Verwaltungsgericht Kassel – Beschluss vom 02.02.2021 – Az.: 4 L 177/21.KS

BESCHLUSS

In dem Verwaltungsstreitverfahren

des Herrn xxx,

Antragstellers,

bevollmächtigt:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, – 0056/21 –

gegen

den Werra-Meißner-Kreis, vertreten durch den Kreisausschuss,
Bremer Straße 10 a, 37269 Eschwege,

Antragsgegner,

wegen Ausländerrecht

hat das Verwaltungsgericht Kassel – 4. Kammer – durch

Richterin am VG xxx als Vorsitzende,
Richter am VG xxx,
Richter Dr. xxx

am 2. Februar 2021 beschlossen:

Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers vom 01.02.2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 08.01.2021 (Az. 4 K 178121.KS) aufschiebende Wirkung hat. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.

Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Dem Antragsteller wird für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe ohne Verpflichtung zur Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstr. 55, 37073 Göttingen beigeordnet. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfolgt mit der Maßgabe, dass Kosten, die bei einer Beiordnung eines im Bezirk des Verwaltungsgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts oder einer dort niedergelassenen Rechtsanwältin nicht entstanden wären, nicht zu erstatten sind (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 3 ZPO).

GRÜNDE

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 08.01.2021 anzuordnen, ist unzulässig, obgleich im vorliegenden Fall gemäß § 16a Abs. 1 HessAGVwGO i.V. mit Ziffer 2.6 der Anlage zu § 16a HessAGVwGO ein Vorverfahren nach § 68 VwGO entfällt und die erhobene Klage daher das gegebene Rechtsmittel ist. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen, geht jedoch ins Leere und es fehlt dem Antragsteller das erforderliche Rechtsschutzinteresse, weil die Klage gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung entfaltet. Diese entfällt nämlich nicht nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwG() i.V. mit § 2 Abs. 5 Hess. Landesaufnahmegesetz (LAG). Danach hat vielmehr allein die Klage gegen die Zuweisungsverfügung keine aufschiebende Wirkung, hingegen nicht jedwede Klage, einen Rechtsstreit nach dem Hess. LAG betreffend. Da es sich beim vorliegenden Streitgegenstand jedoch nicht um eine Zuweisungsentscheidung, sondern um eine Verlegung in eine andere Unterkunft handelt, hat die Klage daher in Ermangelung einer abweichenden gesetzlichen Regelung aufschiebende Wirkung, weil der Antragsgegner auch nicht den Sofortvollzug angeordnet hat.

Den Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, legt das Gericht jedoch unter Berücksichtigung des zum Ausdruck gebrachten Rechtsschutzbegehrens gemäß § 122 Abs. 1, § 88 VwGO dahin aus, dass er als Minus den Antrag enthält, in analoger Anwendung des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO festzustellen, dass die Klage aufschiebende Wirkung hat. Der so verstandene Antrag hat Erfolg.

Seine Zulässigkeit ergibt sich daraus, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebietet, bei einer drohenden faktischen Vollziehung trotz Klageerhebung vorläufigen Rechtsschutz analog § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren. Ein solcher Rechtsschutz ist erforderlich, wenn eine Behörde trotz eingetretener aufschiebender Wirkung eines Rechtsbehelfs mit dem Vollzug des angegriffenen Verwaltungsakts droht, zu dessen Vollzug ansetzt oder einen begonnenen Vollzug fortsetzt.

So liegt der Fall hier. Es ist zu befürchten, dass der Antragsgegner seine Verfügung vom 08.01.2021 ungeachtet der gegen ihn erhobenen Klage vollziehen wird. Denn er geht anscheinend davon aus, dass diese Verfügung sofort vollziehbar ist und der Antragsteller muss damit rechnen, dass alsbald Vollzugsmaßnahmen ergriffen werden. Denn die ihm gesetzte Frist, die bislang bewohnte Unterkunft zu räumen, ist am 01.02.2021, also gestern, abgelaufen und der Antragsgegner hat für den Fall der Zuwiderhandlung für den Vollzug seiner Räumungsanordnung die Zwangsräumung angekündigt. Ferner hat er in seiner Antwort auf den offenen Brief der Bewohnerinnen und Bewohner der streitbefangenen Gemeinschaftsunterkunft mitgeteilt, dass das Mietverhältnis über diese Liegenschaft mit Ablauf des 31.03.2021 ende. Dieses kurze Zeitfenster zeigt, dass zu besorgen ist, dass der Beklagte Vollzugsmaßnahmen ergreift, bevor über die Klage gegen seine Verfügung vom 08.01.2021 entschieden worden ist.

Auch wenn hierzu in diesem Verfahren kein Anlass besteht, wird vor dem Hintergrund des bestehenden Zeitdrucks zur Vermeidung eines weiteren Eilverfahrens vorsorglich zur Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung des Antragsgegners auf folgendes hingewiesen:

Soweit gemäß § 3 Abs. 2 Hess. LAG die nach § 1 Hess. LAG von den Landkreisen und Gemeinden aufzunehmenden und unterzubringenden Personen keinen Anspruch auf Unterbringung in einer bestimmten Unterkunft haben und der örtlich zuständige Kreisausschuss oder den Gemeindevorstand die Unterbringung in einer anderen Unterkunft oder eine Verlegung innerhalb der Unterkunft anordnen kann, handelt es sich bei letzterem zur Überzeugung des Gerichts nicht nur um die Regelung der Statthaftigkeit, den Betroffenen anderweitig-unterzubringen, sondern um eine Befugnis, für deren Ausübung behördliches Ermessen auszuüben ist. Die auf § 3 Abs. 2 Satz 2 Hess. LAG gestützte Entscheidung ist daher gemäß § 114 Satz 1 VwGO einer gerichtlichen Überprüfung (nur) dessen zugänglich, ob zum einen die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind und die Behörde ggf. erkannt hat, dass ihr Ermessen eingeräumt war (also kein Ermessensnichtgebrauch vorliegt), ob die Behörde von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (also kein Ermessensfehlgebrauch vorliegt) und ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten worden sind (also keine Ermessensüberschreitung vorliegt).

Soweit die Umsetzungsentscheidung begründet werden muss, genügt es mit Blick auf die weitreichende Organisationsfreiheit der Kommunen, dass die allgemeinen Begründungsanforderungen nach § 39 Abs. 1 Hess. VwVfG erfüllt werden, wonach die für die Ermessensentscheidung leitenden Gesichtspunkte schriftlich niederzulegen sind. Diese Erwägungen können nach § 114 Satz 2 VwGO zwar im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzt, aber nicht nachgeholt und damit erstmals ausgeübt werden.

Diese Maßstäbe zugrunde gelegt muss sich der Antragsgegner entgegenhalten lassen, dass sein Bescheid keinerlei Ausführungen zu seinen Ermessenserwägungen enthält. Die für die Auswahl der neuen Unterkunft maßgeblichen Umstände werden nicht ausgeführt. Aufgrund dieser mangelhaften Begründung genügt die angefochtene Verfügung indes nicht den sich für eine Ermessensentscheidung aus § 39 Abs. 1 Hess. VwVfG ergebenden Anforderungen. Insoweit sei vorsorglich noch angemerkt, dass dieser Begründungsmangel nur geheilt werden kann (§ 45 Abs. 1 Nr. 2, § 114 VwGO), wenn sich aus der Behördenakte hinreichend ergibt, dass es sich tatsächlich nur um einen Begründungsmangel und nicht um einen weitgehenden Ermessensausfall handelt. Da der Umstand, dass die Gemeinschaftsunterkunft geschlossen wird, hinsichtlich der nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Hess. LAG zu treffenden Einzelfallentscheidungen keinen Entscheidungsspielraum lässt, dürfte es hinsichtlich des Entschließungsermessen keiner weitergehenden Ausführungen bedürfen, doch gilt dies nicht hinsichtlich des Auswahlermessens, also für die Frage, in welche andere Unterkunft die Verlegung erfolgen soll. Eine ermessensfehlerfreie Entscheidung erfordert hier, dass der jeweils Betroffene angehört und ihm die Möglichkeit gegeben wird, seine Belange darzulegen. Diese müssen dann ihrem Gewicht entsprechend in die Erwägungen einbezogen und gegen die Möglichkeiten, die der Kommune offenstehen, abgewogen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.

Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist zu entsprechen, weil der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung auch nicht ratenweise aufbringen kann und die angestrebte Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO i. V. mit § 166 VwGO).

Der Streitwert wird gemäß §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 2.500,00 EUR festgesetzt. Das Gericht hat in Ermangelung ausreichender tatsächlicher Anhaltspunkte für die Bemessung der wirtschaftlichen Bedeutung der Sache für den Antragsteller für die Hauptsache den Auffangstreitwert in Höhe von 5.000,00 EUR zugrunde gelegt und diesen für das Eilverfahren im Hinblick auf die Vorläufigkeit des hier begehrten Rechtsschutzes halbiert.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.