Tacheles Rechtsprechungsticker KW 39/2020

1.   Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II) und zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 14.05.2020 – B 14 AS 7/19 R

Löschung von Kontoauszügen
Jobcenter dürfen Kontoauszüge und andere wichtige Unterlagen über die Einkommensverhältnisse der Hartz-IV-Empfänger zehn Jahre lang speichern.

Leitsatz (Redakteur)
Kontoauszüge mit Angaben zu Gutschriften durfte und darf das Jobcenter für die Dauer von zehn Jahren nach Bekanntgabe der Leistungsbewilligung in Kopie zur Leistungsakte nehmen, sofern es die Möglichkeit der Schwärzung nicht leistungserheblicher Informationen über Zahlungsempfänger von Lastschriften eingeräumt hat.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – BSG, Urt. v. 14.05.2020 – B 14 AS 10/19 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Überprüfungsverfahren – Aufhebungs- und Erstattungsbescheid – Anwendbarkeit des § 40 Abs 1 S 2 SGB 2 nF auf vor dem 1.8.2016 gestellte Überprüfungsanträge – hinreichende Bestimmtheit

§ 40 Abs 1 S 2 SGB 2 in der ab dem 1.8.2016 geltenden Fassung ist auf Überprüfungsanträge, die bis zum 31.7.2016 gestellt wurden, nicht anwendbar.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ist mangels ausreichender Bestimmtheit zurückzunehmen.

2. Eine über mehrere Monate erstreckte Teilaufhebung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist nur hinreichend bestimmt ist iS von § 33 Abs 1 SGB X, soweit ihm die ändernden Teilbeträge für jeden Monat im Einzelnen entnommen werden können.

3. Einem vor dessen Inkrafttreten gestellten Überprüfungsantrag steht die Ausschlussregelung des § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II nicht entgegen und der streitbefangene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ist aufzuheben.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – BSG, Urt. v. 03.07.2020 – B 8 SO 2/19 R

Orientierungshilfe (Redakteur)
Kostenersatzpflicht des Betreuers bei Verlust der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung möglich.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 14.08.2020 – L 4 AS 13/20

Genossenschaftsanteile als Darlehen oder als Zuschuss, hier als Darlehen

Leitsatz (Redakteur)
1. Das Fehlen einer abgeschlossenen Ausbildung und die dadurch bedingten Schwierigkeiten bei der Vermittlung in eine Erwerbstätigkeit sind keine atypische Situation für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II.

2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die darlehensweise Gewährung von Leistungen für Genossenschaftsanteile hat der Senat nicht.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.08.2020- L 31 AS 727/18

Beschränkung der Minderjährigenhaftung; Wissenszurechnung § 38 SGB II Bevollmächtigung eines Elternteils

Leitsatz (Juris)
1. Aus § 1629 BGB folgt für das SGB II nicht, dass beide Elternteile einen Antrag auf Leistungen beim Jobcenter für den Minderjährigen stellen müssen. Abzustellen ist auf § 38 SGB II und §§ 166, 278 BGB.

2. Der volljährig gewordene Minderjährige haftet mit seinem gesamten am 18. Geburtstag vorhandenen Vermögen. Pfändungsfreigrenzen sind bei der Beschränkung der Haftung auf das tatsächlich vorhandene Vermögen nicht zu berücksichtigen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – Landessozialgericht Hamburg, Urt. v. 02.09.2020 – L 2 AL 5/20

Antrag des Klägers auf Gleichstellung nach § 2 Abs. 3 Neuntes SGB IX

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Der Zweck der Gleichstellung, die Verbesserung der Wettbewerbschancen der behinderten Menschen am Arbeitsplatz oder auf dem Arbeitsmarkt, wird nicht erreicht, wenn die Leistungsanforderungen des konkreten Arbeitsplatzes von vornherein nicht erfüllt werden können oder die konkrete Tätigkeit zu einer zunehmenden Gesundheitsverschlechterung führt, was aller Voraussicht nach zu einer weiteren Verschlechterung der Wettbewerbschancen führt.

2. Fehlt das Tatbestandsmerkmal des geeigneten – derzeit innehabenden – Arbeitsplatzes, besteht kein Anspruch auf Gleichstellung (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.2.2014 – L 8 AL 501/13, und Bundessozialgericht, Urteil vom 6.8.2014 – B 11 AL 16/13 R).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Sozialgericht Freiburg, Urt. v. 11.08.2020 – S 9 SO 2008/19

Leitsatz (Juris)
1. Bei der Berechnung des Nachlasswertes für den Kostenersatz gemäß § 102 SGB XII sind mit dem Erbfall durch Konfusion erloschene Forderungen des Erben gegen den Erblasser in entsprechender Anwendung von §§ 1976, 1991 Abs. 2, 2143, 2175 und 2377 BGB als nicht erloschen anzusehen.

2. Dem Erblasser oder dem Nachlass zugeflossenes Schmerzensgeld ist dagegen dem für den Kostenersatz nach § 102 SGB XII maßgebenden Rohnachlass zuzurechnen und weder nach § 83 Abs. 2 SGB XII noch nach § 90 Abs. 3 SGB XII geschützt.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – Sozialgericht Freiburg, Urt. v. 23.06.2020 – S 9 SO 3014/18 -. rechtskräftig

Übernahme einer Nebenkostennachzahlung, hier bejahend, weil kein schlüssiges Konzept – erhöhter Wasserverbrauch

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Auch die Kosten für den Wasserverbrauch können im Gegensatz zu den Kosten für die Heizenergie nicht von der Bruttokaltmiete getrennt einer Angemessenheitsprüfung unterzogen werden können. Denn zu den Betriebskosten, die in die Bruttokaltmiete einzustellen sind, gehören auch die Kosten für den Wasserverbrauch, da vom Gesetzeswortlaut der §§ 35 SGB XII, 22 SGB II und dem folgend auch vom BSG ausdrücklich nur die Heizkosten und die Kosten der zentralen Warmwasserversorgung als getrennt zu beurteilende Bedarfe genannt werden. Die Unterkunftskosten in Form der tatsächlichen Bruttokaltmiete inklusive der Wasserverbrauchskosten sind daher grundsätzlich als angemessen zu übernehmen, so lange nur die Bruttokaltmiete insgesamt abstrakt angemessen ist (so bereits SG Frankfurt/Oder, Urt. v. 30.5.2012, Az. S 28 AS 3192/10; a.A. die 6. Kammer des SG Freiburg, 15.04.2011 – S 6 AS 3782/09).

2. Die tatsächlichen Aufwendungen der Klägerin für die Bruttokaltmiete überstiegen schließlich den abstrakt angemessenen Umfang entgegen der Annahme des Beklagten nicht. Denn nach der Rechtsprechung des BSG und des LSG Baden-Württemberg entspricht das Konzept des Beklagten zur Ermittlung der angemessenen Bruttokaltmiete für den Vergleichsraum Umland Freiburg, zu dem die Wohnortgemeinde der Klägerin gehört, im streitgegenständlichen Zeitraum nicht den Mindestanforderungen der Rechtsprechung an die Schlüssigkeit derartiger Konzepte und kann wegen Zeitablaufs auch nicht mehr nachgebessert werden. Daher ist auf die Tabellenwerte des § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10% zurückzugreifen und für die Raumschaft Umland Freiburg die Mietstufe VI zugrunde zu legen (LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 6.12.2018, Az. L 7 AS 4457/16, unter Berufung auf BSG-Urt. v. 16.6.2015, Az. B 4 AS 44/14 R).

Leitsatz (Juris)
Aufgrund des vom Gesetzgeber gewählten Bruttokaltmietenkonzepts ist die abstrakte Angemessenheit der Kosten der Unterkunft einheitlich für die Bruttokaltmiete zu beurteilen. Eine isolierte Kürzung der Leistungen für einzelne Elemente der Bruttokaltmiete (wie z.B. den Wasserverbrauch) wegen Unangemessenheit ist daher nicht zulässig, solange die Summe aus Grundmiete und kalten Betriebskosten insgesamt abstrakt angemessen ist.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

5.   Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbL

5.1 – Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13.09.2020 – L 9 AY 9/20 B ER

Angelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Weil das sog. offene Kirchenasyl weder ein rechtliches noch ein tatsächliches Abschiebungshindernis darstellt, kann ausreisepflichtigen Ausländern, deren Aufenthalt sich infolge der Inanspruchnahme von Kirchenasyl verlängert hat, nicht vorgeworfen werden, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

Rechtstipp:
vergl. Beschluss des Hessischen LSG vom 4. Juni 2020 – L 4 AY 5/20 B ER; aA Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Mai 2020 – L 19 AY 38/18

5.2 – Sozialgericht Freiburg, Urt. v. 11.08.2020 – S 9 AY 1173/20

Regelbedarfsstufe 1 in Sammelunterkünften

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Ob § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG in der seit 1.9.2019 geltenden Fassung darüber hinaus einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, aufgrund derer die Klägerin auch bei Anwendung der Neufassung der Norm Anspruch auf Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1 hätte, kann daher dahinstehen.

2. Allerdings spricht viel für die Notwendigkeit einer solchen verfassungskonformen Auslegung, sei es in der Form, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorausgesetzt wird, wofür die objektive Beweislast beim Leistungsträger liegt (so LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 10.6.2020, Az. L 9 AY 22/19 B ER zur Parallelvorschrift § 3a Abs. 1 Nr. 2 b) und Abs. 2 Nr. 2 b) AsylbLG, (juris)) oder indem analog § 27a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB XII eine abweichende Regelbedarfsfestsetzung in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 vorgenommen wird, wenn ein in einer Gemeinschaftsunterkunft lebender erwachsener AsylbLG-Leistungsberechtigter aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls die der Regelbedarfsstufe 2 zugrundegelegten Einspareffekte objektiv nicht erzielen kann (SG Freiburg, Beschl. v. 20.3.2020, Az. S 9 AY 776/20 ER, n.v.).

Leitsatz (Juris)
Die Übergangsvorschrift § 15 AsylbLG ist verfassungskonform so auszulegen, dass hiervon alle seit dem 21.08.2020 in Kraft getretenen Änderungen des § 2 AsylbLG umfasst werden. Der Anwendungsbereich ist insbesondere nicht auf die Verlängerung der Wartefrist durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht beschränkt, sondern betrifft auch die Änderungen des Regelsatzsystems durch das Dritte Gesetz zur Änderung des AsylbLG.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

6.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – Anmerkung zu: BVerfG 1. Senat, 1. Kammer, stattgebender Kammerbeschluss vom 08.07.2020 – 1 BvR 932/20

Autor: Prof. Dr. Daniela Evrim Öndül

Anforderungen an Begründung im sozialgerichtlichen Eilverfahren im Hinblick auf den Ausschluss von Unionsbürgern von Leistungen nach dem SGB II

Orientierungssatz
1a. Drohen dem Rechtsuchenden ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, so dürfen sich die Fachgerichte nur dann an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen können. Eine solche abschließende Prüfung kommt allerdings nur in Betracht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren möglich ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.11.2018 – 2 BvR 80/18 Rn. 8).

1b. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.03.2019 – 1 BvR 169/19 Rn. 15 m.w.N.; st. Rspr.).

2a. Einer abschließenden Prüfung steht grundsätzlich nicht entgegen, wenn sich in dem Rechtsstreit schwierige, ungeklärte bzw. hoch streitige Rechtsfragen stellen. Das Gericht hat allerdings in den Blick zu nehmen, dass sich eine solche Prüfung im Eilverfahren auf die Möglichkeiten des Rechtsschutzsuchenden auswirkt, die Entscheidungsfindung im Hauptsacheverfahren und im Rahmen prozessrechtlich vorgesehener Rechtsmittelverfahren zu beeinflussen (vgl. BVerfG v. 01.08.2019 – 2 BvR 1556/17 Rn. 11).

2b. Stellt sich im Rahmen der Prüfung der Erfolgsaussichten der Sache im Eilverfahren eine höchst strittige Rechtsfrage, so kann daher im Rahmen einer im dargelegten Sinne “abschließenden” Entscheidung eine zumindest knappe Auseinandersetzung mit dem Meinungsstand geboten sein (vgl. BVerfG v. 01.08.2019 – 2 BvR 1556/17 Rn. 14).

3. Hier:
3a. Die angegriffene Entscheidung begründet nicht hinreichend, dass in der Hauptsache keine hinreichenden Erfolgsaussichten bestanden. Hinsichtlich der sehr umstrittenen Frage, ob § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU 2004 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG 2004 (analog) und Art. 18 Abs. 1 AEUV dem sorgeberechtigten Elternteil eines freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht vermitteln kann, durfte das LSG nicht lediglich auf seine eigenen Beschlüsse aus dem August 2019 und früher verweisen. Vielmehr hätte es jedenfalls auf Erwägungen des BVerfG (Hinweis auf BVerfG, Beschl. v. 04.10.2019 – 1 BvR 1710/18 zu jener ungeklärten Rechtsfrage) eingehen müssen, die die vom Landessozialgericht in Bezug genommenen fachgerichtlichen Entscheidungen noch nicht berücksichtigen konnten.

3b. Zudem hätte das Landessozialgericht die Konsequenzen der von ihm angedachten Lösung einer Rückkehr des Beschwerdeführers zu 2. in sein Heimatland und damit die Trennung von seiner Familie nunmehr – wenigstens knapp – im Lichte von Art 6 GG und Art 8 EMRK (juris: MRK) würdigen müssen. Der bloße Verweis auf die Betreuung der gemeinsamen Kinder durch die Lebensgefährtin reicht hierfür nicht aus.

4. Festsetzung des Gegenstandswertes auf 25.000 Euro.

weiter auf Juris: www.juris.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker