Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 19.02.2021 – Az.: S 27 AY 4032/20 ER

BESCHKUSS

S 27 AY 4032/20 ER

In dem Rechtsstreit

1. xxx,
2. xxx,
3. xxx,
4. xxx,
5. xxx,
6. xxx,
7. xxx,

– Antragsteller –

Prozessbevollmächtigter:
zu 1-7: Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Holzminden Justiziariat und Kommunalaufsicht,
vertreten durch die Landrätin,
Bürgermeister-Schrader-Straße 24, 37603 Holzminden

– Antragsgegner –

hat die 27. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 19. Februar 2021 durch die Richterin xxx beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig privilegierte Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. SGB XII für die Zeit vom 20.12.2020 bis Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.08.2020, längstes jedoch bis zum 20.06.2021 zu gewähren.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Die Antragsteller erstreben im Rahmen der einstweiligen Anordnung die Gewährung von ungekürzten, privilegierten Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) analog ab dem 20.12.2020

Die aus der Russischen Föderation stammenden Antragsteller reisten ihren eigenen Angaben zufolge erstmals am 05.09.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 25.05.2016 den Asylantrag als unzulässig ab, stellte keine Abschiebungsverbote fest und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidung blieben ohne Erfolg (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 27.07.2016 – 1 B 3328/16 und Beschluss vom 02.01.2017 – 1 A 3327/16).

Nachdem die Antragsteller am 29.08.2016 nach Polen abgeschoben worden sind, reisten sie am 25.01.2017 erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Nach ihrer Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland wurden die Antragsteller von der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen zum 15.03.2017 dem Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners zugewiesen, der den Antragstellern Leistungen nach dem AsylbLG bewilligte. Nach ihrer persönlichen Anhörung am 21.03.2017 lehnte das BAMF mit Bescheid vom 10.04.2017 den am 30.01.2017 erneut gestellten Asylantrag als unzulässig ab, stellten keine Abschiebungsverbote fest und ordneten die Abschiebung nach Polen an. Die hiergegen gerichtete Klage wurde mit Urteil vom 21.11.2018 (Az. 1 A 3377/17) abgewiesen. Seitdem wird der Aufenthalt der Antragsteller geduldet.

Der Antragsgegner bewilligte mit streitgegenständlichen Bescheid vom 18.08.2020 den Antragstellern Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG ab September 2020 in Höhe von 1231,04 €.

Über den hiergegen gerichteten Widerspruch vom 31.08.2020 hat der Antragsgegner noch nicht entschieden.

Am 19.12.2020 haben die Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie machen insbesondere geltend, dass eine Umstellung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG zu Unrecht unterblieben sei. Die Wartefrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG sei lange überschritten und die Dauer des Aufenthaltes der Antragsteller nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Die Antragsteller beantragen,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. SGB XII bis zu einer rechtskräftigen über den Widerspruch vom 31.08.2020 zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Der Antragsgegner macht geltend, die Antragsteller haben die Dauer ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, sodass sie rückwirkend keine Leistung nach § 2 AsylbLG erhalten. Die Wiedereinreise nach einer erfolgten Abschiebung im August 2016 mit befristeter Wirkung für die Dauer von 6 Monaten stelle eine rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung des Aufenthaltes im Bundesgebiet dar.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang sowie die Ausländerakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf privilegierte Leistungen gem. § 2 AsylbLG ab Antragstellung bei Gericht.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes errichtet werden soll, voraus, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Nach § 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sind der Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Aussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997 – L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).

1.)

Zur Überzeugung der Kammer haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Das Vorliegen der Voraussetzungen der Leistungsgewährung nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII erscheint nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung hinreichend gesichert. Ihnen steht somit eine Leistungsbewilligung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII zu.

Die Antragsteller sind als Inhaber einer Duldung gem. § 1 Abs. 1 Nummer 4 AsylbLG Leistungsberechtigten nach diesem Gesetz und haben die erforderlicher vor Aufenthaltszeit in Ansehung des § 15 AsylbLG erfüllt.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht vorliegt, die der Gewährung privilegierte Leistungen entgegenstünde.

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der vom 1.3.2015 bis zum 20.8.2019 geltenden Fassung (Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10.12.2014) ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Abgesehen von der Frage, ob die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben, liegen die sonstigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf lebensunterhaltssichernde Analog-Leistungen vor.

Den Antragstellern kann nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht vorgeworfen werden, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG selbst beeinflusst haben.

Nach der Rechtsprechung des BSG (grundlegend: Urteil vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten in diesem Sinne in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen führen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09. April 2020 – L 8 AY 4/20 B ER –, Rn. 37, juris). Auch kann ein Verhalten vor der Einreise in das Bundesgebiet als rechtsmissbräuchlich angesehen werden (BSG, a.a.O., juris Rn. 40). Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt regelmäßig schon dann vor, wenn bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann. Eine Ausnahme hiervon ist zu machen, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG, a.a.O., juris Rn. 44). Die objektive Beweislast für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten trägt der Leistungsträger (Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 2 AsylbLG Rn. 140-143).

Die Ersteinreise in das Bundesgebiet fand im November 2015 statt. Die Antragsteller wurden im August 2016 nach Polen abgeschoben und reisten ihren eigenen Angaben zufolge im Januar 2017 in das Bundesgebiet wieder ein. Dieser Umstand allein rechtfertigt jedoch nicht die Annahme einer Wiedereinreise zum Zwecke des Leistungsbezugs. Nach der Gesamtwertung der Umstände ist die Kammer überzeugt, dass die Antragsteller nicht in das Bundesgebiet eingereist sind, um Leistungen zu erhalten. Vielmehr sprechen die Umstände dafür, dass die Wiedereinreise zur Schaffung einer Lebensgrundlage nach Deutschland diente. Denn die Wiedereinreise in das Bundesgebiet erweist sich als alleiniges Verhalten in keinem Fall als rechtsmissbräuchlich (vgl. (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09. April 2020 – L 8 AY 4/20 B ER).

Insbesondere spricht bereits der Umstand, dass der Antragsteller zu 1.) 2017 bei der Ausländerbehörde des Antragsgegners ein Arbeitsangebot mit Aussicht auf Einstellung eingereicht und um eine Beschäftigungserlaubnis nachgesucht hat (Bl. 136 ff. der Ausländerakte). Der berufstätige Antragsteller zu 1.) bestreitet den Lebensunterhalt für sich und die Antragsteller zu 2.) – 7.) mit einem monatlichen Nettobetrag in Höhe von ca. 1.550,00 €. Dieser Arbeit geht der Antragsteller zu 1.) bereits seit der erteilten Zustimmung im Juli 2017 nach. Insoweit ist die Kammer davon überzeugt, dass er die Lebensgrundlage für seine Familie im Bundesgebiet mit eigenen Kräften so weit als möglich sicherstellen möchte.

Davon ausgehend ergeben sich aus dem Verhalten der Antragsteller keine hinreichenden Anhaltspunkte für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten. Das Bestreben der Antragsteller zu 1.), eine Lebensgrundlage für sich und seine Familie zu schaffen, ist gleichfalls nicht als rechtsmissbräuchlich zu werten (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09. April 2020 – L 8 AY 4/20 B ER –, Rn. 38, juris).

Die Antragsteller haben die Erfüllung der weiteren Voraussetzungen eines Anspruchs auf lebensunterhaltssichernde Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. §§ 27 ff. SGB XII demnach glaubhaft gemacht.

2.)

Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt, da eine besondere Eilbedürftigkeit sich aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen ergibt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09. April 2020 – L 8 AY 4/20 B ER).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft nach §§ 172 Abs. 3 Nummer 1,144 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1 SGG, wobei hinsichtlich der Berechnung der Beschwerde des Antragsgegners, die sich aus der Differenz zwischen Leistungen nach § 2 AsylbLG nach § 1a AsylbLG (Antragsteller zu 1. und 2.) bzw. § § 3, 3a AsylbLG (Antragsteller zu 3. – 5.) bezogen auf einen Jahreszeitraum ergibt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.08.2017 – L 8 AY 1/17 B U ER).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.