Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 10.12.2020 – Az.: S 42 AY 4026/20 ER

BESCHLUSS

S 42 AY 4026120 ER

In dem Rechtsstreit

  1. xxx,
  2. xxx,
  3. xxx,
  4. xxx,
  5. xxx,
  6. xxx,

— Antragsteller —

Prozessbevollmächtigter:
zu 1-6: Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Hildesheim OE 908/Rechtsangelegenheiten,
vertreten durch den Landrat,
Bischof-Janssen-Straße 31, 31134 Hildesheim

— Antragsgegner —

hat die 42. Kammer, des Sozialgerichts Hildesheim am 10. Dezember 2020 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:

  1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig und unter dem Vorbehalt Rückforderung privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII analog für die Zeit vom 14. September 2020 bis längstens zum 31. März 2021, falls nicht zuvor über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 10. September 2020 entschieden worden ist, unter Anrechnung für diesen Zeitraum bereits erbrachter Grundleistungen zu gewähren.
  2. Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
  3. Den Antragstellern wird für das Verfahren des ersten Rechtszuges Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Göttingen, bewilligt.
GRÜNDE
I.

Die Antragsteller erstreben im Wege der einstweiligen Anordnung die Gewährung von privilegierten Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) — Sozialhilfe — analog ab dem 14. September 2020.

Der 1977 geborene Antragsteller zu 1., seine Ehefrau, die 1982 geborene Antragstellerin zu 2., die am xx. xxx 2002, xx. xxx 2008, xx. xxx 2009 und xx. xxx 2014 geborenen Antragsteller zu 3. bis 6. und der am 28. März 2002 geborene Sohn xxx, der Antragsteller im Parallelverfahren S 42 AY 4025/20 ER ist, stammen nach eigenen Angaben aus dem Kosovo und reisten am 22. Mai 2015 in das Bundesgebiet ein. Die Antragsteller zu 1. und 2. gaben gegenüber der Landesaufnahmebehörde (LAB) Braunschweig an, kosovarischer Staatsangehörigkeit mit albanischen Sprachkenntnissen zu sein. Nach der Verteilung in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners waren sie durchgehend unter der Adresse „xxx in Hildesheim” gemeldet. Sie verfügten im streitigen Zeitraum weder über einsetzbares Einkommen noch über verwertbares Vermögen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 15. September 2015 die Asylanträge, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anträge auf Gewährung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet ab, stellte keine Abschiebungsverbote fest und forderte die Antragsteller auf, das Bundesgebiet zu verlassen. Andernfalls erfolge eine Abschiebung in den Kosovo. Das BAMF ging dabei davon aus, dass die Antragsteller kosovarische Staatsangehörige vom Volk der Roma seien.

Die Antragsteller waren zunächst im Besitz einer Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und sind seit November 2015 im Besitz einer Duldung gemäß § 60a AufenthG). Sie erhielten — soweit aus der Verwaltungsakte ersichtlich — laufend Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG.

Das Ausländeramt der Stadt Hildesheim wandte sich zunächst über Rechtsanwalt Peters als Bevollmächtigten des Asylverfahrens an die Antragsteller. Mit an den Antragsteller zu 1. gerichtetem Schreiben vom 25. September 2017 forderte die Stadt Hildesheim — nach Ablauf der Gültigkeit der Duldung – u.a. diesen und seine Ehefrau auf, persönlich vorzusprechen und gültige Nationalpasse oder Passersatzpapiere aller Familienmitglieder vorzulegen, wobei eine Belehrung über die ausländerrechtlichen Pflichten aus § 48 Absatz 1 und Absatz 3 sowie § 49 Absatz 2 AufenthG beigefügt war.

Nachdem es — nach dem Inhalt der Ausländerakte — nicht zu einer Vorsprache gekommen war, forderte die Stadt mit an den Antragsteller zu 1. gerichteten Schreiben vom 10. August 2018 diesen, die Antragstellerin zu 2. und den Sohn xxx auf, persönlich vorzusprechen sowie u.a. einen gültigen Nationalpass oder Personenstandsurkunden vorzulegen, wobei das Schreiben eine Belehrung über die ausländerrechtlichen Pflichten enthielt. Zu einer Vorsprache kam es nach dem Inhalt der Ausländerakte nicht.

Aus einem Vermerk in der Ausländerakte vom 02. Juli 2019 ergibt sich aus einer Mitteilung des LKA vom 30. Juni 2017, dass die Antragsteller nicht im Besitz der kosovarischen Staatsangehörigkeit seien, sondern eine mazedonische Staatsangehörigkeit vermutet werde. Aufgrund dessen änderte die Stadt Hildesheim die Staatszugehörigkeit der Antragsteller auf ungeklärt.

Mit an den Antragsteller zu 1. gerichtetem Schreiben vom 05. Juli 2019 forderte die Stadt diejenigen Antragsteller, die zum damaligen Zeitpunkt volljährig waren, auf, zu einer persönlichen Vorsprache zu erscheinen und u.a. einen Nationalpass bzw. einen Passersatz aller Familienmitglieder einzureichen. Das Schreiben enthielt eine Belehrung über die ausländerrechtlichen Pflichten. Nach einem Vermerk vom 22. August 2019 sei der Stadt aufgefallen, dass die Antragsteller in der Zeit von Dezember 2017 bis Juli 2018 nicht in Deutschland gewesen und eine Anmeldung aus Frankreich kommend erfolgt sei.

Ein Schreiben des Innenministeriums der Republik Serbien vom 30. Oktober 2013 gelangte im Jahre 2019 an die Stadt Hildesheim, nach der die Antragsteller nicht nach Serbien zurückgeführt werden könnten. Denn es könne eine serbische Staatsangehörigkeit nicht bestätigt werden. Nach einer Mitteilung der „Readmission Kosovo” vom 30. Juli 2013 habe die kosovarische Herkunft der Antragsteller nicht verifiziert werden können. Daraufhin füllten die Antragsteller zu 1. und 2. einen Fragebogen zur ldentitäts- und Staatsangehörigkeitsklärung aus, der Angaben zu den Eltern und Geschwistern enthielt.

Die Stadt Hildesheim forderte mit an die Antragstellerin zu 2. gerichtetem Schreiben vom 07. Oktober 2019 die Antragsteller zu 1. und 2. zu einer persönlichen Vorsprache auf, um u.a. einen gültigen Nationalpass oder Passersatz vorzulegen.

Mit Email vom 17. Oktober 2019 regte das LKA Niedersachsen eine Überprüfung dahingehend an, ob eine mazedonische Staatsangehörigkeit bestehe, nachdem es Absagen aus Kosovo und Serbien gegeben habe.

Mit an den Antragsteller zu 1. gerichteten Schreiben vom 07. Januar 2020 forderte die Stadt die Antragsteller u.a. nunmehr zu einer Vorsprache auf, um jeweils ein aktuelles biometrisches Passfoto vorzulegen, ohne die Einreichung eines Passpapiers zu verlangen. Mit Schreiben vom 2. April 2020 teilte die Stadt mit, dass Corona bedingt derzeit keine Vorsprachen möglich seien.

Die Stadt Hildesheim bewilligte den Antragstellern mit Bescheid vom 14. Mai 2020 Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG für die Zeit vom 01. Juni bis zum 31. August 2020 in Höhe von monatlich 2.461,05 Euro. Dagegen legten die Antragsteller am 29. Juli 2020 Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 14. August 2020 zurücknahmen.

Die Antragsteller legten am 04. September 2020 Widerspruch gegen die faktische Leistungsgewährung ein und begründeten diesen damit, dass sie Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 AsylbLG hätten. Die Stadt Hildesheim gewährte den Antragstellern mit Bescheid vom 10. September 2020 Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG für die Zeit vom 01. September bis zum 31. Dezember 2020 in Höhe von monatlich 2.478,05 Euro. Mit Schreiben vom 15. September 2020 erklärten die Antragsteller, dass sich der Widerspruch nunmehr gegen den Bescheid vom 10. September 2020 wende.

Zwischenzeitlich haben die Antragsteller am 14. September 2020 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt.

Sie tragen vor:

Die Antragsteller hätten Anspruch auf privilegierte Leistungen, weil sie bereits länger als 4 Jahre in Deutschland lebten und sich nicht rechtsmissbräuchlich verhalten hätten. Ein solches Verhalten sei den Ausländerakten nicht zu entnehmen. Die Antragsteller seien stets bereit gewesen, an der Passbeschaffung mitzuwirken. Jedoch wolle weder der Kosovo noch Serbien sie aufnehmen. In der kosovarischen Botschaft in der Schweiz hätten sie keine Pässe erhalten. Der Antragsgegner möge erläutern, welche Handlungsschritte die Antragsteller nunmehr vornehmen sollten, wobei sie weiterhin zur Mitwirkung bereit seien. Die schlichte Aufforderung zur Beibringung von Urkunden sei nicht zielführend, weil sie nicht über diese verfügten. Anlässlich eines Termins in der Ausländerbehörde der Stadt Hildesheim sei am 12. November 2020 das weitere Vorgehen besprochen worden. Die Antragsteller empfänden sich als staatenlos. Obgleich sie aus dem Kosovo kämen, hätten sowohl der Kosovo als auch Serbien und Nord-Mazedonien eine Rücknahme mangels Staatsangehörigkeit abgelehnt. Der Antragsteller zu 1. sei vor der Einreise 2015 niemals in Deutschland gewesen. Eine Identitätstäuschung liege nicht vor. Die Antragstellerin zu 2. sei keine Staatsbürgerin Nord-Mazedoniens, wie aus der Bescheinigung der Botschaft der Republik Nord-Mazedonien in Berlin vom 02. Dezember 2020 hervorgehe.

Die Antragsteller beantragen:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragsteller vom 04. September 2020 gegen die faktische Leistungsbewilligung ab 01. September 2020 in Gestalt des Bescheides vom 10. September 2020 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Er trägt vor:

Die Antragsteller mit ungeklärter Staatsangehörigkeit würden aufgrund fehlender Heimreisepapiere geduldet, nachdem der Kosovo eine Rücknahme abgelehnt habe. Sie wohnten in er ca. 62 m2 großen, in sich abgeschlossenen Wohnung in einer Gemeinschaftsunterkunft in Hildesheim und hätten die Dauer ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Sie seien seit 2015 zu persönlichen Vorsprachen mit dem Zweck der Klärung der Staatsangehörigkeit und Passbeschaffung nicht erschienen, obgleich sie mehrfach über ihre ausländerrechtlichen Pflichten belehrt worden seien. Auf keine der Aufforderungen sei eine Reaktion erfolgt. Allein die Behauptung, über keine Unterlagen zu verfügen, sei im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht rechtserheblich. Auch in der eidesstattlichen Versicherung sei keine eindeutige Angabe zur Staatsangehörigkeit enthalten. Die Klärung der Staatsbürgerschaft erfolge nicht im Ausschlussverfahren.

Der Antragsteller zu 1. hat am 04. November 2020 eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, in der im Wesentlichen erklärte, wahrheitsgemäße Angaben über seine Identität und Staatsangehörigkeit getätigt zu haben.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang nebst Ausländerakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

Nach § 86 b Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des I. Rechtzuges.

Voraussetzung für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Absatz 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 -). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruch und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997 – L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, Info also 2005, 3, 8).

Die Antragsteller haben sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt. Im Rahmen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung haben sämtliche Antragsteller zur Überzeugung der Kammer einen Anspruch auf privilegierte Leistungen glaubhaft gemacht.

Gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Die Antragsteller unterfallen als Inhaber einer Duldung gemäß § 60a AufenthG dem Anwendungsbereich des AsylbLG, wie sich aus § 1 Absatz 1 Nr. 4 dieses Gesetzes ergibt. Sie haben auch die 18-monatige Voraufenthaltszeit erfüllt und sich im streitigen Zeitraum ab dem 14. September 2020 im Bundesgebiet tatsächlich aufgehalten. Dies gilt zur Überzeugung der Kammer selbst für den Fall, dass die Antragsteller sich tatsächlich von Dezember 2017 bis Juli 2018 in Frankreich aufgehalten haben und dies als wesentliche Unterbrechung des Aufenthaltes im Bundesgebiet zu werten wäre.

Die Antragsteller haben aus Sicht des Gerichts die Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 5. Auflage 2014, § 2 AsylbLG, Rd. 22; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 19. Auflage 2015, § 2 AsylbLG, Rd. 20 m.w.N.). Es handelt sich bei der Prüfung des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens um ein anspruchsausschließendes (rechtshinderndes) Tatbestandsmerkmal (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2007 — B 9b AY 1/06 R -).

Rechtsmissbräuchlich handelt nach den Urteilen des BSG vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AS 1/07 R und B 8 AY 9/07 R) und 02. Februar 2010 (B 8 AY 1/08 R) derjenige, der über die Nichtausreise hinaus sich sozialwidrig unter Berücksichtigung des Einzelfalls verhält, wobei auf eine objektive und eine subjektive Komponente abzustellen ist. Erforderlich ist der Vorsatz bezogen auf eine die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung mit dem Ziel der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Das bloße Unterlassen einer freiwilligen Ausreise trotz Zumutbarkeit genügt in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2007 — B 9b AY 1/06 R -) nicht. Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte bereits mit Urteil vom 20. Dezember 2005 – L 7 AY 40/05 – festgestellt, dass das Ausnutzen einer Duldung nicht rechtsmissbräuchlich sei und ein weiteres Verhalten hinzutreten müsse.

Darüber hinaus setzt das BSG nicht als Tatbestandsmerkmal voraus, dass das missbilligte Verhalten für die Dauer des Aufenthaltes kausal sein müsse, sondern legt eine abstrakt-generelle Betrachtungsweise zugrunde. Demnach muss der Missbrauchstatbestand auch nicht aktuell andauern oder fortwirken. Eine Ausnahme wird für den Fall formuliert, dass aufenthaltsbeenden Maßnahmen während der gesamten Zeit des Aufenthalts aus Gründen, die der Leistungsberechtigte nicht zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Im Falle eines dauerhaften, vom Verhalten des Ausländers unabhängigen Vollzugshindernisses besteht somit eine Ausnahme von dieser typisierenden Betrachtungsweise.

Zum Verhalten des Ausländers hinzutreten muss nach der zitierten Rechtsprechung des BSG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten. Dabei dürfe sich der Leistungsberechtigte nicht auf einen Umstand berufen, welchen er selbst treuwidrig herbeigeführt habe. Der Pflichtverletzung muss in diesem Kontext im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzipes unter Berücksichtigung des Einzelfalles ein erhebliches Gewicht zukommen. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar und damit sozialwidrig ist, soll zum Ausschluss von privilegierten Leistungen führen (vgl. auch Cantzler, Handkommentar zum AsyIbLG, 1. Auflage 2019, § 2, Rd. 38). Nach der Rechtsprechung des BSG kann auch ein einmaliges Verhalten diese Rechtsfolge zeitigen. Rechtsmissbräuchliches Verhalten kann nicht durch eine zwischenzeitliche Integration ausgeräumt werden.

Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung unter anderem die Angabe einer falschen Identität oder die Vernichtung des Passes (BT-Drucks 15/420, Seite 121). Dabei erkennt das BSG als Ausnahmefall an, dass das Verhalten eine Reaktion oder vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei welchem um Asyl nachgesucht wird, darstellt. Darüber nennt das BSG im Urteil vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AY 1/07) auch die Weigerung an der Mitwirkung zur Passersatzbeschaffung als Grund für eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung, sofern eine gesetzliche Regelung für die Mitwirkungshandlung besteht.

Auf der subjektiven Seite setzt nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet Vorsatz voraus.

Dies zugrunde gelegt, haben die Antragsteller zu 1. und 2. sowie Antragstellerin zu 3. ab Vollendung des 18. Lebensjahres im Rahmen des im einstweiligen Rechtsschutz maßgeblichen Prüfungsmaßstabes nicht nachweisbar über ihre Identität getäuscht. Den Verwaltungsvorgängen, der Ausländerakte und dem Vorbringen des Antragsgegners im gerichtlichen Verfahren ist ein solcher Vorwurf nicht zu entnehmen. Objektive Anhaltspunkte für eine bewusste Identitätstäuschung sind nicht ersichtlich. Dass die Staaten Kosovo, Serbien und Nord-Mazedonien die jeweilige Staatsbürgerschaft der Antragsteller unter den angegebenen Identitäten nicht anerkannt haben, deutet — bei Fehlen weiterer tatsächlicher Anknüpfungspunkte — nicht darauf hin, dass die behaupteten Personalien unrichtig sind, sondern lässt allenfalls eine Spekulation in diese Richtung zu. Dies ist jedoch nicht ausreichend, um einen Rechtsmissbrauch im Sinne eines vorsätzlichen Handelns nachzuweisen, zumal die Leistungsbehörde die Beweislast für dieses anspruchsausschließende Kriterium trifft (vgl. Cantzler, in: Kommentar zum AsylbLG, 1. Auflage 2019, § 2, Rd. 28 m.w.N.).

Darüber hinaus liegt zur Überzeugung der Kammer kein gravierender Verstoß gegen die ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten vor, der sich auf die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet ausgewirkt hätte. Allgemein kann die Nichterfüllung konkret abverlangter ausländerrechtlicher oder asylrechtlicher Mitwirkungspflichten ein rechtsmissbräuchliches Verhalten darstellen (vgl. Urteil des BSG vom 17. Juni 2008 — B 8 AY 8/07 (Rd. 17) und B 8 AS 9/07 R (Rd. 15)). Diese Verpflichtung gilt dann nicht, wenn die Mitwirkungshandlung von vornherein aussichtslos oder dem Leistungsberechtigten nicht zumutbar ist (vgl. Cantzler aaO., § 41; Oppermann, in: jurisPK-SGB XIII AsylbLG, § 2, Rd. 65).

Im vorliegenden Einzelfall waren sämtliche Mitwirkungsaufforderung, (pauschal) einen Nationalpass oder Passersatzpapiere vorzulegen, von vornherein aussichtslos, weil sich der Ausländerakte entnehmen lässt, dass die Stadt Hildesheim von Anfang an von einer kosovarischen und hilfsweise serbischen Staatsangehörigkeit der Antragsteller ausgegangen ist, die sich aber nicht bestätigt haben. Daher war es von Anfang an zwecklos, Passpapiere dieser Länder zu verlangen, welche die Staatsangehörigkeit der Antragsteller nicht anerkannten. Das LKA Niedersachsen verfügte bereits im Juni 2017 über diese Kenntnis, die offenbar nicht an die zuständigen Ausländerbehörden weitergeleitet wurde. Der Staat Serbien hat ebenfalls bereits im Jahre 2013 die serbische Staatsangehörigkeit der Antragsteller verneint, was der Stadt Hildesheim offenbar erst 2019 bekannt wurde. Diese Sachlage bringen zur Überzeugung der Kammer der Vermerk der Ausländerbehörde vom 02. Juli 2019 und die Email des LKA Niedersachsen vom 17. Oktober 2019 (BI. 169 der Ausländerakte) auf den Punkt mit der behördlichen Konsequenz, dass in der Folgezeit die mazedonische Staatsangehörigkeit geprüft wurde. Im Rahmen dieser Prüfung haben die Antragsteller zu 1. und 2. aus Sicht der Kammer ausreichend mitgewirkt, indem sie einen entsprechenden Fragebogen mit umfassenden Auskünften über ihre Verwandtschaft ausfüllten. Diesem Umstand und der veränderten ausländerrechtlichen Situation scheint die Stadt Hildesheim auch mit dem ab den Antragsteller zu 1. gerichteten Schreiben vom 07. Januar 2020 Rechnung getragen zu haben. Denn nunmehr verlangte sie u.a. lediglich noch die Vorlage biometrischer Passfotos, nicht aber die Einreichung von Passpapieren. Es liegt die Vermutung nahe, dass damit die Zwecklosigkeit des ausländerbehördlichen Handelns in Bezug auf die Zielstaaten Kosovo und Serbien erkannt wurde.

Dass die Antragstellerin zu 1. nicht nord-mazedonische Staatsangehörige ist, steht mit der entsprechenden Erklärung der Botschaft der Republik Nord-Mazedonien vom 02. Dezember 2020 fest. Dass es zu diesem Befund kam, dürfte maßgeblich auf die Mitwirkung der Antragsteller zurückzuführen sein, so dass die Kammer — bei summarischer Prüfung — im Ergebnis keine gravierende Verletzung der Mitwirkungspflichten erkennen kann, welche sich auf die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet ausgewirkt hätte. Vielmehr dürfte es nunmehr der Ausländerbehörde der Stadt Hildesheim obliegen, Anhaltspunkte für eine anderweitige Staatsangehörigkeit der Antragsteller zu prüfen oder eine Prüfung zur Feststellung der Staatenlosigkeit einzuleiten.

Im Übrigen hätte der Antrag der Antragsteller zu 3. bis 6. selbst dann Erfolg, sofern die Eltern sich rechtsmissbräuchlich verhalten hätten. Denn § 2 AsylbLG verlangt eine „Selbstbeeinflussung” der Aufenthaltsdauer, wobei das Verhalten der gesetzlichen Vertreter aufgrund des höchstpersönlichen Charakters nicht zurechenbar ist (vgl. Urteil des BSG vom 17. Juni 2008 — B 8/9b AY 1/07 R -). Denn im streitigen Zeitraum kann bereits mangels Einsichtsfähigkeit aus Sicht der Kammer kein vorsätzlicher Rechtsmissbrauch vorgeworden werden, zumal sich die ausländerrechtlichen Mitwirkungsaufforderungen ausschließlich an ein Elternteil richteten, wobei die Kenntnis der Minderjährigen von den abverlangten Pflichten als fraglich erscheint. Gleiches gilt bezüglich der fehlenden Kenntnis für die Antragstellerin zu 3. ab Eintritt der Volljährigkeit. Denn ab dem 19. August 2020 wurde (offenbar auch Corona bedingt) keine ausländerrechtliche Mitwirkungsaufforderung unmittelbar an sie gerichtet.

Da die Antragsteller zu 1. und 2. als Ehepaar ohnehin der Regelbedarfsstufe 2 zuzuordnen sind, kommt es nicht darauf an, ob die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft erfolgt, die ebenfalls die Regelbedarfsstufe 2 bedingt. Auf die Regelbedarfsstufen der haushaltsangehörigen Antragsteller zu 3. bis 6. wirkt sich die Einstufung als Gemeinschaftsunterkunft im vorliegenden Einzelfall ebenfalls nicht aus.

Die Antragsteller haben im Ergebnis eine besondere Eilbedürftigkeit glaubhaft dargelegt. Diese ergibt sich aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen, auch wenn das prozessuale Verhalten mit verspäteter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung, nachdem das Gericht bereits mit drei Verfügungen die dringende Notwendigkeit derselbigen zur Glaubhaftmachung des Vortrages erläutert hatte, als Indiz zu werten ist, dass die Antragsteller selbst Rechtsschutzbegehren keine überragende Dringlichkeit zusprachen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

Den Antragstellern war aufgrund der Erfolgsaussicht gemäß §§ 73a SGG, 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu gewähren.

Gegen diesen Beschluss zu 1. ist gemäß §§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG die Beschwerde statthaft, weil die Beschwer des Antragsgegners 750,– Euro übersteigt. Zur Ermittlung des Streitwerts ist auf den Jahreszeitraum abzustellen (vgl. Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 17. August 2017 — L 8 AY 1/17 B ER -).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.