Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 04.06.2020 – Az.: S 42 AY 73/20 ER

BESCHLUSS
 

S 42 AY 73/20 ER

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragsteller –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen, vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Antragsgegner –

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 4. Juni 2020 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung für die Zeit vom 13. März 2020 bis längstens zum 30. September 2020, soweit zuvor nicht über den Antrag vom 13. März 2020 entschieden wird, privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII analog zu gewähren.


Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

GRÜNDE

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der vorläufigen Gewährung von privilegierten Leistungen ab dem 13. März 2020 hat Erfolg.

Der Antragsteller hat zur Überzeugung der Kammer für den streitigen Zeitraum Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen nach dem AsylbLG.

(1)
Zunächst ist festzustellen, dass der Antragsgegner ihm zu Unrecht gekürzte Leistungen gemäß § 1a Absatz 3 AsylbLG gewährt hat.

Der Antragsteller war gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 5 AsylbLG als Inhaber einer Duldung gemäß § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) leistungsberechtigt nach dem AsylbLG. Gemäß § 1a Absatz 3 Satz 1 AsylbLG gilt Absatz 2 entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nr. 4 und 5, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. In analoger Anwendung des Absatz 2 Satz 3 werden ihnen ist zu ihrer Ausreise oder Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können ihnen auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 gewährt werden (Satz 3). Die Leistungen sollen als Sachleistungen erbracht werden (Satz 4). Der Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 endet mit dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag (Absatz 3 Satz 2).

Der Antragsteller ist gemäß § 48 Absatz 3 AufenthG mehrfach und unmissverständlich aufgefordert worden, bei der Beschaffung von PEP bzw. eines libanesischen Nationalpasses mitzuwirken. Jedoch scheitert die Anwendung des § 1a Absatz 3 AsylbLG im vorliegenden Einzelfall an der Tatsache, dass das Verhalten des Antragstellers im streitigen Zeitraum nicht (mono-)kausal für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen war, so dass er diese nicht „selbst“ im Sinne des Satzes 1 der Norm zu vertreten hat. Denn zwischen dem vorwerfbaren Verhalten des Ausländers und dem Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen muss im Rahmen des § 1a Absatz 3 Satz 1 AsylbLG ein Kausalzusammenhang bestehen (vgl. Urteil des BSG vom 12. Mai 2017 – B 7 AY 1/16 R -). Dieser ist im vorliegenden Einzelfall nicht gegeben, weil die Botschaft des Libanon und damit die libanesischen Behörden als Voraussetzung für die Ausstellung des Nationalpasses die Erteilung eines deutschen Aufenthaltstitels oder die Bescheinigung der Behörden über die Ausstellung eines solchen verlangt. Einen Aufenthaltstitel hat der Antragsgegner jedoch (mangels Rechtsgrundlage) nicht erteilt, so dass die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bereits aus diesem Grund und unabhängig vom Mitwirkungsverhalten des geduldeten Antragstellers keine Erfolgsaussicht hatte. Die Erstellung eines Laissez-passez-Papiers hat die Ausländerbehörde des Antragsgegners nicht verlangt bzw. nicht über diese Möglichkeit aufgeklärt. Die Erfolgsaussicht wäre zweifelhaft gewesen, weil der Libanon regelmäßig (rechtsmissbräuchlich) die Erteilung eines Aufenthaltstitels verlangt, ehe er an der Rückführung der eigenen Staatsangehörigen mitwirkt.

(2)
Der Antragsteller hat Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog.

Gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Der Antragsteller reiste im November 2015 in das Bundesgebiet ein und hatte damit, ohne dass wesentliche Unterbrechungen vorlägen, im streitigen Zeitraum die 18-monatige Voraufenthaltszeit zurückgelegt.

Der Antragsteller hat zur Überzeugung der Kammer auch die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet bis zum Ende des streitigen Zeitraums nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, auch wenn es an jeglichem substanziierten Vortrag des anwaltlich vertretenen Antragstellers zum hier entscheidenden Sachverhalt fehlt.

Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 5. Auflage 2014, § 2 AsylbLG, Rd. 22; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 19. Auflage 2015, § 2 AsylbLG, Rd. 20 m.w.N.).

Rechtsmissbräuchlich handelt nach den Urteilen des BSG vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AS 1/07 R und B 8 AY 9/07 R) und 02. Februar 2010 (B 8 AY 1/08 R) derjenige, der über die Nichtausreise hinaus sich sozialwidrig unter Berücksichtigung des Einzelfalls verhält, wobei auf eine objektive und eine subjektive Komponente abzustellen ist. Erforderlich ist der Vorsatz bezogen auf eine die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung mit dem Ziel der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Das bloße Unterlassen einer freiwilligen Ausreise trotz Zumutbarkeit genügt in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2007 – B 9b AY 1/06 R -) nicht. Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte bereits mit Urteil vom 20. Dezember 2005 – L 7 AY 40/05 – festgestellt, dass das Ausnutzen einer Duldung nicht rechtsmissbräuchlich sei und ein weiteres Verhalten hinzutreten müsse.

Darüber hinaus setzt das BSG nicht als Tatbestandsmerkmal voraus, dass das missbilligte Verhalten für die Dauer des Aufenthaltes kausal sein müsse, sondern legt eine abstrakt-generelle Betrachtungsweise zugrunde. Demnach muss der Missbrauchstatbestand auch nicht aktuell andauern oder fortwirken. Eine Ausnahme wird für den Fall formuliert, dass aufenthaltsbeenden Maßnahmen während der gesamten Zeit des Aufenthalts aus Gründen, die der Leistungsberechtigte nicht zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Im Falle eines dauerhaften, vom Verhalten des Ausländers unabhängigen Vollzugshindernisses besteht somit eine Ausnahme von dieser typisierenden Betrachtungsweise.

Zum Verhalten des Ausländers hinzutreten muss nach der zitierten Rechtsprechung des BSG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten. Dabei dürfe sich der Leistungsberechtigte nicht auf einen Umstand berufen, welchen er selbst treuwidrig herbeigeführt habe. Der Pflichtverletzung muss in diesem Kontext im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzipes unter Berücksichtigung des Einzelfalles ein erhebliches Gewicht zukommen. Dabei stellt das BSG klar, dass auch ein einmaliges Verhalten diese Rechtsfolge zeitigen könne. Rechtsmissbräuchliches Verhalten kann nicht durch eine zwischenzeitliche Integration ausgeräumt werden.

Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung unter anderem die Angabe einer falschen Identität oder die Vernichtung des Passes (BT-Drucks 15/420, Seite 121). Dabei erkennt das BSG als Ausnahmefall an, dass das Verhalten eine Reaktion oder vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei welchem um Asyl nachgesucht wird, darstellt. Darüber nennt das BSG im Urteil vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AY 1/07) auch die Weigerung an der Mitwirkung zur Passersatzbeschaffung als Grund für eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung, sofern eine gesetzliche Regelung für die Mitwirkungshandlung besteht.

Auf der subjektiven Seite setzt nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet Vorsatz voraus.

Der Antragsteller hat zur Überzeugung der Kammer die Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet nicht im Sinne des § 2 Absatz 1 AsylbLG durch eigenes Verhalten rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Im vorliegenden Einzelfall liegt eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise des BSG vor, weil zur Überzeugung des Gerichts der Vollzug aufenthaltsbeendender Bemühungen der Beklagten im gesamten Zeitraums des Aufenthaltes im Bundesgebiets seit dem November 2015 nicht möglich war. Allein verantwortlich für diesen Umstand ist die Praxis der Botschaft des Libanon, für die Ausstellungen eines Nationalpasses u.a. die Erteilung eines deutschen Aufenthaltstitels zu verlangen. Da der Antragsgegner mangels rechtlicher Grundlage bislang keinen solchen Titel erteilt hat bzw. für den Antragsteller nicht ausstellen konnte, mussten Bemühungen, um die Ausstellung eines Passpapiers zu erwirken, von vornherein scheitern.

Das Unterlassen einer freiwilligen Ausreise bei erteilter Duldung stellt, wie vorstehend dargestellt, kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar. Diese Rechtsfrage ist seit den zitierten Urteilen des BSG vom 17. Juni 2018 geklärt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde bei einer Beschwer des Antragsgegners von 12 x 81,– Euro statthaft (§§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.