Tacheles Rechtsprechungsticker KW 43/2020

1.   Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 14.09.2020 – L 7 AS 1199/20 B ER; L 7 AS 1258/20 B – rechtskräftig

Zur Berücksichtigung eines höheren Mehrbedarfs für Ernährung

Leitsatz (Redakteur)
1. Hochkalorienreiche Trinknahrung begründet keinen höheren Mehrbedarf i. S. v. § 21 Abs. 5 SGB II.

2. Ein Sonderbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II scheitert zudem an der Unabweisbarkeit des Bedarfs.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 21.07.2020 – L 9 AS 3881/19

Leitsatz (Juris)
1. Zu den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft

2. Zur rückwirkenden Anwendung eines schlüssigen Konzepts ab dem Stichmonat der Datenerhebung

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urt. v. 10.06.2020 – L 5 AS 23/16

Zur Zahlung des üblichen Tariflohns für im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung geleistete Tätigkeiten.

Leitsatz (Redakteur)
Die Zahlung des üblichen Tariflohns für im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung geleistete Tätigkeiten scheidet aus, wenn der Zuweisungsbescheid und/oder die Eingliederungsvereinbarung bestandskräftig geworden sind.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zahlung des üblichen Tariflohns für die Dauer der Maßnahme.

2. Als Rechtsgrund für eine Arbeitsgelegenheit kommen insbesondere ein rechtswirksamer Zuweisungsbescheid bzw. eine Eingliederungsvereinbarung mit konkreter Benennung der Arbeitsgelegenheit in Betracht (BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R, Rn. 29). Der Rechtsgrund für die Arbeitsgelegenheit entfällt dann, wenn die Eingliederungsvereinbarung und/oder der Zuweisungsbescheid wirksam angefochten sind (BSG, Urteil vom 22. August 2013 – B 14 AS 75/12 R, Rn. 19; Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 98/10 R, Rn. 20). Sind der Zuweisungsbescheid und/oder die Eingliederungsvereinbarung dagegen bestandskräftig geworden, so stellen sie unabhängig von ihrer materiellen Rechtmäßigkeit die Rechtsgrundlage für die Arbeitsgelegenheit dar.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 22.09.2020 – L 14 AS 560/17

Leitsatz (Juris)
Der Bedarf für eine Erstausstattung bei Geburt nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II ist bedarfsbezogen zu ermitteln. Die Rechtswidrigkeit der Höhe einer gewährten Pauschale kann sich nur daraus ergeben, dass mit dieser Pauschale der konkrete Bedarf nicht gedeckt werden konnte.

Die Gerichte haben nicht abstrakt und losgelöst von den geltend gemachten Aufwendungen im Einzelfall eine höhere Pauschale für die Säuglingserstausstattung festzulegen (Anschluss an LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. März 2013 – L 5 AS 63/12 und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10. Februar 2014 – L 7 AS 210/13 NZB).

Quelle: www.landesrecht-mv.de

2.   Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Dortmund, Beschluss vom 7. Oktober 2020 (S 38 AS 3803/20 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Verneinung einer eheähnlichen Gemeinschaft gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II, wenn die im gleichen Gebäude wie der Vater des gemeinsamen Kindes lebende Antragstellerin dort über eine eigene, vollständig eingerichtete Wohnung verfügt, und es an greifbaren Anhaltspunkten für ein eheähnliches Zusammenleben und -wirtschaften mit diesem Hauseigentümer fehlt.

2.2 – Sozialgericht Berlin, Urt. v. 12.08.2020 – S 142 AS 445/19 – rechtskräftig

Grundsicherung für Arbeitsuchende, abschließende Feststellung des Leistungsanspruches, Durchschnittseinkommen, Rückausnahme, selbständige Tätigkeit nur in Teilen des Bewilligungszeitraums

Orientierungshilfe (Redakteur)
Zur Frage, wie die Ermittlung der Einkünfte bei der Frage des Vorliegens der Rückausnahme nach § 41a Abs. 4 S. 2 Nr. 2 SGB II zu erfolgen hat, wenn auch Einkommen aus einer selbständigen Tätigkeit erzielt wurde, die nur in Teilen des Bewilligungszeitraums ausgeübt wurde.

Leitsatz (Juris)
1. Bei der abschließenden Feststellung des Leistungsanspruches ist nach § 41a Abs. 4 S. 2 Nr. 2 SGB 2 kein Durchschnittseinkommen zugrunde zu legen, wenn der Leistungsanspruch in mindestens einem Monat des Bewilligungszeitraums unter Berücksichtigung des nach den allgemeinen Anrechnungsregeln in diesem Monat zu berücksichtigenden Einkommens entfällt.

2. Ist aufgrund der Anwendung der Rückausnahme des § 41a Abs. 4 S. 2 Nr. 2 SGB 2 kein Durchschnittseinkommen zugrunde zu legen, so ist bei der Spitzanrechnung des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit, die nur in einigen Monaten des Bewilligungszeitraums ausgeübt wurde, in diesen Monaten nach § 3 Abs. 1 S. 3 iVm Abs. 4 S. 2 AlgIIV ein Durchschnittseinkommen aus der selbständigen Tätigkeit anzurechnen.

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

3.   Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbL

3.1 – Sozialgericht Osnabrück, Beschluss v. 19.03.2020 – S 44 AY 20/20 ER – rechtskräftig

Leitsatz www.asyl.net:
Keine Leistungskürzung bei unzumutbarer Ausreise wegen Corona-Pandemie:

Einstweilige Anordnung auf Auszahlung ungekürzter Leistungen nach AsylbLG wegen Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit der Ausreise nach Italien.

(Leitsätze der Redaktion; aus den Hinweisen des Einsenders geht hervor, dass die Entscheidung aufgrund der „Sperrung“ Italiens wegen der Corona-Pandemie erging)

Quelle: www.asyl.net und sozialgerichtsbarkeit.de

3.2 – SG Landshut v. 14.10.20 – S 11 AY 39/20

Erstes Urteil zum Grundbedarf 2b im AsylbLG ist da (Leistungskürzung von 10% für Alleinstehende u Alleinerziehende in Sammelunterkünften):

Die Norm sei verfassungskonform auszulegen = volle Leistung nach Bedarfssatz 1 ist zu gewähren

weiter: twitter.com

3.3 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss v. 06.10.2020 – L 4 AY 22/20 B ER

Leitsatz (Juris)
1. Ein Anspruch nach § 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 3 b) AsylbLG auf Grundleistungen in Höhe des notwendigen persönlichen Bedarfs besteht unabhängig von der Frage, ob der notwendige Bedarf nach § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 3 b) AsylbLG im Wesentlichen von dritter Seite gedeckt wird.

2. Bei einer stationären Unterbringung (hier: stationärer Aufenthalt in einem Krankenhaus) ist der Anordnungsgrund eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung existenzsichernder Leistungen dann gegeben, wenn zwar das physische Existenzminimum gedeckt ist, ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung der Teilhabebereich bzw. soziokulturelle Bereich des Existenzminimums jedoch laufend im Wesentlichen ungedeckt bliebe (Anschluss an LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Dezember 2013 – L 20 AY 106/13 B ER –).

Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de

4.   Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

4.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.09.2020 – L 11 AS 508/20 B ER

Hartz-IV: Keine Prüfung der Mietkosten in Corona-Zeiten

Das LSG Celle-Bremen hat entschieden, dass die Sonderregelungen des Sozialschutzpakets auch für Neuanmietungen gelten, so dass Hartz-IV-Empfänger vorübergehend die Übernahme der vollen Mietkosten auch für eine gerade erst neu bezogene zu teure Wohnung verlangen können.

Das LSG Celle-Bremen hat das Jobcenter zur vorübergehenden Übernahme der vollen Mietkosten verpflichtet.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Landessozialgerichts sieht die neue Regelung des § 67 Abs. 3 SGB II vor, dass in Corona-Zeiten für die Dauer von sechs Monaten keine Prüfung erfolgen solle, ob die von den Leistungsbeziehern für ihre Wohnung zu zahlende Miete zu teuer sei. Dies gelte nicht nur für seit Langem bewohnte Wohnungen, sondern auch für eine gerade erst neu bezogene zu teure Wohnung.

Darüber finden die Regelungen auch Anwendung, obwohl weder die Hilfebedürftigkeit der Familie noch ihr Umzug direkt auf die Corona-Pandemie zurückzuführen seien. Eine Ursächlichkeit zwischen dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit und der epidemischen Lage sei ausdrücklich nicht erforderlich. Die Norm sei nach der Kommentarliteratur möglicherweise sogar auf exorbitant hohe Mieten bzw. Luxusmieten anwendbar, da es sich um eine unwiderlegbare Fiktion handele. Eine Begrenzung finde aufgrund ihres weitreichenden Wortlautes eben nicht statt. Aufgrund der zeitlichen Beschränkung des Sozialschutzpakets erfolge die Übernahme der zu teuren Miete allerdings nur vorübergehend, nämlich im konkreten Fall für fünf Monate.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Celle-Bremen Nr. 21/2020 v. 19.10.2020

4.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.09.2020 – L 11 AS 415/20 B ER

Corona-Sonderregelungen: Keine antragslose Weiterbewilligung von fehlerhaft übernommenen Hartz-IV-Leistungen

Das LSG Celle-Bremen hat entschieden, dass die Sonderregelungen des Sozialschutzpakets nicht dazu führen dürfen, dass ein Jobcenter Grundsicherungsleistungen sehenden Auges zu Unrecht weitergewährt.

Das LSG Celle-Bremen hat entschieden, dass das Jobcenter nicht zur Übernahme der Mietkaufraten verpflichtet ist.

Kurzfassung:
Nach Auffassung des Landessozialgerichts ist bereits die ursprüngliche Leistungsbewilligung fehlerhaft. Denn vom Jobcenter sei grundsätzlich nur die Miete zu übernehmen ist. Im vorliegenden Fall dienten die Raten jedoch dem Abtrag des Kaufpreises. Damit würden sie zu einer Vermögensbildung führen, die vom Jobcenter nicht übernommen werden dürfe.

Es bestehe auch kein Anspruch auf Fortbewilligung der Leistungen aufgrund der Sonderregelungen des Sozialschutzpakets. Mit der neuen Vorschrift des § 67 Abs. 5 Satz 3 SGB II erfolge zwar die Weiterbewilligung von Grundsicherungsleistungen bei bereits seit Längerem im Bezug stehenden Betroffenen unter der Annahme unveränderter Verhältnisse ohne Überprüfung des weiteren Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen. Diese Vorschrift dürfe jedoch nicht dazu führen, dass ein Jobcenter „sehenden Auges“ Leistungen zu Unrecht gewähre.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Celle-Bremen Nr. 22/2020 v. 19.10.2020

4.3 – Doritt Komitowski und unsere Kollegin Kirsten Eichler haben eine Übersichtstabelle erstellt, in der die unterschiedlichen Duldungsformen, ihre Voraussetzungen und Rechtsfolgen dargestellt sind:

ggua.de

Mittlerweile gibt es elf verschiedene Duldungsformen, die jeweils unterschiedliche Folgen u. a. bezügl. des Arbeitsmarktzugangs und des Zugangs zu Sprachförderung haben. Die Tabelle soll dazu eine erste Orientierung geben, die, wie das bei Tabellen so üblich ist, nur übersichtsartig und verkürzt sein kann. Vielen Dank an Doritt Komitowski für die Unterstützung!

Claudius Voigt

4.4 – SG Kiel: 150 € netto für eine durchschnittliche Untätigkeitsklage

von RA Helge Hildebrandt

weiter: sozialberatung-kiel.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker