschaftlich eingeschätzt werden kann.

Besondere Bedeutung hat hier der Aspekt, wenn der Antragsteller – trotz einer entsprechenden Aufforderung des Jobcenters – keine aussagekräftigen Belege über den Umfang und die Kosten seiner tatsächlichen Brennholzbeschaffungen beibringt.

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Bremen, Urteil vom 3. März 2020 (S 16 AS 947/17):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Akzeptanz der von einem Jobcenter zur Konkretisierung der Angemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II herausgegebenen „Fachlichen Weisung“, weil diese Richtlinie den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept entspricht.

Dies kann auch ein Mietspiegel (§ 558c BGB) sein, sofern von einer Repräsentativität und Validität der ihm zugrunde liegenden Daten auszugehen ist. Dies muss bei einer Beteiligung der unterschiedlichsten Interessengruppen des Wohnungsmarktes (wie den städtischen Ämtern, dem Mieter-, dem Haus- und Grundstückseigentümer- sowie dem Maklerverein) an seiner Zusammenstellung und der Beibehaltung des gesamten Stadtgebiets als Vergleichsraum bejaht werden.

2.2 – Sozialgericht Cottbus, Beschluss vom 18. Dezember 2019 (S 29 AS 1540/19 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Verpflichtung des zuständigen Jobcenters zur Bewilligung eines Zuschusses in einer Höhe von EUR 500,- entsprechend § 21 Abs. 6 SGB II zur Anschaffung eines internetfähigen Laptops nebst Zubehör für eine bedürftige, die zehnte Gymnasialklasse besuchende Schülerin.

In der heutigen Zeit handelt es sich hier – gerade mit fortlaufender Schullaufbahn – um einen unabweisbaren, besonderen und deshalb unter § 21 Abs. 6 SGB II subsumierbaren Bedarf.

Dies gilt auch bei bedürftigen, noch die zehnte Gymnasialklasse besuchenden Schülern. Am Ende der Mittelstufe stehen vertiefte Vorbereitungen erforderlich machende Prüfungen was, wofür ein internetfähiges Notebook heute ein fast unerlässliches Hilfsmittel darstellt.

2.3 – Sozialgericht Stralsund, Gerichtsbescheid vom 16. Januar 2020 (S 6 AS 914/18):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Begründetheit einer entsprechend § 88 SGG erhobenen Untätigkeitsverpflichtungsklage.

Wenn das wegen Untätigkeit verklagte Jobcenter – trotz des Ablaufs der Frist nach § 88 Abs. 2 SGG – weder Gründe für die Nichtbescheidung des Widerspruchs vorträgt noch der klägerseitig geltend gemachte Anspruch auf Entscheidung über den form- und fristgerecht erhobenen Widerspruch erfüllt wurde, dass ist der SGB II-Träger antragsgemäß zu verpflichten, über diesen Widerspruch zu entscheiden.

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Arbeitsförderung (SGB III)

3.1 – Sozialgericht Cottbus, Beschluss vom 30. Januar 2020 (S 39 AL 7/19):

Orientierungssatz (RA Dr. Jens-Torsten Lehmann)
Erlass eines Eingliederungsverwaltungsaktes setzt vorherige Rücksprache mit dem Rechtsanwalt voraus

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine Weigerung einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person, eine ihre erforderlichen Eigenbemühungen zur beruflichen Eingliederung festlegende Eingliederungsvereinbarung gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB III gegenzuzeichnen, was die Agentur für Arbeit zum Erlass eines Eingliederungsverwaltungsakts nach § 37 Abs. 3 Satz 4 SGB III berechtigt, liegt nicht vor, wenn der Antragsteller es nur ablehnt, die ihm in der Arbeitsagentur vorgelegte Eingliederungsvereinbarung sofort an Ort und Stelle zu unterzeichnen, um die Inhalte dieses Papiers zunächst mit seinem Rechtsanwalt zu beraten.

Dies ist zulässig und nicht zu beanstanden.

Hier hat die Arbeitsagentur einem Antragsteller eine länger als zwei Tage andauernde Überlegungszeit einzuräumen.

4.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Asylrecht

4.1 – Sächsischen Landessozialgericht. Beschluss vom 23.03.2020 zu dem Az.: L 8 AY 4/20 B ER

Sächsisches Landessozialgericht erkennt: Covid-19 erfordert höhere Leistungen für alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete.

Quelle: www.rav.de

Hinweis:
RAV – Pressemitteilung Nr. 06/20 vom 8.4.2020
Seit dem 1. September 2019 gelten für Geflüchtete in Deutschland neue Regeln im Existenzsicherungsrecht. Seitdem werden u.a. Grundsicherungsleistungen für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften nur zu 90 Prozent gewährt. Von ihnen könne erwartet werden, dass sie gemeinsam wirtschaften wie Ehepaare, heißt es in der empirisch nicht belegten Begründung zur Gesetzesänderung. Dagegen sind in Deutschland Eil- und Hauptsacheverfahren anhängig. Wegen der erheblichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf Menschen in Sammelunterkünften werden zahlreiche weitere Eilanträge vor den Sozialgerichten gestellt.

Hinweis vom RAV, noch ergänzt worden v. Redakteur:
Diese Regelung wird von diversen deutschen Sozialgerichten in Eilverfahren bereits ohne die Auswirkungen des Covid-19-Virus für verfassungswidrig gehalten (vgl.: SG Landshut, Beschlüsse v. 24.10.2019 – S 11 AY 64/19 ER und v. 28.01.2020 – S 11 AY 3/20 ER und v. v. 23.01.2020 – S 11 AY 79/19 ER; SG Hannover, Beschluss v. 20.12.2019 – S 53 AY 107/19 ER; SG Leipzig, Beschluss v. 08.01.2020 – S 10 AY 40/19; SG Darmstadt, Beschluss v. 14.01.2020 – S 17 SO 191/19 ER; SG Frankfurt/Main, Beschluss v. 14.01.2020 – S 30 AY 26/19 ER; SG Freiburg, Beschlüsse v. 20.01.2020 – S 7 AY 5235/19 ER und v. 03.12.2019 – S 9 AY 4605/19 ER; SG Dresden, Beschluss v. 04.02.2020 – S 20 AY 86/19 ER; SG München, richterlicher Hinweis v. 31.01.2020 – S 42 AY 4/20 ER und Beschluss v. 10.02.2020 – S 42 AY 82/19 ER; LSG Sachsen, Beschluss v. 23.03.2020 – L 8 AY 4/20 B ER).

Rechtstipp: Leitsätze von Dr. Manfred Hammel
LSG Sachsen, Beschluss vom 23. März 2020 (L 8 AY 4720 B ER):
Es besteht grundsätzlich ein erhebliches öffentliches Interesse an einer baldigen Aufenthaltsbeendigung der von öffentlichen Mitteln lebenden geduldeten (§ 60a AufenthG i. V. n. § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG) bzw. vollziehbar ausreisepflichtigen (§ 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) Ausländern.

§ 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verpflichtet jeden im Bundesgebiet lebenden Ausländer an der Beschaffung eines Identitätspapiers nach Kräften mitzuwirken und hier insbesondere auch Angaben zu machen, die seine Identifikation ermöglichen.

Hier besteht allerdings das Erfordernis, dass die zuständige Behörde den Ausländer ausdrücklich auf ein Bestehen einer derartigen Verpflichtung und die Folgen einer diesbezüglich unterlassenen Mitwirkung hinweist.

An dieser Stelle reicht es nicht aus, wenn der öffentliche Träger einen Ausländer, der um die Erlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung nachsucht, zur Vorlage eines Identitätspapiers auffordert.

Eine Einstellung der Gewährung von Leistungen nach § 3 AsylbLG wegen angeblich illegaler Beschäftigung und einer behördlicherseits vertretenen fehlenden Hilfebedürftigkeit ohne eine vorherige Anhörung ist als rechtswidrig aufzufassen. Gerade im Bereich der existenzsichernden Hilfen sind die tatsächlichen Voraussetzungen der amtlicherseits erwogenen Kürzungen bzw. Leistungseinstellungen stets sorgfältig und unter Wahrung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) zu ermitteln.

Als Voraussetzung für eine Anspruchseinschränkung entsprechend § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG muss sowohl ein dem Ausländer vorwerfbares Verhalten im Zusammenhang mit der Feststellung seiner Identität als auch die Ursächlichkeit zwischen diesem vorwerfbaren Verhalten und der Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen vorliegen.

Die Rechtmäßigkeit, alleinstehende Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG von Gesetzes wegen der Regelbedarfsstufe 2 (§ 3a Abs. 1 Nr. 2b) AsylbLG) zuzuordnen, nur weil diese Personen in einer Gemeinschaftsunterkunft leben, ist anzuzweifeln. Hier bestehen keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, dass einzig aufgrund dieser Form der Unterbringung stets von einem geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen ausgegangen zu werden hat.

4.2 – LSG Hessen, Beschluss v. 31.03.2020 – L 4 AY 4/20 B ER

Normen: § 1a AsylbLG – Schlagworte: § 1a Abs. 1 AsylbLG a.F. und § 1a Abs. 2 AsylbLG müssen unangewendet bleiben, wenn die Anwendung die repressive Zielsetzung der Normen verwirklicht, keine migrationspolitische Relativierung der Würde des Menschen

Orientierungshilfe (Redakteur)
Zur Frage, § 1a AsylbLG evtl. verfassungswidrig (vgl. LSG NSB, Beschlüsse v. 19.3.2020 – L 8 AY 4/20 B ER und v. 04.12.2019 – L 8 AY 36/19 B ER (beide RA Jan Sürig, Bremen)

Orientierungssätze (RA Sven Adam, Göttingen)
1. § 1a Abs. 1 AsylbLG a.F. und § 1a Abs. 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 AsylbLG in der seit 21. August 2019 geltenden Fassung bedürfen einer verfassungskonformen Auslegung. Der Kreis legitimer Zwecke der Auferlegung von Mitwirkungs- oder Unterlassungspflichten und ihrer Sanktionierung ist hiernach eng zu ziehen, denn das Grundgesetz kennt keine allgemeinen Grundpflichten der Bürgerinnen und Bürger. Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu.

2. Eine Anspruchseinschränkung kann die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nur dann wahren, wenn sie nicht darauf ausgerichtet ist, repressiv Fehlverhalten zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Das setzt voraus, dass es den Betroffenen tatsächlich möglich ist, die Minderung staatlicher Leistungen durch eigenes zumutbares Verhalten abzuwenden und die existenzsichernde Leistung wiederzuerlangen.

3. Eine geforderte Ausreise ist kein solch zumutbares Verhalten, weil die Ausreise dazu führt, dass hierdurch die ursprünglich berechtigte Person den räumlichen Gewährleistungsbereich von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und den Anwendungsbereich des AsylbLG verlässt und ihr Anspruch durch diese vermeintliche Mitwirkungshandlung untergeht.

Quelle: RA Sven Adam, Göttingen

5.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

5.1 – Das Sozialschutz-Paket: (Erste) Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Sozialrecht, Autor Dr. Andy Groth, RiLSG

weiter: www.juris.de

Frohe Ostern und bleiben sie gesund!!!!

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker