Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Beschluss vom 11.02.2021 – Az.: L 8 AY 76/20 B ER

BESCHLUSS

L 8 AY 76/20 B ER
S 27 AY 4020/20 ER Sozialgericht Hildesheim

In dem Beschwerdeverfahren

xxx,

– Antragsteller und Beschwerdeführer –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Hildesheim, vertreten durch den Landrat,
Bischof-Janssen-Straße 31, 31134 Hildesheim

– Antragsgegner und Beschwerdegegner –

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 11. Februar 2021 in Celle durch die Richter xxx und xxx sowie die Richterin xxx beschlossen:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. September 2020 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig vom 1.11.2020 bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 29.10.2020 gegen die konkludente Leistungsbewilligung für November 2020 und den Bescheid vom 27.10.2020, längstens bis zum 31.5.2021, Leistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII nach der Regelbedarfsstufe 1 unter Anrechnung der für diesen Zeitraum bereits erbrachten Leistungen zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat 7/10 der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam, Göttingen, bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.

GRÜNDE
I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes höhere Leistungen nach dem AsylbLG.

Der Antragsteller wurde nach eigenen Angaben im April 1999 in Mitrovica (damals Jugoslawien, heute Republik Kosovo) geboren. Wegen des Kosovo-Krieges flüchteten seine Eltern mit ihm aus dem Kosovo. Zuletzt lebten der Antragsteller, seine Eltern (Vater und Stiefmutter) und seine im Zeitraum von 2002 bis 2014 geborenen fünf Geschwister für ca. drei Jahre in der Schweiz, bevor sie im Mai 2015 nach Deutschland eingereist sind. Die Familie gehört dem Volk der Roma an. Die Eltern gaben an, sie und die Kinder seien kosovarische Staatsangehörige mit albanischen Sprachkenntnissen. Die Asylanträge der Familie wurden unter Androhung der Abschiebung in den Kosovo als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Bescheide betreffend den Antragsteller vom 20.10.2015 und betreffend die restliche Familie vom 15.9.2015). Rechtsmittel blieben erfolglos. Der Antragsteller und seine Familie werden seither gemäß § 60a AufenthG geduldet. Sie sind in dem von der Stadt Hildesheim für die Unterbringung von Leistungsempfängern nach dem AsylbLG und obdachloser Personen (vorwiegend Familien) angemieteten Gebäude „Senkingstraße 10a“ in Hildesheim untergebracht und beziehen Grundleistungen nach dem AsylbLG. Der Antragsteller lebte zunächst gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in einer abgeschlossenen ca. 62 qm großen Wohneinheit, seit Mitte Oktober 2020 zusammen mit seinem Bruder xxx in einer anderen Wohneinheit. Beide Wohneinheiten verfügen über möblierte Zimmer sowie Küche bzw. Kochzeile und Bad.

Wegen des ausländerrechtlich relevanten Sachverhalts wird auf die ausführliche Darstellung in dem die (mit Ausnahme des Bruders Bernardo) übrigen Familienmitglieder betreffenden Beschluss des Senats vom 4.2.2021 – L 8 SO 118/20 B ER – verwiesen.

Die für die Antragsgegnerin handelnde Stadt Hildesheim bewilligte dem Antragsteller mit Bescheid vom 16.4.2020 Leistungen nach §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG für den Zeitraum vom 1.6. bis 31.10.2020.

Am 29.7.2020 erhob der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers in der Annahme, dem Antragsteller würden durch die monatlichen Auszahlungen ab dem 1.3.2020 die Leistungen konkludent bewilligt, Widerspruch gegen die (konkludente) Leistungsbewilligung. Am gleichen Tage hat er bei dem Sozialgericht (SG) Hildesheim den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Es seien Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren und es sei nicht die Regelbedarfsstufe 2, sondern die Regelbedarfsstufe 1 anwendbar.

Im Laufe des Eilverfahrens hat der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers den Widerspruch vom 29.7.2020 zurückgenommen und am 13.8.2020 bei der Stadt Hildesheim einen Antrag nach § 44 SGB X auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 16.4.2020 gestellt. Der Antragsgegner hat erwidert, es liege eine bindende Entscheidung über die Leistungsgewährung vor. Die besonderen Voraussetzungen einer ausnahmsweisen einstweiligen Anordnung im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 SGB X seien offensichtlich nicht erfüllt.

Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 10.9.2020 abgelehnt. Für ein Begehren, dass bereits mit bestandskräftigen Verwaltungsakt abgelehnt worden sei, könne kein Anordnungsanspruch bestehen. Durch die Bestandskraft stehe fest, dass der Antragsgegner dem Antragsteller die begehrten Leistungen nicht zu gewähren habe. Etwas Anderes könne nur der Fall sein, wenn hinsichtlich des bestandskräftigen Bescheides ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X anhängig sei und die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides nach § 44 SGB X unzweifelhaft vorlägen, der Bescheid also offensichtlich rechtswidrig sei. Anderenfalls sei der Bestandskraft des Bescheides im Eilverfahren Vorrang einzuräumen. Es müsse also glaubhaft gemacht worden sein, dass massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse bestehen (Burkiczak in jurisPK-SGG, 1. Auflage, Stand: 07.09.2020, § 86b SGG Rn. 340, 356). Hier sei durch den bestandskräftigen Leistungsbescheid des Antragsgegners vom 16.4.2020 das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten verbindlich geregelt. Der Antragsteller habe nicht vorgetragen und somit auch nicht glaubhaft gemacht, einen massiven Eingriff in seine soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf seine Lebensverhältnisse erlitten zu haben. Allein das Vorliegen der zeitlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG begründe nicht das Glaubhaftmachen eines Anordnungsanspruchs. Darüber hinaus sei der streitgegenständliche Leistungsbescheid auch nicht offensichtlich rechtswidrig. Dem Antragsteller stehe eine abgeschlossene vollmöblierte, mit einer Küche inklusive Kühlschrank sowie Waschmaschine ausgestattete Wohnung zur Verfügung, Handtücher und Bettwäsche würden als Erstausstattung zur Verfügung gestellt, zudem werde die Bettwäsche alle zwei Wochen ausgetauscht. Konkrete Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit des bestandkräftigen Leistungsbescheides habe der Antragsteller nicht vorgetragen.

Der Antragsteller hat am 14.9.2020 Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt.

Im Laufe des Beschwerdeverfahrens bewilligte die Stadt Hildesheim dem Antragsteller mit Bescheid vom 27.10.2020 für den Zeitraum vom 1.12.2020 bis zum 31.5.2021 wiederum Grundleistungen nach §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG. Die Grundleistungen für November 2020 überwies sie ohne Bescheid auf das Bankkonto des Antragstellers. Gegen die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 1.11.2020 bis zum 31.5.2021 erhob der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Schriftsatz vom 29.10.2020 Widerspruch.

Der Antragsteller trägt zur Beschwerdebegründung im Wesentlichen vor, die 18-Monatsfrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG sei überschritten. Es gebe auch keine Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch. Wie sich unter Berücksichtigung des eine vergleichbare Wohnung in derselben Unterkunft betreffenden Beschlusses des SG Hildesheim vom 5.10.2020 – S 42 AY 4021/20 ER – ergebe, wohne er mit seiner Familie bzw. mit seinem Bruder in einer abgeschlossenen Wohnung, sodass nicht von einer Unterbringung in einer Sammel- oder Gemeinschaftsunterkunft ausgegangen werden könne und daher Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren seien.

Der Antragsgegner hält den angegriffenen Beschluss für zutreffend. Der Leistungsbescheid vom 16.4.2020 sei nicht offensichtlich rechtswidrig. Der Anwendung der Regelbedarfsstufe 2 stehe nicht entgegen, dass der Antragsteller in einer abgeschlossenen und nur von ihm und den anderen Familienmitgliedern bzw. seinem Bruder genutzten Wohnung lebe. Die in dem Leistungsverzeichnis der Gemeinschaftsunterkunft aufgeführten Leistungen des Betreibers wie z.B. die Ausstattung der Wohnungen, Reparaturen, Reinigungsleistungen inklusive Fenstern, Freizeitangebote, Aufenthaltsräume, Waschdienste (Bettwäsche) usw. rechtfertigten es, von Synergien und Einsparungen in der Gemeinschaftsunterkunft auszugehen. Auch – wie hier – zusammenhängende Räumlichkeiten innerhalb einer Einrichtung gehörten zur Gemeinschaftsunterkunft und seien nicht „Wohnungen“. Zudem würden bei Berücksichtigung einer höheren Regelsatzleistung wegen der in der Einrichtung erbrachten Sachleistungen Bedarfe doppelt gedeckt. Daher sei der Regelsatz ohnehin geringer zu bemessen, um Doppelleistungen zu vermeiden. Die Frage, ob die vom Gesetzgeber unterstellte Annahme, dass ein Leben in der Gemeinschaftseinrichtung tatsächlich zu den unterstellten Einsparungen führe (und dies durch eine geringere Regelsatzhöhe berücksichtigt werden dürfe), sei eine Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen.

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Der Beschwerdeausschluss nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG greift nicht ein, da die Berufung in der Hauptsache nicht nach § 144 Abs. 1 SGG der Zulassung bedürfte.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt die nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG maßgebliche Wertgrenze von 750,00 €. Der Wert des Beschwerdegegenstandes ist danach zu bestimmen, was das SG dem Rechtsmittelführer versagt hat und was von diesem mit seinem Rechtsmittel weiterverfolgt wird, hier also nach der Differenz zwischen den bewilligten Leistungen gemäß §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG (Regelbedarfsstufe 2) und den vom Antragsteller jedenfalls ab dem Eilantrag vom 2.8.2020 begehrten Leistungen gemäß § 2 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII nach Regelbedarfsstufe 1 für den Zeitraum bis zum 31.5.2021, die rund 1.170,00 € beträgt.

Die Beschwerde ist aber nur zum Teil begründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für den Zeitraum bis zum 31.10.2020 zu Recht abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Liegt – wie hier für den Zeitraum vom 1.6. bis zum 31.10.2020 mit dem Bescheid vom 16.4.2020 – ein bestandskräftiger Bescheid vor und wird das streitige Rechtsverhältnis (lediglich) durch ein anhängiges Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X begründet, sind besonders strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes zu stellen. Ein Anordnungsanspruch ist nur gegeben, wenn glaubhaft gemacht ist, dass die Voraussetzungen für eine Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides unzweifelhaft vorliegen, der Bescheid also offensichtlich rechtswidrig ist (Burkiczak, a.a.O. Rn. 340 m.w.N. und Sächsisches LSG, Beschluss vom 25.2.2020 – L 8 AS 1422/19 B ER –, juris Rn. 32 m.w.N.). Ein Anordnungsgrund besteht nur dann, wenn glaubhaft gemacht ist, dass massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse des Antragstellers vorliegen (Burkiczak, a.a.O., Rn. 356 m.w.N. und Sächsisches LSG, Beschluss vom 25.2.2020, a.a.O. Rn. 32 m.w.N.; vgl. auch Senatsbeschluss vom 14.12.2015 – L 8 AY 55/15 B ER – juris Rn. 29). Der Antragsteller hat – wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen zu seinen Leistungsansprüchen im ebenfalls streitigen Anschlusszeitraum vom 1.11.2020 bis zum 31.5.2021 ergibt – einen Anspruch auf sogenannte Analogleistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII glaubhaft gemacht, der allerdings nicht offensichtlich ist. Zudem hat der Antragsteller für die Zeit von der Eilantragstellung am 2.8. bis zum 31.10.2020 keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Als unter 25 Jahre alter Erwachsener hat er für die Zeit bis Mitte Oktober 2020, in der er mit seinen Eltern (jedenfalls mit seinem leiblichen Vater) und seinen Geschwistern in einer Wohnung (Ausführungen zur Abgrenzung der Unterbringung in einer Wohnung von derjenigen in einer Gemeinschaftsunterkunft folgen später) gewohnt hat, allenfalls gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 i.V.m Satz 4 Nr. 2 AsylbLG einen Anspruch auf Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 3 i.H.v. mtl. 327,00 €, die lediglich 11,00 € über den bewilligten 316,00 € lagen. Wegen der zudem in der Gemeinschaftsunterkunft (neben den gewährten Geldleistungen gemäß §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG i.H.v. 316,00 €) erbrachten zahlreichen Sachleistungen, durch die der im Regelsatz der Stufe 3 nach dem SGB XII berücksichtigte Bedarf zum Teil gedeckt worden ist, ist es daher eher unwahrscheinlich, dass er in der kurzen Zeit vom 2.8. bis 31.10.2020 in seiner sozialen und wirtschaftlichen Existenz schwer betroffen war.

Für den Zeitraum vom 1.11.2020 bis zum 31.5.2021 hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Das für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche streitige Rechtsverhältnis ist hier dadurch begründet, dass der Antragsteller gegen den ihm für diesen Zeitraum Grundleistungen nach §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG gewährenden Bescheid der für den Antragsgegner handelnden Stadt Hildesheim vom 27.10.2020 am 29.10.2020 Widerspruch erhoben hat, über den noch nicht entschieden ist.

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf lebensunterhaltssichernde Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. §§ 27 ff. SGB XII nach der Regelbedarfsstufe 1 glaubhaft gemacht.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der seit dem 21.8.2019 geltenden Fassung des Artikel 5 Nr. 3 des Zweiten Gesetzes zur Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.8.2019 (BGBl. I S. 1294) ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 und 4 und 6 bis 7 auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Abgesehen von der Frage, ob der Antragsteller die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, ist davon auszugehen, dass die sonstigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf lebensunterhaltssichernde Analog-Leistungen vorliegen. Er gehört zu den Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG, weil er im Besitz einer Duldung nach § 60a AufenthG ist (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG). Er hält sich auch lange genug ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Es kann dahinstehen, ob ein ununterbrochener Aufenthalt von 18 Monaten erforderlich ist oder wegen der Übergangsvorschrift des § 15 AsylbLG noch die davor geltende Aufenthaltsdauer von 15 Monaten Anwendung findet. Ebenso kann offenbleiben, ob der Antragsteller sich mit seiner Familie in der Zeit von Januar bis Juli 2018 nicht im Bundesgebiet (sondern in Frankreich bei Verwandten) aufgehalten hat. Denn er hält sich nach dem Inhalt der beigezogenen Leistungs- und Ausländerakten jedenfalls seit dem 30.7.2018 und damit ab dem hier streitigen Leistungsbeginn (1.11.2020) bereits wieder 27 Monate und länger ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Anhaltspunkte dafür, dass er seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus Einkommen und Vermögen, bestreiten kann (§ 19 Abs. 1, § 27 Abs. 1, 2 Satz 1, §§ 82 ff., § 90 SGB XII), liegen nicht vor.

Dem Antragsteller kann ebenso wenig wie seinen Eltern vorgeworfen werden, dass er die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG selbst beeinflusst hat. Der Senat verweist insoweit auf seine den Beteiligten bekannten Ausführungen zu den Eltern des Antragstellers in seinem Beschluss vom 4.2.2020 – L 8 SO 118/20 B ER -, wonach es nach summarischer Prüfung auf der Grundlage des gegenwärtigen Sach- und Streitstandes überwiegend wahrscheinlich ist, dass sich – was zulasten des die materielle Beweislast tragenden Antragsgegners gehen wird – im Hauptsachverfahren nicht wird feststellen lassen, dass die Eltern die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG (insbesondere durch unzutreffende Angaben zu ihrer Identität und der Identität der Kinder) rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Dies gilt für den Antragsteller erst Recht, weil die Angaben zu seiner Identität von seinen Eltern stammen, er anders als seine Eltern keine abweichenden Angaben in Fragebögen zur Identitäts- und Staatsangehörigkeitsklärung gemacht hat, von der Ausländerbehörde nicht zu konkreten Mitwirkungshandlungen aufgefordert worden ist und gegenwärtig auch nicht ersichtlich ist, was er tun soll, nachdem Serbien und Kosovo sowie auch Nord-Mazedonien die entsprechende Staatsangehörigkeit seiner Eltern verneint haben.

Der daher mit überwiegender Wahrscheinlichkeit grundsätzlich gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. §§ 27 ff SGB XII leistungsberechtigte Antragsteller hat nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RBEG vom 22.12.2016 (BGBl. I S. 3159) in seiner vom 1.1. bis 31.12.2020 geltenden Fassung bzw. nach § 8 Satz 1 Nr. 1 des am 1.1.2021 in Kraft getretenen RBEG vom 9.12.2020 (BGBl. I S. 2855) Anspruch auf Deckung seiner Regelbedarfe nach der Regelbedarfsstufe 1. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RBEG in seiner im Jahr 2020 geltenden Fassung ist der Regelbedarfsstufe 1 jede erwachsene Person zuzuordnen, die in einer Wohnung lebt und für die nicht Nummer 2 gilt. Wohnung im Sinne dieser Vorschrift ist gemäß § 8 Abs. 1 Satz 3 RBEG in seiner 2020 geltenden Fassung die Zusammenfassung mehrerer Räume, die von anderen Wohnungen oder Wohnräumen baulich getrennt sind und die in ihrer Gesamtheit alle für die Führung eines Haushalts notwendigen Einrichtungen, Ausstattungen und Räumlichkeiten umfassen. Nach § 8 Satz 1 Nr. 1 des seit dem 1.1.2021 geltenden RBEG gilt die Regelbedarfsstufe 1 für jede erwachsene Person, die in einer Wohnung nach § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB XII lebt und für die nicht Nummer 2 gilt. Wohnung ist in § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB XII genauso definiert wie in § 8 Abs. 1 Satz 3 RBEG in seiner 2020 geltenden Fassung. Bei der jeweils ausgenommenen erwachsenen Person, für die die Nummer 2 (Regelbedarfsstufe 2) gilt, handelt es sich um eine solche, die entweder in einer Wohnung mit einem Ehegatten oder Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft mit einem Partner zusammenleben oder die nicht in einer Wohnung leben, weil ihr allein oder mit einer weiteren Person ein persönlicher Wohnraum und mit weiteren Personen zusätzliche Räumlichkeiten (nach § 42a Abs. 2 Satz 3 SGB XII) zur gemeinschaftlichen Nutzung überlassen werden. Der 1999 geborene erwachsene Antragsteller lebt seit Mitte Oktober 2020 mit seinem Bruder Bernardo in einer Wohnung im Sinne der vorgenannten Regelungen und er gehört nicht zu dem o.g. Personenkreis, für den die Regelbedarfsstufe 2 gilt. Es handelt sich bei den von ihm bewohnten Räumlichkeiten um eine abgeschlossene, baulich von den übrigen Räumlichkeiten der Unterkunft abgetrennte Wohneinheit, die neben einem Wohn- und Schlafraum über eine Küchenzeile (ausgestattet mit Herd, Spüle und Kühlschrank) und ein separates Bad/WC verfügt. Eine eigene Haushaltsführung und die Selbstversorgung mit warmen Mahlzeiten ist ohne weiteres möglich.

Die Voraussetzungen der (ausnahmsweisen) Anerkennung lediglich eines Regelbedarfs in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 gemäß § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sind nicht erfüllt. Der Antragsteller ist nicht – wie nach dieser Vorschrift erforderlich – in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. 1 AsylG oder in einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG untergebracht. Bei der Unterkunft in der Senkingstraße 10a in Hildesheim handelt es sich nicht um eine (Erst-)Aufnahmeeinrichtung des Landes, in denen Asylbewerber zentral erfasst, und aufgenommen werden, und in denen sie regelmäßig verpflichtet sind, im ersten Stadium des Asylverfahrens unmittelbar nach ihrem Asylantrag zu wohnen (vgl. zum Begriff der Aufnahmeeinrichtung: Hohm in GK-AsylbLG, Stand: Juni 2016, III. § 3 Rn. 49). Der Antragsteller ist auch nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht. Der Begriff der Gemeinschaftsunterkunft ist weder in § 53 AsylG noch im AsylbLG definiert. Als Gemeinschaftsunterkünfte sind solche Unterkünfte anzusehen, in denen einzelne Räume (insbesondere Aufenthalts- und Schlafräume, Küche und sanitäre Anlagen) von den darin untergebrachten Ausländern gemeinsam genutzt werden (Hohm, a.a.O., Rn. 56). Maßgeblich ist nach der Gesetzesbegründung, (BT-Drs. 19/10052, S. 20, 21, 25), das die Unterkunft der Gemeinschaftsunterbringung dient und durch die Aufteilung in persönlichen Wohnraum und gemeinsam genutzte Räume eine eigenständige Haushaltsführung nur in sehr eingeschränktem Maße zulässt. Im Umkehrschluss hat eine Abgrenzung zur Wohnung im o.g. Sinne zu erfolgen (vgl. bereits Beschluss des Senats vom 9.7.2020 – L AY 52/20 B ER – juris Rn. 27). Der Antragsteller bewohnt – wie bereits ausgeführt – eine Wohnung im Sinne der o.g. Vorschriften, deren Räumlichkeiten und Ausstattung ihm eine eigenständige Haushaltsführung in hohem Maße ermöglichen. In dem Gebäude in der Senkingstraße 10a befinden sich die Aufenthalts- und Schlafräume sowie Küche und Bad/WC sämtlich in separaten Wohnungen. Es gibt keine Gemeinschaftsküche(n) und auch keine gemeinschaftlich zu nutzenden Sanitäranlagen. Die untergeordnete gemeinschaftliche Nutzung von Räumlichkeiten (insbesondere einer Waschküche) schränkt die Möglichkeit zur eigenständigen Haushaltsführung nicht nennenswert ein und steht der Bewertung der Unterbringung in einer Wohnung auch deshalb nicht entgegen, weil sie teilweise auch in Mietshäusern praktiziert wird.

Bei der Leistungsgewährung in Höhe der vollen Regelsätze der Bedarfsstufe 1 kann es wegen der teilweisen Bedarfsdeckung durch die in der Unterkunft vorhandene Ausstattung mit Sachmitteln zwar zu Doppelleistungen kommen. Dem kann der Antragsgegner aber selbst durch eine abweichende Regelsatzfestsetzung gemäß § 2 Abs. 2 AsylbLG i.V.m. § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XII Rechnung tragen, wobei in erster Linie eine Kürzung um den im Regelsatz enthaltenen Anteil für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung (Abt. 4) in Betracht kommt, bei dem Anteil für Innenausstattung, Haushaltsgeräte, Haushaltsgegenstände und lfd. Haushaltsführung (Abt. 5) hingegen wegen der darin enthaltenen Ansparbeträge für künftige Anschaffungen Zurückhaltung geboten ist.

Wegen des existenzsichernden Charakters der Analogleistungen ist ein Anordnungsgrund zu bejahen.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.