Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 22.12.2020 – Az.: S 42 135/20

URTEIL

S 42 AY 135/20

In dem Rechtsstreit

xxx, 

– Kläger – 

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Beklagter – 

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 22. Dezember 2020 durch den Richter am Sozialgericht xxx sowie die ehrenamtlichen Richterinnen xxx und xxx für Recht erkannt:

  1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Februar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. April 2020 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 21. Februar bis zum 31. März 2020 Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG zu gewähren.
  2. Der Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 
  3. Die Berufung wird nicht zugelassen.
TATBESTAND

Der Kläger erstrebt die Gewährung von Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) auch für die Zeit vom 21. Februar bis zum 31. März 2020.

Der 1999 geborene Kläger ist serbischer Staatsbürger und reiste am 12. Februar 2020 in das Bundesgebiet ein. Er zog zu seiner 1996 geborene Ehefrau und Zeugin xxx, die ebenso wie das am 03. September 2019 geborene Kind serbische Staatsangehörige ist und in einer Wohnung in der xxx in xxx wohnt. Das Ehefrau und das Kind beziehen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) — Grundsicherung für Arbeitssuchende — (vgl. Bescheid des Jobcenters des Landkreises Göttingen vom 12. Dezember 2019). Der Kläger verfügte im streitigen Zeitraum weder über anrechenbares Einkommen noch über verwertbares Vermögen.

Der Kläger und die Zeugin suchten am 21. Februar 2020 das Sozialamt der Stadt xxx zu einer Vorsprache auf. Nach dem Vermerk des Sachbearbeiters und Zeugen, Herrn xxx, vom 27. März 2020 hätten die Eheleute vorgesprochen, um zu erfragen, welche Möglichkeiten des Leistungsbezuges es für den Kläger gebe. Er habe aufgrund einer Nachfrage beim Ausländeramt erfahren, dass der Kläger keinen Aufenthaltsstatus habe und sich dringend mit der Ausländerbehörde in Verbindung setzen solle. Er habe daraufhin die Voraussetzungen der Leistungserbringung nach dem AsylbLG erläutert, woraufhin sich die Eheleute bedankt hätten und angegeben hätten, sich umgehend einen Termin der Ausländerbehörde zu bemühen. Es sei kein Leistungsantrag gestellt und daher auch nicht abgelehnt worden, wobei auch kein Antragsformular gefordert worden sei.

Der Kläger beantragte am 24. Februar 2020 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. hilfsweise einer Fiktionsbescheinigung oder einer Duldung und erklärte, dass er zur Volksgruppe der Roma zähle.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers legte mit Schreiben vom 23. März 2020 Widerspruch gegen die aus seiner Sicht mündliche Ablehnung von Leistungen am 21. Februar 2020 durch den Zeugen xxx. Der Kläger habe in Begleitung seiner Ehefrau Leistungen nach dem AsylbLG beantragt, was Herr xxx mündlich abgelehnt habe. Dieser habe erklärt, dass der Kläger als Tourist hier sei und daher keinen Anspruch auf Leistungen habe, zumal er weder einen Aufenthaltstitel noch eine Duldung habe. Hingegen sei aus Sicht des Klägers eine Duldung nicht Leistungsvoraussetzung, weil gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 5 AsylbLG die vollziehbare Ausreisepflicht genüge. Sofern er vor Ablauf der 90-Tagesfrist für visumsfreie Einreisen nicht vollziehbar ausreisepflichtig sei, bestehe ein Leistungsanspruch nach dem SGB XII bzw. bei verfassungskonformer Auslegung nach dem AsyIbLG. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Juli 2012 —1 BvL — dürfe keine Leistungslücke zwischen den verschiedenen Fürsorgesystemen bestehen, weil die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren sei. Der Kläger sei einkommens- und vermögenslos.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06. April 2020 zurück und führte zur Begründung an, dass der Kläger vor seiner Einreise am 12. Februar 2020 ausweislich seines Reisepasses mehrfach zwischen xxx und seinem Wohnsitz im Ausland gependelt sei. Der Widerspruch sei unzulässig, weil er sich nicht gegen einen Verwaltungsakt richte. Aus dem Vermerk des Zeugen gehe hervor, dass der behauptete mündliche Verwaltungsakt nicht ergangen sei. Vielmehr habe es sich um ein reines Informationsgespräch gehandelt, in dessen Rahmen der Kläger weder den Willen zu einer unmittelbaren Stellung des Leistungsantrages geäußert habe noch ein entsprechendes Antragsformular angefordert oder ausgegeben worden sei. Die Äußerungen des Zeugen beinhalteten keine Setzung einer Rechtsfolge. Der Widerspruchsbescheid trägt ausweislich Blatt 138 der Verwaltungsakte einen „Ab-Vermerk” vom 04. Mai 2020.

Nach Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes (S 42 AY 84/20 ER) und einem schriftlichen Leistungsantrag vom 31. März 2020, der dem Beklagten am Folgetag zuging, bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 18. Mai 2020 Grundleistungen gemäß §§ 3, 3 a AsylbLG für die Zeit vom 01. April bis zum 30. September 2020, und zwar vorschussweise bis zur endgültigen Abklärung der Aufenthaltsberechtigung.

Der Kläger hat am 08. Juni 2020 Klage gegen den seinem Prozessbevollmächtigten ausweislich des Eingangsstempels am 07. Mai 2020 zugegangenen Widerspruchsbescheides erhoben.

Er trägt zur Begründung der Klage – in der Gesamtschau mit dem Vorbringen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und der Widerspruchsbegründung – vor:

Die Zeugin habe bei der Vorsprache am 21. Februar 2020 eindeutig zusammen mit dem Kläger erklärt, dass dieser Leistungen beantragen wolle. Dieses Vorbringen stelle einen Antrag im Sinne von § 22 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) bzw. § 16 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) — Allgemeiner Teil — dar. Der mündlich gestellte Antrag sei mündlich von Herrn xxx abgelehnt worden, wobei unerheblich sei, ob dieser im Innenverhältnis dazu befugt war. Es sei auch nicht angegeben worden, dass der Kläger mit einem Touristenvisum eingereist sei, weil er als serbischer Staatsbürger visumsfrei einreisen könne. Folglich habe auch kein Aufenthaltsstatus ermittelt werden können.

Der Beklagte hat mit Bescheid vom 07. Dezember 2020 den Antrag vom 21. Februar 2020 für die Zeit bis zum 31. März 2020 abgelehnt und zur Begründung angeführt, dass gemäß § 1 AsylbLG keine Leistungsberechtigung bestanden habe. Denn der Kläger sei zum Zeitpunkt der Antragstellung weder geduldet noch vollziehbar ausreisepflichtig gewesen, weil er als serbischer Staatsbürger für 90 Tage visumsfrei eingereist sei. Ein Asylantrag sei bis zum 01. April 2020 nicht gestellt worden.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des mündlichen Bescheides vom 21. Februar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. April 2020 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 21. Februar bis zum 31. März 2020 Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG im gesetzlichen Umfang zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen xxx und xxx zu den Umständen der Vorsprache am 21. Februar 2020 bei der Stadt xxx.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte zum Verfahren S 42 AY 84/20 ER und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage hat Erfolg.

Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage erhobene Klage ist zulässig. Denn der Beklagte hat am 21. Februar 2020 zur Überzeugung der Kammer einen Verwaltungsakt erlassen. Gemäß § 35 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) Satz 1 ist Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Die Entscheidung über die Ablehnung der Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG stellt einen Verwaltungsakt dar. Zur Beurteilung der Verwaltungsaktqualität behördlichen Handelns ist auf die Perspektive des objektivierten Empfängerhorizonts abzustellen. Die Beweisaufnahme zur Vorsprache des Klägers am 21. Februar 2020 beim Zeugen xxx hat zur Überzeugung der Kammer ergeben, dass dessen Anliegen, Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten, nicht entsprochen wurde. Der Kläger und die Zeugin xxx haben übereinstimmend den Verlauf der Vorsprache mit der Rücksprache des Zeugen xxx beim Ausländeramt und die einzige Motivation, Leistungen zu beantragen, geschildert. Die Klärung der aufenthaltsrechtlichen Situation bildete nicht das Anliegen der Vorsprache. Als sie den Raum wieder betraten, wurde ihnen erklärt, dass der Kläger keine Leistungen erhalten könne, weil sich dies offenbar aus dem Aufenthaltsstatus ergebe. Aus dem objektiven Empfängerhorizont lag somit eine Leistungsablehnung vor, auch wenn der Zeuge xxx im Innenverhältnis nicht befugt gewesen sein mag, eine solche Entscheidung zu treffen. Diese Verfügung muss sich jedoch der Beklagte als Rechtsträger zurechnen lassen. Im Übrigen lagen aus Sicht des Zeugen auch sämtliche entscheidungserheblichen Tatsachen vor, um eine Entscheidung über die Leistungsbewilligung treffen zu können. Hierzu passt, dass offenbar die Einkommens- und Vermögensverhältnisse — mangels Relevanz — nicht abgefragt wurden. Ob der Zeuge im Außenverhältnis eine Entscheidung überhaupt treffen wollte, ist nicht relevant, weil nach außen der Eindruck der Entscheidung des Leistungsgesuchs durch hoheitliches Handelnd entstanden ist. Hierfür spricht auch die sich unmittelbar anschließende Rücksprache des Klägers mit seinem Prozessbevollmächtigten, der dann Widerspruch einlegte. Aufgrund der fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung galt für den Widerspruch die Jahresfrist.

Die Klage ist auch begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 21. Februar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. April 2020 erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten. Der Bescheid vom 07. Dezember 2020 ist gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Klageverfahrens geworden, nachdem feststeht, dass am 21. Februar 2020 ein mündlicher Verwaltungsakt erlassen wurde.

Der verheiratete Kläger hat zur Überzeugung der Kammer in der streitigen Zeit Anspruch auf Gewährung von Grundleistungen gemäß §§ 3, 3a Absatz 1 Nr. 2b und Absatz 2 Nr. 2b AsylbLG. Ein Anspruch auf privilegierte Leistungen besteht nicht, weil er die 18-monatige Voraufenthaltszeit mit der Einreise am 12. Februar 2020 nicht erfüllt hat.

Der im streitigen Zeitraum einkommens-, vermögenslose und sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhaltende Kläger ist leistungsberechtigt gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 5 AsylbLG, weil er in jener Zeit vollziehbar ausreisepflichtig war. Er ist — aufgrund der vertraglichen Bestimmungen zwischen Serbien und Deutschland – legal ohne Visum eingereist und stellte am 24. Februar 2020 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, einer Fiktionsbescheinigung und einer Duldung. Er war gemäß § 58 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) grundsätzlich zur Ausreise verpflichtet, weil er über keinen Aufenthaltstitel verfügte. Gemäß § 58 Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist die Ausreisepflicht vollziehbar, wenn der Ausländer noch nicht die erstmalige Erteilung des erforderlichen Aufenthaltstitels oder noch nicht die Verlängerung beantragt hat oder trotz erfolgter Antragstellung der Aufenthalt nicht nach § 81 Absatz 3 als erlaubt oder der Aufenthaltstitel nach § 81 Absatz 4 nicht als fortbestehend gilt. Die Tatbestandsvoraussetzungen der 3. Alternative liegen aus Sicht der Kammer im vorliegenden Einzelfall vor, so dass eine Leistungsberechtigung nach dem SGB XII nicht zu prüfen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, weil hier die Beschwer des Beklagten unterhalb des Schwellenwertes von 750,– Euro liegt. Die Berufung wird nicht zugelassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und nicht von einer Entscheidung des Landessozialgerichtes, des Bundessozialgerichtes, des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe oder des Bundesverfassungsgerichtes abweicht sowie auf dieser Abweichung beruht.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.