Tacheles Rechtsprechungsticker KW 26/2020

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urt. v. 20.02.2020 – B 14 AS 52/18 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Rückwirkung des Leistungsantrags auf den Monatsersten – Einkommens- und/oder Vermögensberücksichtigung – Beitragsrückerstattung der privaten Krankenversicherung – vor Antragstellung zugeflossener Rückkaufswert einer Lebensversicherung – Schuldentilgung – Monatserster als Stichtag für die Vermögensbewertung – Berücksichtigung einer wesentlichen Änderung des Vermögens im Laufe des Kalendermonats

Keine fiktive Vermögensberücksichtigung bei Verrechnung von Vermögen mit Schulden (oder Dispo). Dass Gesetz versagte dem Kläger nicht die Verwertung seines Vermögens durch Schuldentilgung.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Abweichend von der Einkommensberücksichtigung (vgl § 11 Abs 2, 3 SGB II) gibt es bei der Berücksichtigung von Vermögen im SGB II keine normative Grundlage für ein Monatsprinzip, so dass auch Leistungen ab Monatsmitte bzw, bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit zu gewähren sein können.

2. Die dem Leistungsberechtigten vor Antragstellung am fünften Tag des Antragsmonats zugeflossene Beitragsrückerstattung einer privaten Krankenversicherung stellt gemäß § 11 SGB 2 iVm § 37 Abs 2 S 2 SGB 2 zu berücksichtigendes Einkommen und kein Vermögen dar.

Quelle: www.rechtsprechung-im-internet.de

1.2 – Bundessozialgericht, Urteil v, 20.02.2020 – B 14 AS 3/19 R

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Erstattung von Vorverfahrenskosten – Beratungshilfemandat – Aufrechnung durch ein Jobcenter mit Erstattungsforderungen – Verstoß gegen normatives Aufrechnungsverbot

Orientierungshilfe (Redakteur)
Jobcenter dürfen nicht mehr gegen Rechtsanwälte aufrechnen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Ebenso B 14 AS 4/19 R, Urt. v. 20.02.2020 – B 14 AS 4/19 R

weiter: sozialgerichtsbarkeit.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 10.06.2020 – L 6 AS 718/20 B ER – rechtskräftig

Mietkaution- Nichtanwendung des Kopfteilprinzips

Leitsatz (Redakteur)
Auf die Gewährung von Leistungen für eine Mietkaution findet das sog Kopfteilprinzip keine Anwendung. Leistungsberechtigt ist grundsätzlich nur derjenige, der nach dem Mietvertrag Schuldner der Mietsicherheit ist.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Das Kopfteil-Prinzip ist auf Leistungen für eine Mietkaution nicht anzuwenden.

2. Vom Kopfteil-Prinzip ist abzuweichen, wenn bei objektiver Betrachtung eine andere Aufteilung angezeigt ist. So kommen bei einer Leistung für Mietschulden (§ 22 Abs. 8 SGB II) in Abweichung vom Kopfteil-Prinzip nur die durch den Mietvertrag zivilrechtlich verpflichteten Personen als Darlehensnehmer in Betracht (vgl. BSG Urteil vom 18.11. 2014, B 4 AS 3/14 R), weil eine mit der Rückzahlungsverpflichtung nach § 42a Abs. 1 S. 3 SGB II einhergehende faktische Mithaftung der nicht am Mietvertrag Beteiligten, insbesondere auch der Kinder einer Bedarfsgemeinschaft, für unerfüllte Mietvertragsforderungen verhindert werden soll. Dieser Gesichtspunkt ist auf Mietkautionsdarlehen zu erstrecken (LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 18.10.2018, L 5 AS 295/18).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.01.2020 – L 18 AS 1726/19

Es entspricht nicht der Lebenserfahrung, dass Menschen „nur zum Zweck der Ausschöpfung der maximal ermittelten Angemessenheitsgrenzen“ umziehen.

Orientierungshilfe (Redakteur)
Zur Unzumutbarkeit eines Umzugs aus gesundheitlichen Gründen, zudem Anforderungen an eine wirksame Kostensenkungsaufforderung des Grundsicherungsträgers bei unangemessenen Kosten der Unterkunft.

Quelle: www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de

Hinweis:
S. a. dazu: Das Erlaubnis-Amt hat vor Gericht verloren: Hartz IV-Bezieher können auch ohne vorherige Genehmigung in eine andere Wohnung ziehen, v. Prof. Dr. Stefan Sell

weiter: aktuelle-sozialpolitik.de

2.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 11.06.2020 – L 15 AS 255/18

Leitsatz (Juris)
1. Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Fortsetzungsfeststellungsklage.

2. Zur Rechtswidrigkeit eines Bescheides über eine vorläufige Leistungsbewilligung, mit dem der Bewilligungszeitraum auf knapp drei Monate festgesetzt worden ist (§ 41 Abs. 3 S. 2 Nr.1 SGB II).

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Stralsund, Gerichtsbescheid vom 5. Juni 2020 (S 9 AS 107/20):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Wenn unstreitig nicht die Möglichkeit bestand, das Umzugsgut in einen Kleintransporter zu verladen und innerhalb eines Tages an den 460 km entfernt liegenden, neuen Wohnort zu transportieren, und haben den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) nicht mehrere Tage zur Verfügung gestanden, um die neu angemietete Wohnung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu beziehen, geht der vom Jobcenter unterbreitete Vorschlag, diesen notwendigen Umzug mit einem Kleintransporter an drei Tagen und unter mehrmaligem Zurücklegen der Entfernung zwischen dem bisherigen und dem neuen Wohnort durchzuführen, ins Leere.

Bei solchen Besonderheiten kann die Bedarfsgemeinschaft einen Anspruch auf Anerkennung eines Bedarfs an Umzugskosten gemäß § 22 Abs. 6 SGB II in einer Höhe von EUR 3.332,- zur Finanzierung einer Umzugsfirma geltend machen.

3.2 – Sozialgericht Hamburg, Gerichtsbescheid v. 11.06.2020 – S 41 AS 3277/19

Keine Kostenübernahme durch das Jobcenter für eine Gleitsichtbrille (Gläser und Gestell).

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Der für diesen Bereich der Gesundheitspflege vorgesehene Pauschalbetrag, der auch Brillen erfasst, summiert sich innerhalb eines Jahres auf 32,40 Euro und erreicht nach vier (Anspar-) Jahren den Betrag von 129,60 Euro (12 Monate &8729; 2,70 Euro &8729; 4 Jahre = 129,60 Euro). Dieser Betrag liegt über den 100,00 Euro, die das BSG für eine Normalbrille (ohne Tönung, Entspiegelung und Gleitsicht) mit einem günstigen Gestell veranschlagt (BSG v. 23.06.2016 – B 3 KR 21/15 R; vgl. auch LSG Baden-Württemberg v. 25.04.2008 – L 7 AS 1477/08 ER-B). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass bei der Berechnung des Regelsatzes der existenzsichernde Bedarf hinsichtlich der Versorgung mit einer Brille, bei der es sich um ein langlebiges therapeutisches Gerät handelt, ausreichend berücksichtigt wurde. Sofern ein Zeitraum zum Ansparen nicht vorhanden war oder nicht genutzt wurde, besteht bei einem unabweisbaren Bedarf die Möglichkeit der Anschaffung über ein Darlehen (BSG v. 23.06.2016 – B 3 KR 21/15 R; BSG v. 18.07.2019 – B 8 SO 13/18 R; LSG Baden-Württemberg v. 25.04.2008 – L 7 AS 1477/08 ER-B).

2. Als Mehrbedarf im Sinne von § 21 Abs. 6 S. 1 SGB II können Kosten für die Anschaffung einer Brille nicht anerkannt werden, weil sie nur einmalig anfallen und damit keinen laufenden Bedarf darstellen (LSG Hamburg v. 09.04.2014 – L 4 AS 279/13).

3. Ein laufender Bedarf kann allerdings angenommen werden, wenn die Brille im Bewilligungsabschnitt nicht nur einmalig, sondern bei prognostischer Betrachtung voraussichtlich mehrfach auftritt. In Betracht kommt dies bei besonderen Augenerkrankungen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen v. 12.06.2013 – L 7 AS 138/13 B). Dass die Kosten für die Versorgung des Antragstellers mit einer Brille in einem Bewilligungsabschnitt von sechs bzw. zwölf Monaten regelmäßig anfallen, hat aber der Kläger weder behauptet und ist auch sonst nicht ersichtlich.

4. Für eine zuschussweise Gewährung analog § 21 Abs. 6 SGB II fehlt es mithin an einer planwidrigen Regelungslücke.

Die Gewährung eines Sonderbedarfs nach § 24 Abs. 3 Nr. 3 SGB II kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil es nicht um die Reparatur einer Brille, sondern eine Neuanschaffung geht (vgl. BSG v. 25.10.2017 – B 14 AS 4/17 R; LSG Hamburg v. 19.03.2015 – L 4 AS 390/10).

5. Es besteht auch kein Anspruch auf Kostenübernahme für die Anschaffung einer Gleitsichtbrille aus dem Vermittlungsbudget gemäß § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 SGB III.

6. Eine Förderung aus dem Vermittlungsbudget durch eine Kostenübernahme für eine Gleitsichtbrille kommt vorliegend schon deshalb nicht in Betracht, weil eine “normale Gleitsichtbrille” – mangels Berufsbezogenheit – vorrangig dem Rechtskreis der gesetzlichen Krankenversicherung zuzurechnen ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen v. 22.11.2019 – L 7 AS 1649/19 B; LSG Bayern v. 04.12.2017 – L 11 AS 761/17 NZB; SG Nürnberg v. 30.08.2017 – S 22 AS 723/15; LSG Nordrhein-Westfalen v. 16.12.2014 – L 2 AS 407/14).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Traurig aber wahr, siehe dazu bitte hier: Thomé Newsletter 20/2020 vom 14.06.2020

4.   Entscheidungen des Arbeitsförderungsrechts (SGB III)

4.1 – LSG NRW, Urt. v. 28.05.2020 – L 9 AL 155/18, L 9 AL 56/1

SGB III: PKV-Beiträge nicht vollständig zu übernehmen

Das LSG Essen hat entschieden, dass privat kranken- und pflegeversicherte Arbeitslosengeldbezieher Anspruch auf einen Beitragszuschuss haben, der sich am Beitrag zur gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung (GKV/SPV) orientiert.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Landessozialgerichts hätten die Kläger zwar nicht mehr von der im Regelfall mit Beginn des Arbeitslosengeldbezuges eintretenden Versicherungspflicht in GKV und SPV profitieren können. Da sie das 55. Lebensjahr vollendet und u.a. in den letzten fünf Jahren vor der Arbeitslosigkeit nicht gesetzlich versichert gewesen seien, blieben sie nach § 6 Abs. 3a SGB V versicherungsfrei. Wie in den Fällen einer selbst beantragten Befreiung von der Versicherungspflicht (§ 8 Abs. 1 Nr. 1a SGB V) zu Beginn des Bezuges seien – in Anwendung der ständigen BSG-Rechtsprechung – auch für ältere Arbeitslosengeldempfänger, denen der Zugang zur GKV und SPV verwehrt sei, Beiträge gemäß § 174 SGB III höchstens bis zu dem zur GKV/SPV zu zahlenden Beitrag zu übernehmen.

Bei der Begrenzung der Beitragsbezuschussung privater Kranken- und Pflegeversicherungen auf den durchschnittlichen allgemeinen bzw. gesetzlichen Beitragssatz der GKV/SPV gehe es einerseits darum, eine Begünstigung von – gegebenenfalls zu höheren Beiträgen weitergehend – privat Versicherten gegenüber gesetzlich Versicherten zu vermeiden. Andererseits solle auch einer übermäßigen Belastung der Beklagten entgegengewirkt werden. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 GG liege bereits deshalb nicht vor, weil die Begrenzung der Beitragsübernahme sachlich durch die strukturellen Unterschiede gerechtfertigt sei, die zwischen privater und gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung bestünden.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Essen v. 25.06.2020

5.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – Sozialgericht Magdeburg, Beschluss v. 26.07.2018 – S 25 SO 91/18 ER

Zur Übernahme von Mietschulden nach § 36 SGB XII, hier bejahend – angemessene Miete wird leicht überschritten

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Die Antragstellerin ist nicht im Leistungsbezug nach dem SGB XII oder SGB II, sondern erwerbstätig ist. § 36 SGB XII ist jedoch nicht beschränkt auf Personen, die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten. Vielmehr kann Hilfe nach § 36 SGB XII auch den Personen gewährt werden, die erwerbsfähig und damit dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II sind, jedoch mangels Hilfebedürftigkeit die Voraussetzungen für laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nicht erfüllen.

2. Ob in diesen Fällen – zu denen auch die Antragstellerin gehört – der gleiche strenge Maßstab mit Verweis auf die Unterkunftsrichtlinie gilt, ist für die Kammer zweifelhaft. Vielmehr dürfte in den Fällen eine Gesamtschau unter Berücksichtigung des tatsächlichen monatlichen Einkommens des jeweiligen Hilfesuchenden sachdienlich sein, inwiefern die Wohnung unangemessen teuer ist. Da die Wohnung jedoch nur unwesentlich über der Richtlinie der Antragstellerin liegt, erübrigt sich eine weitere Prüfung.

6.   Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 15.06.2020 – L 9 AY 78/20 B ER

Anmerkung der Einsenderin:
Zum Sachverhalt: Afghanische Flüchtlingsfamilie mit minderjährigen Kindern, Anerkennung in Griechenland, Zulassungsverfahren OVG läuft, aufschiebende Wirkung wurde festgestellt erhalten Kürzung nach § 1 a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG, dann aufgrund Corona-Pandemie Leistungen nach § 3 AsylbLG, obwohl länger als 18 Monate im Bundesgebiet.

LSG Schleswig: Beschluss vom 15.06.2020
Pflichtwidriges Verhalten erforderlich, Einreise ins Bundesgebiet ist nicht pflichtwidrig. Zweifel, ob die Regelung des § 1 a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG gerecht wird, wenn den von Anspruchseinschränkungen Betroffenen in § 1 a Abs. 1 – 3 AsylbLG ein konkretes, selbst zu vertretendes ausländerrechtliches Fehlverhalten vorgeworfen wird und als Folge dessen eine Leistungseinschränkung greift, § 1a Abs. 4 AsylbLG ein solches aber dem Wortlaut nach nicht regelt.

Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

SABINE VOLLRATH, Rechtsanwältin
Fachanwältin für Sozialrecht

Hedenholz 62, 24113 Kiel: www.kanzlei-vollrath.de

6.2 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 02.04.2020 – L 20 AY 27/20 B ER und L 20 AY 28/20 B – rechtskräftig

Orientierungshilfe (Redakteur)
Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine privat angemietete Wohnung kommt deshalb nur bei Vorliegen besonderer Umstände im Einzelfall in Betracht, wenn – etwa aus gesundheitlichen Gründen oder wegen unzumutbarer Zustände in den vom Leistungsträger bereitgehaltenen Gemeinschaftsunterkünften (oder sonstigem als Sachleistung zur Verfügung gestellten Wohnraum) – die Unterbringung in einer solchen Unterkunft nicht in Betracht kommt (vgl. schon Beschlüsse des Senats vom 07.11.2006 – L 20 B 51/06 AY ER und vom 06.05.2011 – L 20 AY 48/11 B). Solche Umstände sind im Falle der Antragstellerinnen jedoch nicht ersichtlich.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

6.3 – Bayerisches Landessozialgericht, Urt. v. 28.05.2020 – L 19 AY 38/18 – Revision zugelassen

Nimmt ein nach dem AsylbLG Leistungsberechtigter Kirchenasyl in Anspruch, um den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu verhindern, begründet dies die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens iS von § 2 Abs. 1 AsylbLG.

Orientierungshilfe (Redakteur)
Die Klägerin habe rechtsmissbräuchlich gehandelt, da das Kirchenasyl keine legale Möglichkeit der Aufenthaltsgestaltung darstelle. Das Kirchenasyl werde von der deutschen Rechtsordnung nicht anerkannt, der Kirchenraum sei nicht exemt.

Leitsatz (Juris)
1. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsberechtigten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG liegt nicht erst dann vor, wenn das Verhalten als unentschuldbar anzusehen ist (entgegen BSG Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R).

2. Genügend ist ein gesetzeswidriges, vorwerfbares Verhalten des Leistungsberechtigten, soweit dieses die Dauer des Aufenthalts beeinflusst. Es ist (hier) vorwerfbar, dass sich die Leistungsberechtigte der Überstellung bzw. der Abschiebung durch ihren Aufenthalt im Kirchenasyl entzogen hat.

3. Hinsichtlich der Rechtsmissbräuchlichkeit kommt es weder auf die Zurückhaltung der staatlichen Behörden, die Überstellung bzw. Abschiebung der sich im Kirchenasyl aufhaltenden Leistungsberechtigten zwangsweise zu vollziehen, noch darauf an, ob das Verhalten der Kirchen, den von Abschiebung bedrohten Ausländern Kirchenasyl zur Verfügung zu stellen, mit den Werten der Gesellschaft vereinbar ist.

4. Notwendig ist ein kausaler Zusammenhang zwischen dem vorwerfbaren Verhalten des Leistungsberechtigten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes. Ausreichend hierfür ist eine typisierende, also generell-abstrakte Betrachtungsweise; ein Kausalzusammenhang im eigentlichen Sinn ist nicht erforderlich (BSG Urteil vom 17.06.2008, B 8/9b AY 1/07 R).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Aa.: SG Stade, 17.03.2016 – S 19 AY 1/16 ER und ganz aktuell LSG Hessen, Beschl.v. 04.06.2020 – L 4 AY 5/20 B ER – Offenes Kirchenasyl ist kein Rechtsmissbrauch

6.4 – LSG Hessen, Beschluss v. 04.06.2020 – L 4 AY 5/20 B ER

Offenes Kirchenasyl ist kein Rechtsmissbrauch – Asylbewerber erhält Leistungen analog dem Sozialhilferecht trotz Kirchenasyl

Orientierungshilfe (Redakteur)
Es ist nicht von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten auszugehen ist, wenn ein Asylbewerber im offenen Kirchenasyl war und damit der Ausländerbehörde sein Aufenthaltsort bekannt war.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Landessozialgerichts wird Kirchenasyl von den Verwaltungsbehörden ebenso wie von der Bundesregierung respektiert und in der Regel wird keine Abschiebung während des Kirchenasyls in den kirchlichen Räumen durchgeführt. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege nicht vor, weil aufgrund des Kirchenasyls die Abschiebung weder rechtlich noch tatsächlich unmöglich sei, wenn es sich – wie hier – um ein sog. offenes Kirchenasyl handele, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit der Dauer des Kirchenasyls den Aufenthaltsort des Ausländers kenne. Dieses offene Kirchenasyl sei aufenthaltsrechtlich nicht einem Untertauchen des Ausweisungspflichtigen gleichzusetzen.

Verzichte der Staat bewusst darauf, die Ausreisepflicht durchzusetzen, könne das Vollzugsdefizit nicht dem Ausländer angelastet werden. Denn es wäre widersprüchlich, den Aufenthalt vorübergehend zu tolerieren und dem Ausländer gleichzeitig den Aufenthalt als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Darmstadt Nr. 11/2020 v. 22.06.2020

Rechtstipp: aA.:
Bayerisches Landessozialgericht, urt. v. 28.05.2020 – L 19 AY 38/18 – Revision zugelassen
Hinweis: Volltext jetzt hier: www.rv.hessenrecht.hessen.de

Leitsatz (Juris)
1. Die Dauer des Aufenthalts wird nicht rechtsmissbräuchlich i. S. v. § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG durch ein Kirchenasyl beeinflusst, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit den Aufenthaltsort des Ausländers kennt.

2. Das Kirchenasyl stellt dann weder ein tatsächliches noch ein rechtliches Abschiebehindernis dar; eine Abschiebung kann nötigenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden. Verzichtet der Staat auf die Durchsetzung der Ausreisepflicht kann das Vollzugsdefizit nicht dem Leistungsberechtigten als rechtsmissbräuchlich angelastet werden.

7.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

7.1 – Berlin fordert vom Bund Änderung der Sanktionsregelungen für Hartz-IV-Leistungsberechtigte

Der Berliner Senat bringt einen Entschließungsantrag in den Bundesrat ein, der Sanktionen für junge Erwachsene unter 25 Jahren sowie für Bedarfsgemeinschaften mit Kindern und Jugendlichen ausschließen soll.

Das hat der Senat in Berlin am 23.06.2020 auf Vorlage der Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Elke Breitenbach, beschlossen.

weiter: www.juris.de

7.2 – Grünen-Modell zur Berechnung der Regelsätze: Paritätischer lobt Grünes Konzept als wichtigen Schritt zur Überwindung von Hartz IV

weiter: www.der-paritaetische.de

7.3 – Alltagskleidung ist keine Berufskleidung (LSG NSB v. 15.04.2020 – L 11 AS 922/18 NZB)

Das LSG Celle-Bremen hat entschieden, dass Kleidungsbedarf für die Schule wie ein weißes T-Shirt, eine weiße Hose und rutschfeste Schuhe für eine Kochklasse, der über Alltagskleidung abgedeckt wird, weil keine schulnotwendige spezielle Berufskleidung erforderlich ist, grundsätzlich dem Regelbedarf der Kategorie “Bekleidung und Schuhe” unterfällt.

Quelle: www.juris.de

7.4 – Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze: Wie viel ist genug zum Leben?

Die Grundsicherung soll auch kulturelle Teilhabe ermöglichen, nun wird sie neu berechnet. Die bisherigen Sätze seien zu niedrig, sagen Experten.

weiter: taz.de

7.5 – Hartz IV: 240 Euro pandemiebedingter Mehrbedarf

Das Sozialgericht Köln hat in einem aktuellen Beschluss einen Laptop und Drucker in Höhe von 240 € als pandemiebedingten Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II zuerkannt (AZ: S 32 AS 2150/20 ER).

Quelle: Harald Thomé auf Twitter

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker