Amtsgericht Braunschweig – Beschluss vom 09.12.2020 – Az.: 33 b XIV 247/20 L

BESCHLUSS

33 b XIV 247/20 L 

09.12.2020

In der Beschwerdesache 

betreffend 

1)
xxx, 

Verfahrensbevollmächtigter: 
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen 

-Beschwerdeführer- 

2.) 
Polizeiinspektion Braunschweig 
Friedrich-Voigtländer-Str. 41 , 
38104 Braunschweig 

– Beteiligte zu 2) — 

wird der Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 12.09.2020 (33b XIV 247/20) abgeholfen. 

Der Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 12.09.2020 (33b XIV 247/20) wird aufgehoben. 

Es wird festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers durch die Beteiligte zu 2) am 12.09.2020 rechtswidrig war.

Die Kosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben.

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeführers trägt die Beteiligte zu 2). 

Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt. 

GRÜNDE

Die Beschlussfassung beruht auf § 18 Abs. 1 Ziffer 2 NPOG; danach kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, wenn diese Maßnahme unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern. 

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. 

In dem o.g. Beschluss wird festgestellt, der Betroffene hätte ohne das Eingreifen der Polizeibeamten eine Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung begangen, nämlich Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und schweren Landfriedensbruch, ohne dass konkrete Handlungen des Betroffenen, aus denen sich ein zurückliegendes oder unmittelbar bevorstehendes strafbares Verhalten ergibt, ausgeführt werden. Allein die Bezugnahme auf den „Bericht der Polizei” genügt nicht. 

Zumal sich weder dem Kurzbericht noch dem Sammelbericht der Polizei, welcher dem Antrag auf richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit der polizeilichen Anordnung einer Ingewahrsamnahme beigefügt waren, eine individuelle, konkrete Handlung des Betroffenen entnehmen lassen. 

Während der Kurzbericht bzgl. des Sachverhalts auf den Sammelbericht Bezug nimmt, schildert der Sammelbericht das Verhalten einer Gruppe von ca. 30 Personen, aus der heraus es einer Gruppe von 5 Personen gelungen sei, durch ein von Polizeikräften zugehaltenes Tor am Ausgang einer Parzelle des Kleingartenvereins Weinberg auf die Straße zu gelangen. Weder im Kurz- noch im Sammelbericht wird ausgeführt, ob der Betroffene Teil aus 5 Personen bestehenden Gruppe war. 

Ein im Sammelbericht zu „4. Sachverhalt” aufgeführter „Ergänzungsbogen SV” befindet sich nicht bei der Akte. 

Mangels konkreter Tathandlung des Betroffenen kann nicht beurteilt werden, ob die Fortsetzung einer Straftat oder die Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit unmittelbar bevorstand. 

Nach der Rechtsprechung ist der Begriff der unmittelbar bevorstehenden Begehung einer Straftat vor dem Hintergrund des hohen Ranges der Freiheit der Person auszulegen (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 1.06.2020, 3 W 67/20 mit weiteren Nachweisen). Er ist gleichzusetzen mit „unmittelbar bevorstehende Gefahr” oder „gegenwärtige Gefahr” im Sinne des § 2 Nr. 2 NPOG. Dementsprechend sind besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts zu stellen (OLG Celle, Beschluss vom 03.07.2017 — 22 W 4/17). Es müssen nachvollziehbare bestimmte Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass der Schaden sofort oder in allernächster Zeit und zudem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird (OLG Braunschweig, AAO, Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26.02.1974 – IC31.72-NJW 1974 807). 

Vorliegend lagen bei objektiver Betrachtung im Zeitpunkt der Anordnung der Ingewahrsamnahme keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Begehung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit durch den Beschwerdeführer in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Es wurde weder mitgeteilt, ob der Betroffene zu der Gruppe gehörte, welche durch das Tor auf die Straße xxx gelangten oder zu denjenigen gehörte, welche eine Holzlatte mitführten. Ob er bereits Tathandlungen vorgenommen und Straftatbestände – hier Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – verwirklicht hat, konnte auf Grundlage der Polizeiberichte nicht festgestellt werden. 

Selbst die Vollendung solcher Taten für sich genommen hätte noch keine Ingewahrsamnahme gerechtfertigt. Entscheidend ist, ob mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, dass der Betroffene, nachdem Pfefferspray eingesetzt und er im Kopfhaltegriff von Polizeibeamten festgelegt worden war, nach Abschluss der strafprozessualen Maßnahmen weitere Straftaten und Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit begehen oder fortsetzen würde. Dafür liegen im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte vor. Die  Gruppenzugehörigkeit allein reicht nicht aus. Es ergeben sich aus dem geschilderten Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte, dass es sich bei den Teilnehmern um eine zusammengehörige Gruppe handelt, die zielgerichtet und koordiniert vorgeht und von der auch nach Abschluss der prozessualen Maßnahmen weitere unfriedliche gemeinschaftliche Aktionen zu erwarten waren. 

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 81 FamFG, 19 Abs. 4 S. I NSOG. Bei der gegebenen Sachlage entspricht es der Billigkeit, der Beteiligten zu 2) die der Beschwerdeführerin entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen. 

Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf den §§ 36 Abs. 3, 61 GNotKG.