1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
1.1 – LSG Berlin-Brandenburg, 21.09.2020 – L 10 AS 1093/20 B PKH
Orientierungshilfe RA Dr. Jens-Torsten Lehmann
Zweifel im Hinblick auf die Erwerbsfähigkeit berechtigen das Jobcenter nicht zur (nur) vorläufigen Leistungsbewilligung.
S. a. dazu Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die Leistungspflicht des SGB II-Trägers setzt nicht erst dann ein, wenn zwischen Sozialleistungsträgern Unstimmigkeiten über das Bestehen einer Erwerbsfähigkeit (§§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 8 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II) ausgetragen werden.
Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II beanspruchende Antragstellerinnen und Antragsteller sind bereits im Vorfeld in der Weise zu stellen, als bestünde bei diesen Personen eine volle Erwerbsfähigkeit.
Ein SGB II-Träger darf nicht von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgehen, ohne nicht zuvor den zuständigen Sozialhilfeträger eingeschaltet zu haben.
Ab dem Zeitpunkt einer negativen Feststellung über die Erwerbsfähigkeit durch die Agentur für Arbeit sind vom Jobcenter Nahtlosigkeitsleistungen gemäß § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II zu erbringen, bis der andere Sozialleistungsträger seine Zuständigkeit anerkannt, oder die Arbeitsagentur über den Widerspruch entschieden hat.
Die Leistungspflicht des Jobcenters auch vor Einleitung des besonderen Widerspruchsverfahrens und damit über den reinen Wortlaut des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hinaus rechtfertigt sich aus dem Sinn und Zweck dieser Regelung, Antragstellerinnen und Antragstellern, die existenzsichernde Leistungen begehren, auch im Fall eines „unausgesprochenen“ negativen Kompetenzkonflikts nicht in gleicher Weise „zwischen die Stühle“ geraten zu lassen wie im Fall eines durch die Einleitung eines Widerspruchsverfahrens sich aktualisierenden Zuständigkeitsstreits.
Da § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II keine vorläufige Leistungspflicht im Sinne des § 43 SGB I verfügt, sondern eine im Außenverhältnis zur berechtigten Person endgültige Leistung nach dem SGB II, ändert sich an dieser Fiktion der Erwerbsfähigkeit auch in dem Fall nichts, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass für den Zeitraum, für den Leistungen in Berücksichtigung der in § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II festgeschriebenen Nahtlosigkeitsregelung erbracht worden sind, keine Erwerbsfähigkeit bestanden hat.
In dieser Situation kommt eine nur vorläufige Gewährung von Leistungen entsprechend § 41a Abs. 1 SGB II in Verbindung mit den §§ 19 ff. SGB II mit der Begründung der Prüfung eines vorrangigen Rentenanspruchs nicht in Betracht.
1.2 – Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 02.06.2020 – L 28 AS 1466/14
Betriebskostenguthaben; Zufluss; wertmäßiger Zuwachs; Fälligkeit des Betriebskostenguthabens; Realisierung; Saldo; Soll/Haben; Mieterkonto; Vermieter; Direktzahlung; Kosten der Unterkunft; Mieterkontoblätter
Leitsatz (Juris)
Zum wertmäßigen Zuwachs eines Betriebskostenguthabens auf ein Mietkonto beim Vermieter. Wertmäßige Realisierung des Betriebskostenguthabens bei der Gestaltung des Jobcenters die monatliche Miete direkt auf das Konto des Vermieters einzuzahlen. Bedeutung der Sollstellung um die monatliche Miete im Mieterkonto.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
1.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.10.2020 – L 10 SF 8/19 EK AS
Orientierungshilfe (Redakteur)
Leistungsbezieher nach dem SGB II sind in Anwendung von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht verpflichtet, ihnen zustehende Entschädigungsleistungen aus der Anwendung von § 198 GVG zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einzusetzen.
Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de
1.4 – LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 4. Mai 2020 (L 1 AS 2007/19):
Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die Miete für die mit einer Wohnung zusammen angemieteten Garage kann als ein unter § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II subsumierbarer Kostenpunkt aufgefasst werden.
Hier ist eine weite Auslegung gestattet.
§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II umfasst sämtliche Aufwendungen, die ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter zu tragen hat, um sich im Besitz des ihm überlassenen, angemessenen Wohnraums zu halten.
Die Kosten einer Garage oder eines Stellplatzes, der mit dem Wohnraum zusammen vermietet wird, sind vom Jobcenter gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in dem Fall zu übernehmen, wenn die Wohnung ohne die Garage bzw. den Stellplatz nicht anmietbar ist, und die Miete sich bei fehlender „Abtrennbarkeit“ der Garage oder des Stellplatzes noch innerhalb des Rahmens der Angemessenheit von Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II für den jeweiligen Wohnort hält.
Dies ist der Fall, wenn ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter weder rechtlich noch faktisch die Möglichkeit hat, seine mietvertragliche Zahlungspflicht für den ihm mitvermieteten Stellplatz bzw. die Garage zu beenden, ohne damit den weiteren Bestand des gesamten Mietverhältnisses zu gefährden, d. h. ein einheitlicher Mietvertrag über Wohnung und Stellplatz vorliegt, der weder eine Teilkündigung noch eine Untervermietung gestattet, und die gesamten Kosten der Wohnung (einschließlich für Stellplatz bzw. Garage) für die jeweilige Bedarfsgemeinschaft als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II aufzufassen sind.
Aus § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II geht keine gesetzliche Grundlage, die ein Jobcenter berechtigt, einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Obliegenheit zur Untervermietung eines Kfz-Stellplatzes aufzuerlegen, obwohl die geltend gemachten Kosten der Unterkunft in ihrer Gesamtheit als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II einzuschätzen sind, hervor. Aus diesem allgemeinen Programmsatz („Grundsatz des Forderns“) lässt sich keine Pflicht zur Bedarfssenkung, sondern einzig zur Einnahmeerzielung ableiten.
Anmerkung Redakteur Tacheles:
Anhängig beim BSG- Az.: B 14 AS 39/20 R – Sind die Kosten für eine Garage bzw einen Kfz-Stellplatz bei den Kosten der Unterkunft nach § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB II zu übernehmen, wenn ein einheitlicher Mietvertrag über Wohnung und Stellplatz vorliegt und die Kosten der Unterkunft insgesamt noch angemessen sind.
1.5 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 06.10.2020 – L 7 AS 66/19 – Revision zugelassen
Zur Kostenübernahme eines Tablets zwecks Teilnahme an einer iPad-Klasse als Zuschuss – kein Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II
Der Kauf eines Tablets zwecks Teilnahme an einer iPad-Klasse stellt keinen unabweisbaren Bedarf dar, um im Einzelfall das menschenwürdige, soziokulturelle Existenzminimum eines Schülers zu sichern.
Leitsatz (Redakteur)
1. Jobcenter müssen Kindern kein Tablet finanzieren, denn der digitale Schulbedarf eines Kindes ist dem Grunde nach im Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB II und in den Teilhabeleistungen nach § 28 Abs. 3 SGB II aF erfasst, deren Höhe nicht evident unzureichend ist.
Leitsatz (Juris)
1.) Der Kauf eines iPads zwecks Teilnahme an einer iPad-Klasse ist nicht vom Jobcenter gemäß § 21 Abs. 6 SGB II als Zuschuss zu übernehmen, weil es sich um einen einmaligen Bedarf handelt, der prognostisch nicht in jedem Schuljahr wieder anfällt.
2.) Eine atypische Lebenssituation liegt im Vergleich zu Haushalten knapp oberhalb des SGB II-Bedarfs und Beziehern von Kinderzuschlag nicht vor.
3.) Der Bedarf ist ferner nicht unabweisbar, weil ein iPad weder schulrechtlich vorgeschrieben noch zum Erreichen des Schulabschlusses erforderlich ist. Unerheblich ist es, dass einzelne Schulen diese Ausstattung verlangen. Dadurch wird ein iPad nicht zum soziokulturellen Existenzminimum eines Schülers.
4.) Eine analoge Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II kommt nicht in Betracht, weil keine Regelungslücke besteht und dem Willen des Gesetzgebers widersprechen würde, wonach für diese Ausstattung die Schulverwaltungen zuständig sind.
5.) Die Bevorzugung eines bestimmten Herstellers ohne Ausschreibung stellt einen Verstoß gegen die Neutralitätspflicht einer Schule dar, der dem Einsatz öffentlicher Mittel nach § 73 SGB XII entgegensteht.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
Anmerkung Redakteur Tacheles:
Anderer Auffassung, nämlich das hier der Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II greift und die Kosten vom Jobcenter zu tragen sind
SG Halle (Saale), Urt. v. 25.08.2020 – S 5 AS 2203/18 – rechtskräftig (Tablet in Höhe von 210 EUR); SG Köln, Urteil vom 11. August 2020 – S 15 AS 456/19 – (Kosten EUR 450,- für Anschaffung eines Laptops und Druckers); SG Köln, Beschluss v.24.06.2020 – S 32 AS 2150/20 ER, SG Köln, Beschl. v. 10.06.2020 – S 8 AS 1817/20 ER – (zur Übernahme eines Schulcomputers nebst Drucker in Höhe von 220 € und 240 € als coronabedingten Sonderbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II); LSG NRW, Beschluss v. 22.05.2020 – L 7 AS 719/20 B ER, L 7 AS 720/20 B (etwa 150 Euro für ein Markentablet); SG Mannheim, Urt. v. 24.10.2019 – S 3 AS 2672/19 (Computer oder Laptop in Höhe von maximal 300 Euro);
Laptop inklusive Zubehör für 500 € (SG Cottbus v. 18.12.2019 – S 29 AS 1540/19 ER),
PC mit Drucker, Software und Einrichtung für 600 € (LSG Schleswig-Holstein v. 11.01.2019 – L 6 AS 238/18 B ER),
internetfähiger PC, nebst notwendigem Zubehör und Serviceleistungen in Höhe von 600 € (SG Gotha v. 17.08.2018 – S 26 AS 3971/17),
Tablet im Wert von 369 €, welches seitens der Schule benötigt werde (SG Hannover v. 06.02.2018 – S 68 AS 344/18 ER),
Laptop im Wert von 399 €, welcher explizit für die Schule notwendig sei (SG Stade v. 29.08.2018 – S 39 AS 102/18 ER),
internetfähiger PC im Wert von 350 € (SG Cottbus v. 13.10.2016 – S 42 AS 1914/13),
Laptop für 379 € (SG Kiel v. 25.10.2019 – S 38 AS 348/18),
gebrauchter PC für 150 € bei Besuch der Berufsfachschule I für Informationsverarbeitung und Mediengestaltung (SG Mainz v. 07.10.2019 – S 14 AS 582/19 ER
Anmerkung Harald Thomé:
Inhaltlich und systematisch ist diese Entscheidung nicht nachvollziehbar, natürlich werden sich jetzt alle Notvergrößerer (insbesondere die Jobcenter und die BA) sich auf diese Entscheidung beziehen und damit Ansprüche ablehnen. Hier wurden nur alle erdenklichen Argumente genutzt um einen Anspruch abzuwehren, insbesondere wird ersichtlich, dass die Richter ihre Ablehnung gegenüber Apple zum Ausdruck bringen anstatt eine weite Auslegung im Sinne der Leistungsberechtigten zu suchen, wie ein Anspruch realisiert werden kann. Was auch Aufgabe der Sozialgerichte ist.
2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – Sozialgericht Stade, Urt. v. 05.10.2020 – S 28 AS 352/18
Orientierungshilfe (Redakteur)
Die Ermittlung des zu berücksichtigenden Einkommens bei Selbstständigen richtet sich einzig nach § 3 AlgII-V. Diese Regelung würde durch Anwendung des § 41a Abs 3 Satz 3 SGB II ausgehebelt, wenn regelmäßig und bewusst für bestimmte Monate – nämlich die, in denen höhere Gewinne erzielt werden – Unterlagen nicht vorgelegt werden, für die dann der Leistungsanspruch nicht festgestellt werden könnte. Im Fall der (vorläufigen) Leistungsgewährung gegenüber Selbstständigen mit bindend festgestelltem Bewilligungszeitraum besteht für die Anwendung des § 41a Abs 3 Satz 3 SGB II mit Ausnahme der Fallgestaltung des § 3 Abs 1 Satz 2 AlgII-V grundsätzlich kein Raum.
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
3. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbL
3.1 – Sozialgericht Landshut, Urt. v. 14.10.2020 – S 11 AY 39/20
Zur Frage der Anwendbarkeit von § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG – Alleinstehende in Sammelunterkünften haben Anspruch auf Regelbedarfsstufe 1
Leitsatz (Redakteur)
1. Alleinstehende in Sammelunterkünften haben Anspruch auf Regelbedarfsstufe 1
2.§ 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG ist verfassungskonform auszulegen.
3. Eine Vereinbarkeit mit dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG), insbesondere mit den prozeduralen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG), kann durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG in der Fassung vom 15.8.2019 angenommen werden. Die Anwendung der Bedarfsstufe 2 setzt als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Gemeinschaftsunterkunft untergebrachten Person voraus. Insoweit bedarf es der Prüfung im Einzelfall, ob eine „tatsächliche und nachweisbare finanzielle Beteiligung an der (gemeinsamen) Haushaltsführung“ vorliegt (vgl. BT-Drs. 18/9984, S. 84 zu § 8 (Regelbedarfsstufen)), also ob der Leistungsberechtigte mit anderen zusammenlebt und wirtschaftet (z.B. gemeinsame Einkäufe und Essenszubereitung) und hierdurch geringere Bedarfe etwa an Lebensmitteln, aber auch an Freizeit, Unterhaltung und Kultur bestehen. Zweifel gehen zulasten des Leistungsträgers nach dem AsylbLG (Träger der objektiven Beweislast) (Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG (Stand: 29.09.2020), Rn. 44 m. w. N.).
Quelle: sozialgerichtsbarkeit.de
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker