Tacheles Rechtsprechungsticker KW 23/2020

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 12. Dezember 2019 (B 14 AS 26/18 R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die Angemessenheit der mit der Nutzung von Eigentum zum eigenen Wohnen verbundenen Aufwendungen ist anhand der Kosten zu beurteilen, die für Mietwohnungen angemessen sind. Die Frage nach der Angemessenheit von Unterkunftskosten ist für Mieter und Hauseigentümer nach einheitlichen Kriterien zu beantworten.

Zu den im Rahmen der Angemessenheit im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vom Jobcenter anzuerkennenden Aufwendungen für die Unterkunft zählen bei Eigenheimen insbesondere die zu dessen Finanzierung aufzubringenden Schuldzinsen, dem Grundsatz nach aber nicht Tilgungsleistungen.

Im Hinblick auf den im SGB II ausgeprägten Schutz des Grundbedürfnisses “Wohnen” sind in eng begrenzten Fällen Ausnahmen von diesem Grundsatz angezeigt, z. B. bei der Erhaltung von Wohneigentum, dessen Finanzierung im Zeitpunkt des Bezugs von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II bereits weitgehend abgeschlossen und dessen Erwerb außerhalb des Leistungsbezugs erfolgt ist.

In dieser speziellen Situation tritt der Aspekt des Vermögensaufbaus aus Mitteln der Existenzsicherung gegenüber dem vom SGB II ebenfalls verfolgten Ziel, die Beibehaltung der Wohnung zu ermöglichen, zurück. Entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind bei Eigentümern eigengenutzter Immobilien nur diejenigen Zahlungsverpflichtungen für den jeweiligen Monat als Bedarf zu berücksichtigen, die in diesem Zeitabschnitt als fällige Zahlungen in Bezug auf das selbst bewohnte Wohneigentum zu erfüllen sind.

Ratenzahlungsverpflichtungen aufgrund einer Zahlungsvereinbarung, die nach einem gekündigten Immobiliendarlehensvertrag mit dem Darlehensgeber abgeschlossen wurden, um die damals fällige Restschuld sowie auflaufende Zinsen ratenweise zurückzuzahlen, sind vom Jobcenter in den späteren Zahlungsmonaten nicht als ein unterkunftsbezogener Bedarf anzuerkennen.

In diesen späteren Monaten dienen diese Zahlungen nicht mehr der Erfüllung laufender Verpflichtungen aus dem Darlehensvertrag, der aus Anlass des Erwerbs des Wohneigentums abgeschlossen wurde, sondern einzig der Tilgung bereits früher fällig gewordener (Alt-) Schulden.

Für diese Verbindlichkeiten ist eine Differenzierung zwischen der Anerkennung von laufenden Zinsen als Bedarf und der in der Regel zu verneinenden Anerkennung der Tilgungsleistung aufgrund der Gesamtschuld aus dem gekündigten Darlehensvertrag nicht möglich.

Diese Zahlungsverpflichtungen resultieren aus nicht mehr bestehenden Verträgen, die zeitlich vor dem laufenden Bezug von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II sowohl entstanden als auch fällig geworden waren. Es handelt sich hier nur mittelbar um eine Eigenheimfinanzierung.

1.2 – BSG, Urteil vom 27. März 2020 (B 10 ÜG 4/19 R)

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
§ 198 Abs. 3 GVG stellt keine besonderen Anforderungen an die Form oder an den Mindestinhalt einer Verzögerungsrüge, statuiert hier insbesondere auch kein Schriftformerfordernis. Eine Verzögerungsrüge kann auch mündlich beim Gericht des Ausgangsverfahren erhoben werden. Sie hat den Charakter einer “Mahnung” an den beim Ausgangsgericht mit der konkreten Rechtssache befassten Richter, entweder eine drohende Verzögerung des Verfahrens zu verhindern oder eine bereits real eingetretene Verzögerung zu beseitigen und das Gerichtsverfahren einem zügigen Abschluss zuzuführen.

Wenn sich das Verfahren bei einem höheren Gericht im Instanzenzug weiter verzögern sollte, bedarf es der Äußerung einer erneuten Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 Satz 5 GVG).

Im Rahmen einer Verzögerungsrüge hat z. B. ein Kläger lediglich deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass er mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist und eine Beschleunigung des Verfahrens verlangt. Eine Verzögerungsrüge hat von einer Prozesspartei nicht als eine solche ausdrücklich bezeichnet zu werden, sondern es muss aus einer entsprechenden Äußerung einzig hervorgehen, dass z. B. der Kläger die Dauer des gerichtlichen Verfahrens nicht akzeptiert. Eine Begründungspflicht geht aus § 198 GVG nicht hervor.

Die Verzögerungsrüge stellt eine materielle Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, eine haftungsbegründende Obliegenheit des (späteren) Entschädigungsklägers dar. Die Verzögerungsrüge soll im jeweiligen Einzelfall eine “konkret-präventive Beschleunigungswirkung” auf das Ausgangsverfahren entfalten und dazu beitragen, dass sich keine (weitere) entschädigungspflichtige Verzögerung einstellt. Es handelt sich hier um eine “Prozesshandlung eigener Art”, die allerdings einer hinreichenden verfahrensbezogenen Konkretisierung bedarf.

Von einem Kläger allgemein gehaltene Formulierungen sind hier nicht akzeptabel. Dies gilt gerade dann, wenn beim Ausgangsgericht mehrere von der jeweils gleichen Person erhobene Klagen anhängig sind. In einer Verzögerungsrüge im Sinne des § 198 Abs. 3 GVG hat deshalb ein mit dem Aktenzeichen benanntes oder nach dem Inhalt der Erklärung klar bestimmbares Verfahren beim Ausgangsgericht näher bezeichnet zu werden. Nur in diesem Fall kann diese Äußerung ihre bezweckte Warn- und Beschleunigungsfunktion entfalten.

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.05.2020 – L 11 AS 793/18 – Revision zugelassen

Zur Rechtsfrage, ob auch für einmalige schulnotwendige besondere Bedarfe, die anderweitig nicht auskömmlich gedeckt sind, Mehrbedarfsleistungen nach § 21 Abs 6 SGB II in Betracht kommen.

Zur Anschaffung von Berufsbekleidung für die Schule als Härtefallmehrbedarf

Leitsatz (Juris)
1. Die Anschaffungskosten für schulnotwendige spezielle Berufskleidung (hier: Koch-Berufskleidung für den Besuch der einjährigen Berufseinstiegsklasse „Lebensmittelhandwerk und Gastronomie“ einer berufsbildenden Schule) unterfallen dem notwendigen grundsicherungsrechtlichen Bedarf von schulpflichtigen SGB II-Leistungsbeziehern.

2. Anderweitig nicht gedeckte notwendige Schulbedarfe sind im Rahmen der Grundsicherung nach dem SGB II zu übernehmen. Dem SGB II-Leistungsträger kommt hierbei unabhängig von der Kultushoheit der Länder die Rolle eines „Ausfallbürgen“ zu.

3. Anschaffungskosten für schulnotwendige spezielle Berufskleidung sind nicht von der Schulbedarfspauschale des § 28 Abs 3 SGB II erfasst.

4. Ausgaben für Berufskleidung und für Bildung sind zwar in die Berechnung des Regelbedarfs nach § 20 SGB II eingeflossen (Abteilungen 3 und 10 des § 6 Abs 1 Nr 3 RBEG 2011). Der Bedarf an schulnotwendiger und mit nicht nur unwesentlichen Kosten verbundener spezieller Berufskleidung ist im Regelbedarf jedoch strukturell unzureichend erfasst, so dass eine evidente Bedarfsunterdeckung verbleibt (vgl dagegen zur Auskömmlichkeit des Regelbedarfs für die Anschaffung schulnotwendiger Alltagskleidung: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. April 2020 – L 11 AS 922/18 NZB -).

5. Bei einem einmaligen Bedarf an schulnotwendiger spezieller Berufskleidung (hier: zum Schuljahresbeginn anzuschaffendes sog Berufseinsteiger-Set) handelt es sich nicht um einen laufenden Bedarf iSd § 21 Abs 6 SGB II.

6. Für von der Schulbedarfspauschale nach § 28 Abs 3 SGB II nicht erfasste und vom Regelbedarf (§ 20 SGB II) nicht auskömmlich gedeckte schulnotwendige einmalige Bedarfe, die mit nicht nur unwesentlichen Kosten verbunden sind, enthält das SGB II eine planwidrige Regelungslücke. Diese ist durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 21 Abs 6 SGB II zu schließen.

7. Ergibt sich wegen evidenter Bedarfsunterdeckung im Wege verfassungskonformer Auslegung ein Anspruch auf eine einmalige Mehrbedarfsleistung, kann hiervon der im Regelbedarf für diese Bedarfsposition rechnerisch enthaltene Teilbetrag abgesetzt werden (hier: 0,32 Euro als der für den Bedarf „Bildung“ in der Regelbedarfsstufe 4 im Juli 2016 enthaltene Teilbetrag).

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

2.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.05.2020 – L 13 SF 5/19 EK AS

Überlanges Gerichtsverfahren; Entschädigungsklage; fehlende Kenntnis des Entschädigungsklägers vom Ausgangsverfahren; Nichtbeantwortung von gerichtlichen Anfragen

Leitsatz (Juris)
1. Nach dem klaren Wortlaut des § 198 Abs. 1 S. 1 GVG reicht es für den Entschädigungsanspruch nicht aus, dass der Entschädigungskläger an einem überlangen Gerichtsverfahren beteiligt war. Vielmehr muss er infolge der unangemessenen Dauer einen Nachteil erlitten haben.

2. Die Vermutung eines immateriellen Nachteils nach § 198 Abs. 2 S. 1 GVG kann widerlegt sein, wenn der Entschädigungskläger von dem Ausgangsverfahren keine Kenntnis hatte und er damit eine durch die Ungewissheit über den Verfahrensausgang verursachte seelische Unbill nicht erlitten haben kann.

3. Eine verspätete oder verweigerte Antwort auf sachgerechte Anfragen des Gerichts ist ausschließlich der Verantwortungssphäre des Klägers zuzurechnen. Die hierdurch verursachte Verfahrensverzögerung kann keine unangemessene Verfahrensdauer begründen.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

2.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 25.05.2020 – L 11 AS 228/20 B ER

Zum Anspruch auf KdU-Leistungen bei Vorliegen eines Scheinmietvertrags

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Jobcenter muss keine Miete für Scheinverträge zahlen

Das LSG Celle-Bremen hat in Fall eines verdeckten Mietverhältnisses unter Verwandten entschieden, dass das Jobcenter nur dann Miete für Grundsicherungsempfänger übernehmen muss, wenn die tatsächlichen Kosten offengelegt werden.

www.juris.de

2.4 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 30.04.2020 – L 7 AS 625/20 B ER; L 7 AS 666/20 B rechtskräftig

Orientierungshilfe (Redakteur)

Kein Hartz-IV-Mehrbedarf durch Corona-Masken.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 27.02.2020 – L 7 AS 1212/19 – anhängig BSG – B 14 AS 33/20 R

Zur Anrechnungsfreiheit von Einkommen aus einer in den Schulferien verrichteten Erwerbstätigkeit.

Orientierungshilfe (Redakteur)
Der Wortlaut der Vorschrift spricht gegen eine Aufteilung von Wochen in Tage. Der Verordnungsgeber hat eine Anrechnungsfreiheit von “höchstens vier Wochen” vorgesehen. Hätte er eine Anrechnungsfreiheit von Tagen beabsichtigt, hätte er den Verordnungstext entsprechend formulieren können. Der Wortlaut gebietet auch deshalb eine enge Auslegung, weil der Verordnungsgeber das Wort “höchstens” hinzugefügt hat. Diese Verstärkung verdeutlicht, dass eine Verlängerung der nach Wochen bemessenen Frist ausgeschlossenen sein soll.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.6 – Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urt. v. 14.05.2020 – L 6 AS 159/17

Zu den KdU für eine selbstbewohnte Inmobilie.

Mietkaufraten sind als Tilgungsleistung nicht als Bedarf für Unterkunft und Heizung berücksichtigungsfähig.

Orientierungshilfe (Redakteur)
Die Leistungen nach dem SGB II sind auf die aktuelle Existenzsicherung beschränkt und sollen nicht der Vermögensbildung dienen, denn auch die ratenweise Kaufpreiszahlung durch den Kläger führt bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise zur Mehrung des Vermögens des Klägers (vgl. zu ähnlichen Konstellationen von Ratenzahlungen BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 – B 4 AS 14/11 R und Urteil vom 7. Juli 2011 – B 14 AS 79/10 R).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte, Verwaltungsgerichte zum Asylrecht

3.1 – Sozialgericht Berlin, Beschluss v. 19.05.2020 – S 90 AY 57/20 ER

Sammelunterkunft, Asylbewerber, gemeinsame Haushaltsführung, Kontaktbeschränkung, Corona, Covid-19, Pandemie, verfassungskonforme Auslegung

Orientierungshilfe (Redakteur)
Ungeachtet der Frage, ob die Grundannahme dieser Überlegung – nämlich dass in Sammelunterkünften Einspar- bzw. Synergieeffekte erzielt werden können, welche denen von Paarhaushalten gleichen – ohne weitergehende empirische Datenlage verfassungsmäßig haltbar ist (dies zur Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG verneinend und vor diesem Hintergrund die Verfassungsmäßigkeit anzweifelnd beispielsweise SG Frankfurt a. M., Beschluss vom 14. Januar 2020 – S 30 AY 26/19 ER und SG Landshut, Beschluss vom 24. Oktober 2019 – S 11 AY 64/19 ER), kann nach Ansicht der Kammer jedenfalls während der Geltungsdauer der SARS-CoV-2-EindmaßnV ein gemeinsames Wirtschaften in diesem Sinne nicht pauschal verlangt werden.

Leitsatz (Juris)
Die Vorschriften der § 3a Abs. 1 Nr. 2b) und Abs. 2 Nr. 2b) AsylbLG sind während der Geltung der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona- Pandemie (SARS- CoV-2-EindmaßnV) verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die zumutbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzen. Ist dies nicht der Fall, sind dem Leistungsberechtigten Leistungen in Höhe der RBS 1 zu gewähren.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Az.: L 8 AY 32/20 B vom 04.05.2020

Normen: § 3a AsylbLG, § 2 AsylbLG – Schlagworte: Prozesskostenhilfe, Regelbedarfsstufe 2 in Sammelunterkünften

Orientierungshilfe (Redakteur)
Gewährung von PKH, denn
Die Vereinbarkeit dieser Leistungsbemessung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b und Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG (bzw. nach § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) wird – gemessen an den prozeduralen Vorgaben durch die Rechtsprechung des BVerfG (vgl. im Einzelnen BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 – juris Rn. 133-139) – in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutiert (SG Landshut, Beschluss vom 24.10.2019 – S 11 AY 64/19 ER – juris Rn. 53 ff.; SG Hannover, Beschluss vom 20.12.2019 – S 53 AY 107/19 – juris Rn. 6 ff.; SG Frankfurt, Beschluss vom 14.1.2020 – S 30 AY 26/19 ER – juris Rn. 16 ff.; SG München, Beschluss vom 10.2.2020 – S 42 AY 82/19 ER – juris Rn. 53 ff.; Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3a AsylbLG Rn. 42 ff.). Teilweise wird eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschriften befürwortet, nach der die Anwendung der Bedarfsstufe 2 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzt (SG Landshut v. 23.01.2020 – S 11 AY 79/19 ER – juris Rn. 40 ff.; SG Landshut v. 28.01.2020 – S 11 AY 3/20 ER – juris Rn. 63 ff.; SG München v. 10.02.2020 – S 42 AY 82/19 ER – juris Rn. 56 f.; vgl. auch Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3a AsylbLG Rn. 44).

S. a. dazu:
Rechtsbeugung im Umgang mit Regelbedarfskürzungen von Geflüchteten?

Seit dem 01.09.2019 hat sich das AsylbLG massiv verschärft. Alleinstehende in Sammelunterkünften erhalten nur noch 90% des AsylbLG-Grundbedarfs. Schon 100% sind mit 351 EUR monatlich extrem niedrig; 90% davon sind nur noch 316 EUR.

Viele Gerichte haben diese krasse Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums bereits für verfassungswidrig erklärt und zumindest im Eilrechtsschutz vorläufig höhere Leistungen bewilligt (vor allem: LSG Sachsen, SG Landshut, SG Hannover; SG Freiburg; SG Frankfurt/Main; SG Leipzig; SG München). Andere Gerichte lehnen zwar grds. in diesen Fällen Eilanträge ab, halten aber zumindest während der Pandemie eine vorläufige Aussetzung der Leistungsminderung für zwingend geboten (vor allem: SG Kassel und SG Cottbus).

Am SG Berlin verweigern fast alle für AsylbLG zuständigen Kammern jegliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik. Der Kniff dabei: Es wird erklärt, dass im Eilrechtsschutz nie und unter keinen Umständen das volle Existenzminimum erreicht werden könnte. Leistungen unterhalb des Existenzminimums seien vorübergehend hinzunehmen. Einzig bei der Frage, welche Leistungsminderungen konkret noch hinnehmbar seien, gehen die Meinungen am SG Berlin auseinander – die Bandbreite geht von 10% bis 30%; die Extremposition ist, dass ein Eilantrag nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Leistungen 195,66 EUR (das ist der Leistungssatz nach § 1a AsylbLG) unterschreiten (so zuletzt: SG Berlin, Beschluss vom 12.05.2020 – S 146 AY 60/20 ER).

weiter: tacheles-sozialhilfe.de

3.2 – Sozialgericht Neuruppin, Beschluss vom 23. März 2020 (S 27 AY 3/20 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein Verstoß gegen die aus § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG hervorgehende Obliegenheit eines jeden Ausländers, an der Beschaffung des Identitätspapiers und der Beibringung der für die Feststellung von Identität und Staatsangehörigkeit erforderlichen Urkunden mitzuwirken, um bestehende Ausreisehindernisse zu beseitigen, führt grundsätzlich bei wegen einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG anspruchsberechtigten Personen zu einer Anspruchseinschränkung entsprechend § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG.

Der Nachweis einer erfolglosen Botschaftsvorsprache dokumentiert hier keine ausreichenden Bemühungen.

Bedingt durch den Ausbruch der sog. Corona-Pandemie und den anlässlich dieser Gefährdungslage verfügten, durchgreifenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens ist es einem nur noch geduldeten Ausländer, der seine Unterkunft möglichst nicht verlassen soll, objektiv unmöglich, die hier erforderlichen Mitwirkungshandlungen auszuführen.

Für die Dauer dieses Ruhens dieser Mitwirkungspflichten entfällt auch die an die Verletzung dieser Obliegenheit geknüpfte finanzielle Leistungseinschränkung.

Hinweis:
Keine Leistungskürzung, wenn Mitwirkung wegen Corona-Eindämmungsmaßnahmen unmöglich

weiter: www.asyl.net

3.3 – SG Münster, Beschluss vom 21. April 2020 – S 20 AY 4/20 ER

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG besteht nur dann, sofern Ausländer tatsächlich über einen Pass oder Passersatz, der der zuständigen Behörde vorgelegt zu werden hat, verfügen. Wenn in tatsächlicher Hinsicht offen ist, ob im Bundesgebiet sich ständig aufhaltende Ausländer noch im Besitz ihrer Pässe sind, darf behördlicherseits weder eine Verletzung dieser Mitwirkungspflicht bejaht noch eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG verfügt werden.

In Fällen einer erwiesenen Passvernichtung bei gemäß § 1 Abs. 1 Nrn. 4 bis 6 AsylbLG anspruchsberechtigten Personen kann eine Anspruchseinschränkung entsprechend § 1a Abs. 3 AsylbLG in Betracht kommen.

3.4 – Verwaltungsgericht Münster, Beschluss vom 12. Mai 2020 (5 L 399/20):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Bejahung der Anwendbarkeit des § 49 Abs. 2 AsylG im Fall eines in einer Zentralen Unterbringungseinrichtung im Sinne der §§ 44 ff., 47 Abs. 1 AsylG untergebrachten Asylbewerbers aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, die eine Beendigung der Wohnverpflichtung in dieser Aufnahmeverpflichtung zum Zwecke des Schutzes vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 als ein gewichtiger, unter Berücksichtigung des Infektionsschutzrechts anzuerkennender Belang.

Es würde nicht nur einen Wertungswiderspruch zur CoronaSchutzVO des Landes Nordrhein-Westfalen und den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts zu Kontaktbeschränkungen und guter Händehygiene darstellen, wenn der Bereich der Asylbewerberunterkünfte in anderer Weise behandelt werden würde, sondern vor allem auch dem zentralen Sinn und Zweck dieser Bestimmungen und Empfehlungen zuwiderlaufen, nämlich der Verhinderung der Ausbreitung dieses Coronavirus.

Dies gilt gerade dann, wenn in der Aufnahmeeinrichtung die Einhaltung des Mindestabstands zwischen zwei Personen von 1,5 m aufgrund der dort beengten Wohnverhältnisse nicht möglich ist, sowie die Sanitäranlagen und weitere Gemeinschaftseinrichtungen mit anderen Bewohnern geteilt zu werden haben, und der Antragsteller infolge seiner Betroffenheit mit chronischer Hepatitis B einer als besonders vulnerabel einzuschätzenden Personengruppe angehört.

4.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

4.1 – Verwaltungsgericht Leipzig, Beschluss vom 18. Mai 2020 (5 L 211/20 A):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein Anspruch auf Unterbringung in einem Einzelzimmer außerhalb einer Aufnahmeeinrichtung (§ 47 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 49 Abs. 2 AsylG) lässt sich nicht aus § 1 SächsCoronaSchVO ableiten.

Die Grundsätze des § 1 SächsCoronaSchVO finden zwar bei Asylerstaufnahmeeinrichtungen ebenfalls Anwendung, wenn auch der Aufenthalt in einer solchen Einrichtung sich nicht als ein Aufenthalt im öffentlichen Raum im Sinne des § 2 SächsCoronaSchVO darstellt.

Es handelt sich hier um einen Hausstand im Sinne der SächsCoronaSchVO, in den auch auf der Grundlage des Gesetzes nicht eingegriffen werden soll.

In Hotels und Beherbergungsbetrieben ist nach wie vor die Belegung von Schlafräumen mit mehreren Angehörigen des eigenen Hausstandes und darüber hinaus Angehörigen eines weiteren Hausstandes gestattet.

Wenn ein Antragsteller keiner Risikogruppe angehört, die eines besonderen, über die allgemein geltenden Standards hinausgehenden Schutzes bedarf, dann ist ihm der Aufenthalt in einem Zweibettzimmer einer Aufnahmeeinrichtung zumutbar, sofern dort die zum Schutz der Bewohner nach der SächsCoronaSchVO gebotenen Auflagen umgesetzt werden.

4.2 – Verwaltungsgericht Leipzig, Beschluss vom 22. April 2020 (3 L 204/20.A):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die Beendigung der Wohnverpflichtung des Antragstellers gemäß § 47 Abs.1 Satz 1 AsylG ist nicht nur aus Gründen der Seuchenprävention und damit einem öffentlichen Interesse (§ 49 Abs. 2 AsylG), sondern auch zum Schutz des Asylbewerbers selbst vor einer Ansteckung mit dem Virus SARS-CoV-2 geboten.

“Wo immer möglich” und “in allen Lebensbereichen” ist die Kontaktbeschränkung nach § 1 SächsCoronaVO einzuhalten. Dies gilt auch in Bezug auf Asylbewerberunterkünfte. Alles andere würde dem eigentlichen Sinn und Zweck dieser CoronaVO zuwiderlaufen, eine Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zu bewirken.

Asylsuchende Personen sind bedingt durch erlittene Fluchtbelastungen und der Neuorientierung in einerm fremden Land empfänglicher gegenüber

gefährlichen Infektionskrankheiten als Inländer. Die örtliche Organisation des Aufenthalts in einer Aufnahmeeinrichtung genügt nicht den Anforderungen des § 1 SächsCoronaVO, wenn ein Asylbewerber mit einer weiteren Person in einem zwei mal zwei Meter großen Zimmer untergebracht ist, und dort sanitäre Anlagen wie die Küche zur gemeinsamen Nutzung von insgesamt 50 Personen vorgesehen sind.

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker