Tacheles Rechtsprechungsticker KW 32/2020

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG; Urteil vom 27. Februar 2020 (B 8 SO 18/18 R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zum Anspruch eines mit einer Autismus-Spektrum-Störung (Asperger-Syndrom) und einer expressiven Sprachentwicklungsstörung betroffenen, schwerbehinderten Kindes (GdB: 80; Merkzeichen „B“, „G“ und „H“) auf Erstattung von Fahrkosten als notwendiger Bestandteil der bindend bewilligten teilstationären Eingliederungsleistung (§§ 53 ff. SGB XII a. F.) in einem 12 km von seinem Wohnort entfernt liegenden integrativen Kindergarten, um dort besondere heilpädagogische Leistungen zu erhalten.

Entstehen im Zuge der Durchführung einer solchen Eingliederungshilfemaßnahme notwendigerweise Fahrkosten, dann sind diese Aufwendungen als deren notwendiger Bestandteil vom Sozialhilfeträger zu übernehmen, sofern dies unerlässlich ist, um die Ziele der Eingliederungshilfe durch die Ermöglichung einer speziellen Maßnahme zu erfüllen.

Dies ist dann der Fall, wenn das behinderte Kind den über 12 km langen Weg zum Kindergarten und zurück nicht alleine und zu Fuß bewältigen kann, und dem Verweis auf einen näher gelegenen Kindergarten entgegen steht, dass die bewilligten heilpädagogischen Maßnahmen ausdrücklich für einen integrativen Kindergarten bindend zuerkannt worden sind.

Die Bewilligung einer heilpädagogischen Maßnahme in einer bestimmten Einrichtung ist wegen der Entscheidung über die notwendigerweise verbundenen Fahrkosten nach dorthin vorgreiflich.

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 18.06.2020 – L 34 AS 1703/18

Bewilligung von Kinderbetreuungskosten im Rahmen von Leistungen für die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme

Leitsatz (Redakteur)
Verpflegungskosten sind keine Kinderbetreuungskosten im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 4 SGB III alte Fassung bzw. § 83 Abs. 1 Nr. 4 SGB III neue Fassung (entgegen LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. Oktober 2014 – L 8 AL 342/11).

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Anerkennung von Verpflegungskosten als Weiterbildungskosten in § 83 Abs. 1 Nr. 3 SGB III abschließend geregelt und danach auf im Zusammenhang mit einer auswärtigen Unterbringung entstehende Verpflegungskosten des geförderten Arbeitnehmers begrenzt ist (so auch: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Mai 2013 – L 18 AL 225/12).

2. Darüber hinaus handelt es sich bei den für die Verpflegung der Kinder angefallenen Kosten um Kosten des allgemeinen Lebensunterhalts, die vom Regelbedarf gemäß § 20 Abs. 1 S. 1 SGB II umfasst sind. Weiterhin fehlt es an einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen den Verpflegungskosten und der Teilnahme an der Weiterbildungsmaßnahme (wie hier auch: Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB, 07/16, § 87 Rn. 48; Reichel in jurisPK-SGB III, § 87 Rn. 15, Stand 15.01.2019; Baar in Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, 6. A. 2013, § 87 Rn. 7; Hassel in Brand, SGB III, 8. A. 2018, § 87 Rn. 2; Burkiczak in: Schönefelder/Kranz/Wanka, SGB III, § 87 SGB III Rn. 7; Kruse/Schaumberg in LPK-SGB III, 2. A. 2015, § 87 Rn 8; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Januar 2007 – L 4 RJ 61/04 ; a. A.: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. Oktober 2014 – L 8 AL 342/11 ; Geiger, info also 2015, 15f). § 87 SGB III dient nicht der Sicherung des Lebensunterhaltes des Kindes, sondern der Entlastung des Elternteils von seiner Betreuungspflicht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht München, Beschluss v. 20.12.2019 – S 46 AS 2557/19 ER

Beweiswürdigung zur Einstandsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Der Antragsteller und Frau C. sind erstens Partner. Schon aufgrund der Wohnsituation in der Zweizimmerwohnung, ist eine Ausschließlichkeit der Beziehung gegeben, die keine vergleichbare Lebensgemeinschaft daneben zulässt. Eine Heirat wäre rechtlich zulässig.

2. Der Antragsteller und Frau C. leben zweitens in einem gemeinsamen Haushalt zusammen; es handelt sich nicht um eine bloße Wohngemeinschaft.

3. Drittens ist ein Einstandswille gegeben. Die Partner leben seit 2015 weit mehr als ein Jahr zusammen. Aus dem gemeinsamen Wohnen von mehr als einem Jahr ergibt sich die gesetzliche Vermutung, dass der vorgenannte Einstandswille besteht (vgl. BayLSG Beschluss vom 27.07.2016, L 7 AS 414/16 B ER).

Leitsatz (Juris)
1. Das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt ist eine Voraussetzung der Einstandsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II. Ein unangemeldeter Hausbesuch kann die tatsächliche unverfälschte Situation belegen und hat deshalb einen wesentlich höheren Beweiswert als ein angemeldeter Hausbesuch.

2. Ob ein Einstandswille vorliegt, ist anhand von Indizien und im Wege einer Gesamtwürdigung festzustellen. Indizien, die auf selbstverfassten Erklärungen der Betroffenen beruhen wie z.B. ein Untermietvertrag, haben einen geringeren Beweiswert als äußere Umstände, wie z.B. gemeinsame Umzüge und Zusammenleben in einer Einzimmerwohnung ohne eigenen Rückzugsraum.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.2 – Sozialgericht Gelsenkirchen, Beschluss v. 20.12.2019 – S 54 AS 2828/19 ER 20.12.2019

Anordnungsgrund bejahend auch hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung

Orientierungshilfe (Redakteur)
Es ist den Betroffenen, gerade auch aufgrund des in dem Haushalt leben-den Kindes im Säuglingsalter nicht zuzumuten, einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund entstehen zu lassen, eine Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage abzuwarten und auf die nachfolgende Beseitigung der Kündigung zu hoffen (in diesem Sinne auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.01.2015 – L 6 AS 2085/14 B ER mit zutreffendem Hinweis auf den Grundrechtsschutz nach Art 13 GG; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.01.2015 – L 11 AS 261/14 B; SG Berlin, Beschluss vom 05.01.2015 – S 205 AS 27758/14 ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 19. 03. 2013 – L 16 AS 61/13 B ER). Ein „Vertrösten“ der Antragsteller auf Rechtsschutz zu einem späteren Zeitpunkt – nach Erhebung einer Räumungsklage – ist den Antragstellern in diesem konkreten Fall nicht zumutbar.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.3 – SG Stuttgart, Beschluss v. 06.05.2020 – S 15 AS 1315/20 ER

Hartz IV: Kein Anspruch auf Wäschetrockner aufgrund Corona-Pandemie

Das SG Stuttgart hat entschieden, dass Empfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende weder einen Anspruch auf 200 Euro monatlichen Mehrbedarf für Hygieneartikel und Lebensmittel wegen höherer Lebensmittelpreise noch einen Anspruch auf einen Wäschetrockner aufgrund der Corona-Pandemie haben.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts hat der Antragsteller nicht ausreichend dargelegt, weshalb das Trocknen der Wäsche in dem vorhandenen Trocknungsraum bzw. durch den gewährten Wäscheständer nicht möglich ist. Es erschließe sich insbesondere nicht, wie der Antragsteller bisher seine Wäsche trocknete. In Bezug auf einen Mehrbedarf i.H.v. 200 Euro im Monat habe er nicht glaubhaft gemacht, dass er sich Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel nur zu höheren Preisen beschaffen könne. Einen erheblichen Anstieg der Lebensmittelpreise aufgrund der Corona-Pandemie sah das SG Stuttgart nicht. Sollte es im Einzelfall zu unvermeidbaren Mehrkosten kommen, lägen diese in einem Bereich von wenigen Euro. Dies sei vom Leistungsberechtigten im Rahmen der pauschalen Betrachtung des Regelbedarfs hinzunehmen. Auch die zusätzlichen Aufwendungen für Hygieneartikel stellten keinen unabweisbaren Mehrbedarf dar, da Aufwendungen für Seife und vergleichbare Reinigungsmittel im Regelbedarf enthalten seien. Die eingeführte Maskenpflicht in Baden-Württemberg führe ebenfalls zu keinem höheren Bedarf, da auch Schals und Tücher hierfür geeignet und erlaubt seien.

Es wurde Beschwerde beim Landessozialgericht eingelegt.

Quelle: Pressemitteilung des SG Stuttgart v. 03.08.2020

3.4 – SG Stuttgart, Urt. v. 14.05.2020 – S 15 AS 3744/19

Rückforderung von Hartz-IV-Leistungen: Bekanntgabe an ein Elternteil genügt

Das SG Stuttgart hat entschieden, dass bei minderjährigen Kindern, die von ihren Eltern gemeinschaftlich vertreten werden, die Bekanntgabe von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden bezüglich Leistungen nach dem SGB II an einen der beiden gesetzlichen Vertreter genügt.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts war der Widerspruch der Klägerin verfristet. Den Ausführungen der Klägerin, dass ihr die Bescheide erst durch Zufall Jahre später bekannt gegeben worden seien, sei nicht zu folgen. Es sei von einer wirksamen Bekanntgabe durch die Adressierung an den Vater auszugehen. Sei ein Beteiligter nicht handlungsfähig i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB X, sei der Verwaltungsakt seinem gesetzlichen Vertreter bekannt zu geben. Bei minderjährigen Kindern, die von ihren Eltern gemeinschaftlich vertreten werden, genüge die Bekanntgabe an einen der beiden gesetzlichen Vertreter (BSG, Urt. v. 13.11.2008 – B 14 AS 2/08 R). Nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches verträten die Eltern das Kind grundsätzlich gemeinschaftlich. Da die Klägerin im Klageverfahren keine anderweitige Darstellung vorgetragen habe, sei davon auszugehen, dass ihre Eltern das gemeinschaftliche Sorgerecht besäßen und die Bekanntgabe der Bescheide an den Vater ausreichend gewesen sei.

Es wurde Berufung zum Landessozialgericht eingelegt.

Quelle: Pressemitteilung des SG Stuttgart v. 03.08.2020

3.5 – SG Stuttgart, Beschluss v. 28.08.2019 – S 25 AS 3359/19 ER

Vorläufige Leistungen nach SGB II für italienische Staatsbürgerinnen

Das SG Stuttgart hat entschieden, dass der Leistungsausschluss des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 Buchstabe c) SGB II einer zusprechenden Entscheidung im Wege der Folgenabwägung im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes nicht entgegensteht.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts hat die Antragstellerin zu 2. ein Aufenthaltsrecht zum Schulbesuch nach Art. 10 VO (EU) 492/11 und davon abgeleitet auch die Antragstellerin zu 1. als Sorgeberechtigte ein Aufenthaltsrecht. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe c) SGB II stehe dabei einer zusprechenden Entscheidung im Wege der Folgenabwägung nicht entgegen. Zwar seien vorliegend die Voraussetzungen dieser Ausschlussnorm ihrem Wortlaut nach gegeben gewesen. Danach sind Ausländer und Ausländerinnen vom Leistungsbezug ausgeschlossen, die ihr Aufenthaltsrecht (wie hier) allein oder neben einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche nach Buchstabe b aus Art. 10 VO (EU) 492/11 ableiteten.

Allerdings sei zu berücksichtigen, dass mit gewichtiger Argumentation in Rechtsprechung und Literatur geltend gemacht werde, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe c) SGB II gegen das europäische Gemeinschaftsrecht verstoße. Die Rechtsfrage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe c) SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei, sei der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Unter Beachtung des Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sei eine Interessenabwägung vorzunehmen, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Antragstellerinnen einzustellen sei. Aus dem Gebot effektiven Rechtschutzes ergebe sich vorliegend die Verpflichtung, auch entgegen einer gesetzlichen Norm vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, also eine Gesetzesvorschrift nicht anzuwenden.

Der Beschluss ist rechtskräftig.

Quelle: Pressemitteilung des SG Stuttgart v. 03.08.2020

3.6 – Sozialgericht Ulm, Gerichtsbescheid vom 30. Juni 2020 (S 10 AS 2325/17)

Gleitsichtbrille gehört zum Regelbedarf

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein Bedarf an einer neuen Gleitsichtbrille darf nicht als ein Härtefallbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II aufgefasst werden, wenn keine Sonderkonstellation vorliegt, der gemäß mit einem oftmals wiederkehrenden Brillenbedarf (der innerhalb von sechs Monaten bzw. einem Jahr nicht nur einmalig, sondern mehrfach auftritt) zu rechnen ist, und die bisherige Brille „noch einige Zeit“, d. h. nicht über einen lediglich kurzen Zeitraum hinweg, bestimmungsgemäß weiterverwendet werden kann.

Eine Brille stellt grundsätzlich ein therapeutisches Gerät im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II dar. Diese Norm lässt sich aber nicht auf die Anschaffung einer Gleitsichtbrille analog anwenden. Eine vollständige Neuanschaffung als Ersatz für eine bereits bestehende und bestimmungsgemäß benutzbare Brille kann nicht mit einer Reparatur gleichgesetzt werden.

Die für die Anschaffung von Brillen entstehenden Ausgaben sind prinzipiell dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 Abs. 1 SGB II) zuzuordnen. Hier handelt es sich um langlebige Gebrauchsgüter.

Die Gewährung eines Darlehens gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II scheidet aus, wenn die Anschaffung einer neuen Gleitsichtbrille bereits aus medizinischer Sicht nicht als zwingend notwendig aufgefasst zu werden hat, d. h. es sich hier um keinen unabweisbaren Bedarf handelt.

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – Sozialgericht Augsburg, Urteil vom 26. Juni 2020 (S 7 AL 319/18):

Kein Stopp des Arbeitslosengeldes nach Immatrikulation

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die Vermutungswirkung des § 139 Abs. 2 Satz 1 SGB III greift bei einer Immatrikulation für ein Hochschulstudium zwar grundsätzlich ein, wird aber entsprechend § 139 Abs. 2 Satz 2 SGB III widerlegt, wenn in der ersten Zeit (hier: vom 01.09.2018 bis zum 19.09.2018) an dieser Ausbildungsstätte keinerlei (Lehr-) Veranstaltungen stattgefunden haben, d. h. der Auszubildende dort keinen Verpflichtungen nachzukommen hatte. Während dieser Eingangsphase ist der Antragsteller an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht gehindert.

Eine Verfügbarkeit nach § 139 SGB III kann anerkannt werden, wenn antragstellerseitig die Glaubhaftmachung erfolgt, dass vor dem Beginn der Lehrveranstaltungen keine Beanspruchung durch das Studium erfolgt.

4.2 – SG Stuttgart, Urt. v. 17.01.2020 – S 21 AL 4798/19

Eigenkündigung: Sperrzeit beim Arbeitslosengeld auch bei Geheimhaltungsvereinbarung

Das SG Stuttgart hat entschieden, dass bei der Prüfung des Eintritts einer Sperrzeit beim Arbeitslosengeld wegen Arbeitsaufgabe aufgrund einer Eigenkündigung der Abschluss einer Geheimhaltungsvereinbarung mit dem (ehemaligen) Arbeitgeber den Arbeitslosen nicht von seiner objektiven Beweislast bezüglich des Vorliegens eines wichtigen Grundes befreit.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts ist die Entscheidung der Beklagten über den Eintritt einer Sperrzeit nicht zu beanstanden. Ein wichtiger Grund für das Verhalten des Klägers – die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses durch Eigenkündigung – liege nicht vor. Für das Fehlen eines wichtigen Grundes trage zwar grundsätzlich die Beklagte die Beweislast. Liege der Umstand zur Annahme eines wichtigen Grundes jedoch in der Sphäre des Arbeitslosen, treffe ihn nach der gesetzlichen Regelung des § 159 Abs. 1 Satz 3 SGB III die objektive Beweislast, d.h. die Nichterweislichkeit eines wichtigen Grundes gehe zu seinen Lasten. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze trage vorliegend der Kläger die Beweislast für das Vorliegen eines wichtigen Grundes. Die Umstände, die ihn zur Eigenkündigung veranlasst und damit zur Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses geführt hätten, lägen in seiner Sphäre. Vom Vorliegen eines wichtigen Grundes habe sich das Sozialgericht im Hinblick auf die allgemein gehaltenen Angaben des Klägers ohne konkreten Bezug zum kündigungsrelevanten Sachverhalt nicht überzeugen können. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Vertraulichkeitsvereinbarung oder Geheimhaltungsvereinbarung mit dem (ehemaligen) Arbeitgeber. Sofern der Kläger eine derartige Vereinbarung eingehe, die ihm den Nachweis eines wichtigen Grundes unmöglich mache, falle dies in seinen Verantwortungsbereich. Er habe vor Eingehung einer solchen Vereinbarung die damit ggfs. verbundenen (negativen) Folgen abzuwägen. Es erscheine nicht billig, die gesetzlich bestimmte objektive Beweislast des Klägers durch eine von ihm freiwillig eingegangene Vertraulichkeitsvereinbarung auf die Beklagte und demnach auf die Versichertengemeinschaft umzukehren; denn eine solche Beweislastumkehr führe stets zu einer Beweislosigkeit der Beklagten und gehe damit zu Lasten der Versichertengemeinschaft.

Die Berufung wurde zurückgenommen, die Entscheidung ist rechtskräftig.

Quelle: Pressemitteilung des SG Stuttgart v. 03.08.2020

5.   Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – Hessisches Landessozialgericht, Urt. v. 18.04.2018 – L 4 SO 120/18 – Revision zugelassen

Orientierungshilfe (Redakteur)
Zur Frage der Notwendigkeit und Reichweite der verfassungskonformen Auslegung von § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
Beim Bundessozialgericht sind bereits zwei Revisionen zur Notwendigkeit und Reichweite der verfassungskonformen Auslegung von § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII anhängig, wobei die Landessozialgerichte zu gegensätzlichen Ergebnissen gekommen sind (Revisionen gegen: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 – L 15 SO 181/18 – und LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 7. November 2019 – L 7 SO 934/19)

Hinweis:
Thomé Newsletter 26/2020 vom 05.08.2020

LSG Hessen zu „Überbrückungsleistungen“ für Unionsbürger*innen: Existenzminimum muss während der gesamten Zeit des Aufenthalts gesichert werden.

Im Kern kommt das LSG Hessen darin zu dem Ergebnis, dass stets und zu jeder Zeit während eines tatsächlichen Aufenthalts in Deutschland das gesamte Existenzminimum sichergestellt werden muss, die Begrenzung auf einen Monat also unzulässig ist. Auch die Beschränkung auf gekürzte Leistungen (Streichung des gesamten soziokulturellen Bedarfs!) ist demnach verfassungsrechtlich unzulässig.

weiter: tacheles-sozialhilfe.de

5.2 – SG Stuttgart, Urt. 05.06.2019 – S 11 SO 4131/17

Zweckidentität zwischen Barbetrag und Zuwendungen aus Behindertentestament

Das SG Stuttgart hat entschieden, dass testamentarisch angeordnete Zuwendungen aus einem sogenannten Behindertentestament der Gewährung eines Barbetrages im Rahmen einer stationären Unterbringung entgegenstehen können.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Sozialgerichts ist Zweck des Barbetrags nach § 27b Abs. 2, 3 SGB XII insbesondere die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zudem seien auch Bedarfe aus den Bedarfsgruppen Körperpflege, Reinigung oder Instandsetzung von Kleidung sowie für die Beschaffung von Wäsche und Hausrat von geringem Anschaffungswert durch den Barbetrag zu decken. Es liege daher eine Zweckidentität zwischen dem Barbetrag und den Zuwendungen aus dem Behindertentestament vor, sodass der Gewährung des Barbetrags der Nachranggrundsatz aus § 2 Abs. 1 SGB XII entgegenstehe. Da die Zuwendungen aus dem Behindertentestament über dem Barbetrag lagen, sei dieser Bedarf in Gänze weggefallen. Auch die Konstruktion als Behindertentestament ändere hieran nichts. Mit einem solchen Testament gestalten die Eltern eines behinderten Kindes die Nachlassverteilung durch eine kombinierte Anordnung von Vor- und Nacherbschaft sowie mit einer konkreten Verwaltungsanweisung verbundenen Dauertestamentsvollstreckung derart, dass das Kind zwar Vorteile aus dem Nachlassvermögen erhält, die Sozialhilfeträger darauf aber nicht zurückgreifen können. Ein solches Testament sei nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung nicht sittenwidrig, sondern Ausdruck der sittlich anzuerkennenden Sorge für das Wohl des Kindes über den Tod der Eltern hinaus. Auch sei nach der sozialrechtlichen Rechtsprechung ein der dauerhaften Testamentsvollstreckung unterliegender Nachlass kein verwertbares Vermögen i.S.v. § 90 Abs. 1 SGB XII. Grund hierfür sei, dass der Leistungsberechtigte bei der Einsetzung als Vorerbe bei Anordnung der Testamentsvollstreckung der Verfügungsbeschränkung des § 2211 Abs. 1 BGB unterliege, wonach über einen der Verwaltung des Testamentsvollstreckers unterliegenden Nachlassgegenstand der Erbe nicht verfügen könne. Vorliegend ging es nach Ansicht des Sozialgerichts nicht um die Konstellation, dass die Beklagte eine Bedürftigkeit verneint habe, weil in der Erbschaft ein berücksichtigungsfähiges Vermögen vorhanden sei. Stattdessen seien die Zuwendungen durch den Betreuer tatsächlich getätigt worden, sodass es alleine darauf ankomme, ob die Sozialhilfe wegen der tatsächlichen Zuwendungen gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII insoweit zurückzutreten habe. Auf das Nachlassvermögen als solches greife der Sozialhilfeträger weiterhin nicht zurück.

Quelle: Pressemitteilung des SG Stuttgart v. 03.08.2020

6.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – Amtsgericht Nordhausen, Urteil vom 24. Februar 2020 (31 Ds 360 Js 61538/18):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Keine Strafbarkeit wegen Betrug (§ 263 Abs. 1 StGB) zu Lasten des öffentlichen Trägers, wenn ein Asylbewerber bei der für die Durchführung des AsylbLG zuständigen Behörde Leistungsanträge unter Nennung falscher Personalien stellte, um über seine wahre Identität zu täuschen. Der auf diese Weise bewirkte Irrtum war nicht ursächlich für eine amtlicherseits rechtsgrundlos vorgenommene Vermögensverfügung, der Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG.

Diese Leistungen wären dem Antragsteller auch bei Kenntnis seiner wahren Identität bewilligt worden. Von maßgebender Bedeutung ist hier nur, ob die nach § 1 Abs. 1 AsylbLG leistungsberechtigte Person über einen aktuell gültigen Aufenthaltstitel verfügt und im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Leistungsträgers lebt.

6.2 – Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. April 2020 (1 BvR 2310/19)

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Bejahung der Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG), weil der schwerbehinderte Beschwerdeführer vom Sozialgericht vor seiner auf Antrag des Sozialhilfeträgers verkündeten Kostenentscheidung (§ 193 Abs. 1 Satz 3 SGG) nicht angehört wurde, d. h. der behinderte Schüler über keine Möglichkeit verfügte, sich zu den für diesen Beschluss maßgebenden rechtlichen Erwägungen zu äußern.

Das Sozialgericht hatte sich auch im Anhörungsrügeverfahren nicht mit dem (rechtlichen) Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, weil dieses Gericht in rechtsfehlerhafter Weise davon ausging, Art. 103 Abs. 1 GG würde rechtliches Gehör nur hinsichtlich der tatsächlichen Grundlage der richterlichen Entscheidung gewähren.

Es war auch hier nicht ausgeschlossen, dass der erneute Vortrag des Beschwerdeführers die Berücksichtigung der Besonderheiten des konkreten Einzelfalls, hier: der Begleitung in der offenen Ganztagesschule, hätte erreichen können.

6.3 – Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 16. April 2020 (11 E 1630/20):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
§ 15 Abs. 1, 2. Alt. der „Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS – CoV – 2 in der Freien und Hansestadt Hamburg (HmbSARS – CoV – 2 – EindämmungsVO)“ vom 09.04.2020 kann es einer Mutter von entsprechend § 42 SGB VIII vom Jugendamt in Obhut genommenen Kindern nicht verbieten, ihre in eine Kinderschutzeinrichtung aufgenommenen Kinder zu besuchen.

Ein solches Verbot genügt nicht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 GG und verstößt gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Eine weitgehende Suspendierung des Elterngrundrechts durch einen Ausschluss des Umgangs mit den Kindern ist unzulässig. Es handelt sich hier um den stärksten Eingriff in die Rechte des Erziehungsberechtigten, der nur bei einem Versagen der Erziehungsberechtigten oder bei einer den untergebrachten Kindern drohenden Verwahrlosung gerechtfertigt ist.

Ein entsprechend pauschales Verbot führt zu einem kompletten Kontaktabbruch zwischen den Eltern und ihren Kindern, ohne dass im Einzelfall z. B. nach der Qualität der bisherigen Eltern-Kind-Beziehung differenziert wird.

6.4 – Ausländer: Anspruch auf ALG II nach 5 Jahren in Deutschland, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

weiter: sozialberatung-kiel.de

6.5 – Ungleichbehandlung bei „Hartz IV“ ? ein Beitrag von Herbert Masslau

weiter: www.herbertmasslau.de

6.6 – Kommunales Bildungspaket: Regelungen der Bedarfe für Bildung und Teilhabe verfassungswidrig – BVerfG v. 07.07.2020 – 2 BvR 696/12

Das BVerfG hat diverse Regelungen der Bedarfe für Bildung und Teilhabe wegen Verletzung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.

Die angegriffenen Regelungen (§ 34 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2, Abs. 4 bis Abs. 7 und § 34a SGB XII in der Fassung vom 24.03.2011 i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 SGB XII) stellten eine unzulässige Aufgabenübertragung dar und verletzen die Beschwerdeführerinnen, kreisfreie Städte des Landes Nordrhein-Westfalen, in ihrem Recht auf Selbstverwaltung. Die Regelungen bleiben jedoch bis zum 31.12.2021 weiter anwendbar. Die in § 34 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 SGB XII geregelten Aufgaben entsprächen dagegen inhaltsgleich bereits früher auf die Kommunen als örtliche Träger der Sozialhilfe übertragenen Aufgaben und seien mit dem Grundgesetz vereinbar, so das BVerfG.

§ 34 SGB XII in der verfahrensgegenständlichen Fassung bestimmt, für welche Bedarfe Leistungen für Bildung und Teilhabe erbracht werden; § 34a SGB XII enthält Vorgaben für die Gewährung der Bedarfe. Der Gesetzgeber reagierte mit dem Erlass dieser Vorschriften auf das Hartz IV-Urteil des BVerfG vom 09.02.2010. Dieses hatte ihm unter anderem aufgegeben, alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf folgerichtig und realitätsgerecht zu bemessen. Die Beschwerdeführerinnen machen im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwerde geltend, dass die angegriffenen Vorschriften gegen Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG verstießen, weil die Regelungen die ihnen als örtlichen Trägern der Sozialhilfe bereits zugewiesenen Aufgaben wesentlich verändert, erweitert und um neue Aufgaben ergänzt hätten.

wesentliche Erwägungen des BVerfG

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker