Tacheles Rechtsprechungsticker KW 09/2021

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – LSG Bayern, Beschluss v. 29.01.2021 – L 7 AS 700/20 B ER

Der Antragsteller für Leistungen nach dem SGB II trägt die objektive Beweislast für die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen.

Leitsätze (Juris)
1. Der Antragsteller auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II trägt die objektive Beweislast für die Anzahl der im Haushalt lebenden Personen und damit für den Umfang der als Bedarf zu berücksichtigenden tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

2. Die Kosten der Unterkunft sind entsprechend der ständigen Rechtsprechung des BSG im Regelfall unabhängig von Alter und Nutzungsintensität anteilig pro Kopf aufzuteilen, wenn Hilfebedürftige eine Unterkunft gemeinsam mit anderen Personen, insbesondere mit anderen Familienangehörigen, nutzen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

3. Eine vorübergehende räumliche Trennung vom Wohnort bzw. gewöhnlichen Aufenthalt, beispielsweise durch einen Auslandsaufenthalt, steht der Beibehaltung eines bestehenden Wohnsitzes nicht entgegen, soweit der Aufenthalt zeitlich begrenzt und die jederzeitige Rückkehrmöglichkeit in die Wohnung gegeben ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

4. Den Beweiswert einer Versicherung an Eides Statt nach § 202 SGG i.V.m. § 294 ZPO hat das Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 SGG zu bewerten. Im Einzelfall kann die gerichtliche Beweiswürdigung ergeben, dass eine bestimmte Tatsache durch eine Versicherung an Eides Statt nicht glaubhaft gemacht ist, etwa im Hinblick auf andere präsente Beweismittel. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

5. Die Entscheidung des BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, gebietet nicht automatisch bei glaubhaftem Anordnungsanspruch den Erlass einer entsprechenden Regelungsanordnung. Die Beurteilung des Anordnungsgrundes darf nicht schematisch erfolgen. Im Rahmen einer wertenden Betrachtung ist ist bei der Prüfung des Vorliegens des Anordnungsgrundes zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für die Betroffenen hätte. (Rn. 23 und 24) (redaktioneller Leitsatz)

Quelle: www.gesetze-bayern.de

1.2 – LSG NRW, Beschluss v. 27.01.2021 – L 20 AY 1/21 B ER

Asylbewerberleistungen nach Kirchenasyl

Das LSG Essen hat entschieden, dass Zweifel daran, ob ein Asylbewerber seinen Aufenthaltsort fortlaufend bekannt gegeben hat, einem Anspruch auf sog. Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG entgegenstehen.

Kurzfassung:
Die pauschale Behauptung, dass ihm existenzsichernde Leistungen vorenthalten würden, begründe keine Eilbedürftigkeit, zumal ein Anspruch nicht offensichtlich bestehe. § 2 AsylbLG bestimme, dass das SGB XII nur auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden sei, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhielten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hätten.

Gerade letzteres habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Denn es sei nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens wahrscheinlich, dass er seinen Aufenthalt im Bundesgebiet dadurch rechtsmissbräuchlich verlängert habe, dass sein Aufenthaltsort während des Kirchenasyls nicht fortlaufend bekannt gewesen sei. Die Nichtbekanntgabe der aktuellen Anschrift sei – vergleichbar einem Untertauchen – (auch unabhängig von der Inanspruchnahme von Kirchenasyl) unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedenfalls dann typischerweise geeignet, den Aufenthalt im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich zu verlängern, wenn der Ausländerbehörde der Aufenthaltsort des Betroffenen über einen längeren Zeitraum nicht bekannt gegeben werde.

Weitere Ermittlungen seien dem noch laufenden Klageverfahren vorbehalten.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Essen v. 23.02.2021

Hinweis:
Der Senat musste nicht entscheiden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Inanspruchnahme von Kirchenasyl ein rechtsmissbräuchliches Verhalten darstellt (vgl. hierzu Bayerisches LSG, Urteil vom 28.05.2020 – L 19 AY 38/18, LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.04.2020 – L 8 AY 20/19 B ER, LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13.09.2020 – L 9 AY 9/20 B ER, und Hessisches LSG, Beschluss vom 04.06.2020 – L 4 AY 5/20 B ER).

Zum Volltext

1.3 – LSG NRW Beschl. v. 23.2.2021 – L 21 AS 123/21 B ER

§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. § 86b Abs. 2 SGG

Orientierungshilfe (Willy Voigt)
1. Keinen Eilrechtsschutz, wenn Kündigung der Wohnung noch nicht ergangen ist.

2. Auch wenn bereits Mietschulden durch die Nichtübernahme des Jobcenters aufgelaufen sind und der Vermieter den ausstehenden Mietzins angemahnt hat, berechtigt das nicht zum Eilverfahren.

3. Die Kündigung der Unterkunft muss ausgesprochen sein.

4. Alleine die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung und darüber hinaus einer ordentlichen Kündigung reichen nicht aus.

5. Außerdem ist die Wohnung nicht angemessen und es bestehen erhebliche Zweifel, dass die angemietete Wohnung dauerhaft gehalten werden kann.

6. Im Haushalt leben keine Kinder und es liegen keine gesundheitlichen Einschränkungen vor.

1.4 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 08.02.2021 – L 31 AS 1562/20 B ER

Ablehnungsbescheid – Rücknahme vorläufige Bewilligung – einstweiliger Rechtsschutz – Erledigung auf sonstige Weise – aufschiebende Wirkung

Leitsatz (Juris)
1. § 41a Abs. 2 S. 4 SGB II regelt den Fall, dass während des noch laufenden Bewilligungszeitraumes Korrekturen notwendig werden.

2. Einer Rücknahme der vorläufigen Entscheidung nach § 41a Abs. 2 S. 4 SGB II bedarf es neben einer endgültigen Ablehnung nicht.

3. Die endgültige Ablehnung erledigt die vorläufige Bewilligung nach § 39 Abs. 2 SGB X.

Quelle: www.berlin.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Magdeburg, Urteil vom 27. Januar 2021 (S 16 AS 1814/17):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine absichtliche Verminderung von Geldmitteln im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 1 SGB II liegt nicht vor, wenn eine Bezieherin von Alg II von ihrem ehemaligen Arbeitgeber eine Urlaubsabgeltung gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG in einer Höhe von über EUR 5.000,- erhält und von dieser Summe sofort EUR 4.100,- für die Tilgung privater Schulden verwendet.

Ein Jobcenter kann hier lediglich einen Ersatzanspruch wegen eines sozialwidrigen Verhaltens nach § 34 SGB II geltend machen.

Leitsatz RA Michael Loewy
Tilgt ein Leistungsempfänger mit einer im Leistungsbezug erhaltenen Abfindung seines ehemaligen Arbeitgebers private Schulden, rechtfertigt dies keine Sanktion nach § 31 Abs. 2 Zif. 1 SGB II. Die vorgenannte Norm setzt das zielgerichtete Wollen (Dolus directus 1. Grades) voraus die Vermögensminderung zum Zwecke der Leistungserzielung herbeizuführen, woran es im vorliegend fehlt. Eine Vermögensverminderung, die nur beiläufig dazu führt, dass der Leistungsberechtigte Leistungen früher oder höher erhält, reicht dagegen nicht aus.

Quelle: RA M. Loewy

2.2 – SG Neubrandenburg, Beschluss v. 09.02.2021 – S11 AS 489/20 ER

Anschaffungskosten eines Tablets als Schulbedarf durch das JobCenter – Berücksichtigung von Versandkosten

JobCenter wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzvefahrens vorläufig verpflichtet, den Geschwistern ein Tablet zur gemeinsamen Nutzung zur Verfügung zu stellen bzw. die Kosten für die Anschaffung eines Tablets zuzüglich Versandkosten in Höhe von maximal 170,00 € zu übernehmen.

Auch wenn die Empfehlung zur Nutzung der digitalen Lernprogramme von der Schule nur zusätzlich zu den in Kopie ausgestellten Aufgaben ausgesprochen wird, ist zur Verwirklichung des Rechts des Kindes auf Bildung und Chancengleichheit die Ausschöpfung auch dieser Lernmöglichkeit erforderlich.

Leitsatz (Redakteur)
1. Der von den Antragstellern geltend gemachte Bedarf (Anschaffung eines Tablets bzw. internetfähigen Endgerätes für den Schulunterricht) stellt grundsätzlich einen anzuerkennenden Mehrbedarf dar, der nunmehr § 21 Abs. 6 SGB II unterfällt.

2. Der Regelbedarf von Schülern ist damit jedenfalls unter den gegenwärtigen Umständen der Pandemie nicht mehr in strukturell realitätsgerechter Weise zutreffend erfasst (siehe LSG Nordrhein-Westfalen im Beschluss vom 22.05.2020, L 7 AS 719/20 B ER und Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 08.01.2021,L 9 AS 862/20 B ER). Dies eröffnet die Leistungsgewährung über § 21 Abs. 6 SGB II.

3. Auch wenn die Empfehlung zur Nutzung der digitalen Lernprogramme von der Schule nur zusätzlich zu den in Kopie ausgestellten Aufgaben ausgesprochen wird, ist zur Verwirklichung des Rechts des Kindes auf Bildung und Chancengleichheit die Ausschöpfung auch dieser Lernmöglichkeit erforderlich.

4. Da kein Präsenzunterricht angeboten wird, müssen die Antragsteller zur Gewährleistung vergleichbarer Bildungschancen die gleichen Möglichkeiten haben, auf die von der Schule empfohlenen Lernmittel zuzugreifen, wie bemittelte Schüler. Der Verweis darauf, auf die Nutzung der von der Schule empfohlenen digitalen Lernprogramme zu verzichten, und lediglich die Aufgabenhefte und zur Verfügung gestellten Kopien zu nutzen, ist in Anbetracht der Schulschließungen und dem damit verbundenen eingeschränkten Zugang zu Bildung nicht zuzumuten.

5. Soweit der Antragsgegner keine Leistungsgewährung in Form der Sachleistung erbringt, hat eine Kostenerstattung für die Eigenbeschaffung durch die Antragsgegner zu erfolgen.

6. Es ist weiter zu berücksichtigen, dass derzeit aufgrund der Schließung des Einzelhandels ausschließlich auf Online-Angebote zurückgegriffen werden kann, so dass auch eventuelle Versandkosten zu berücksichtigen sind.

7. Aufgrund der Größe ist eine sinnvolle dauernde Nutzung der Lernprogramme für Grundschüler auf einem Smartphone nicht möglich, weshalb die Anschaffung des begehrten Tablets erforderlich ist. Da es sich jedoch nicht um Digitalunterricht, sondern lediglich um eine zusätzliche Nutzung zu den sonstigen in Papierform gestellten Aufgaben handelt, ist die abwechselnde Nutzung eines Gerätes durch die beiden Geschwister möglich und ausreichend.

2.3 – SG Duisburg, Beschluss v. 20.01.2021 – S 61 AS 37/21 ER

Digitales internetfähiges Endgerät als Härtefallmehrbedarf durch das Jobcenter, hier 150 €.

Leitsatz (Redakteur)
Das Jobcenter muss Schüler internetfähiges Endgerät als Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II bewilligen.

2.4 – SG Berlin, Beschluss v. 30. Dezember 2020 – S 138 AS 7816/20 ER

Selbstständige nicht angemeldete Sexarbeiterin hat Anspruch auf ALG II

Stattgebende Einstweilige Anordnung für selbstständige nicht angemeldete Sexarbeiterin (Orientierungshilfe RAin Kleideiter, Berlin)

Die Antragstellerin ist rumänische Staatsangehörige und verfügte weder über eine Anmeldung nach dem ProstSchG noch war die Tätigkeit bei dem Finanzamt angemeldet. Das Gericht stellte dazu fest, dass dies im vorliegenden Verfahren nicht von Bedeutung ist und sprach der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II ab Antragseingang bei Gericht zu (Orientierungshilfe RAin Kleideiter).

2.5 – Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 2. Februar 2021 (S 1 AS 111/17):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Die zentrale Voraussetzung für die Entscheidung des Jobcenters in Sachen der Aufhebung der Gewährung von Alg II gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 3 SGB III und § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X, nämlich dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der entscheidungsmaßgeblichen Tatsachen zu tun (§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X), liegt dann nicht vor, wenn ein Alg II-Empfänger unmittelbar nach der Aufnahme einer Tätigkeit dies dem SGB II-Träger mitteilte, diese Sozialbehörde aber erst über ein Jahr später die Bewilligung von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II, die unmittelbar nach dem Bezug des Arbeitseinkommens noch erfolgten, aufgehoben und die entsprechenden Gelder zurückverlangt hat.

Eine entsprechende Entscheidung wäre bei diesen Gegebenheiten zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt möglich gewesen, denn dem Jobcenter lag bereits direkt nach Antritt dieser Stelle der Arbeitsvertrag und damit zuverlässige Angaben über die Höhe der zu erwartenden Lohnzahlungen vor.

Hier bestand eine ausreichende Tatsachenkenntnis.

Die Ausschlussfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X kann weder unterbrochen noch verlängert werden.

Bei einer auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X verfügten Aufhebungsentscheidung, wo weder ein Bestehen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit abgeklärt zu werden hat noch besondere Umstände des Einzelfalls bestehen, ist regelmäßig die Durchführung einer Anhörung der betroffenen Person gemäß § 24 Abs. 1 SGB X nicht erforderlich.

Lässt ein Jobcenter die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X verstreichen, obwohl diesem SGB II-Träger sämtliche entscheidungsmaßgeblichen Daten und Fakten vorliegen, dann ist es dieser Sozialbehörde nicht mehr möglich, durch eine Anhörung des Beziehers von Alg II eine neue Einjahresfrist in Gang zu setzen. Einzig auf diese Weise ist sichergestellt, dass mit Rückgriff auf § 24 Abs. 1 SGB X die aus § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X hervorgehende Schutzvorschrift nicht ausgehebelt wird.

Hinweis:
Dazu RA Dirk Audörsch: Wenn die Behörde zu spät tätig wird….

Das Sozialgericht in Schleswig hat durch Urteil vom 02.02.2021 (S 1 AS 111/17) entschieden, dass es für den Fristbeginn der Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X „vorrangig auf den Standpunkt der Behörde“ ankommt, „so dass die Einjahresfrist in jedem Fall schon dann beginnt, wenn die Behörde der Ansicht ist, dass ihr die vorliegenden Tatsache für eine Rücknahme (…) genügen (…) Lässt eine Behörde daher die Jahresfrist verstreichen, gleichwohl sie alle nach ihrer Auffassung erforderlichen Tatsachen ermittelt hat, so ist es ihr nicht mehr möglich, durch eine Anhörung des Leistungsbeziehers eine neue Frist in Gang zu setzen. Nur so ist sichergestellt, dass nicht mit Hilfe des § 24 SGB X die Schutzvorschrift des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X ausgehebelt wird.

Quelle: westkuestenanwalt.com

2.6 – SG Berlin, Urteil vom 3.12.2020 – S 128 AS 7217/19

„Spitzabrechnung“ auch bei selbstständigen Einkommen möglich – ungeklärte Folgen bei der Anrechnung von „Corona- Soforthilfen“ Anmerkung von RA Kay Füßlein dazu

Die Bewilligung bei schwankenden oder Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit erfolgt bekanntermaßen zweistufig:

    zuerst erfolgt eine vorläufige Bewilligung mit einer (ungefähren) Schätzung des Einkommens

    dann folgt die endgültige Bewilligung (mit Aufhebung und Erstattung)

Wie das Einkommen bei der endgültigen Bewilligung berechnet wird, ist in § 41a SGB II geregelt und hierbei gilt im Grundsatz ungefähr: alles in einen Topf und durch die Anzahl der Monate im Bewilligungszeitraum dividieren (in der Regel als Einkommen: 6 Monate).

Eine wichtige Ausnahme enthält jedoch § 41a Abs. 4 SGB II, der bestimmt, dass KEIN Durchschnittseinkommen in den Monaten zu bilden ist, in denen ein besonders hohes (= bedarfsdeckendes) Einkommen erwirtschaftet wird. Für diese Methode wird der Begriff der „Spitzabrechnung“ verwendet und diese kann u.U. viel vorteilhafter sein und zu niedrigeren Erstattungen führen bzw. einen höheren Leistungsanspruch in den anderen Monaten auslösen.

Bei abhängig Beschäftigen ist es ziemlich klar, wann dies der Fall ist: sofern Einkommen > Bedarf muss auf die konkrete Einnahmen in jeden Monat bei der abschließenden Bewilligung geachtet werden.

Spannend ist es jedoch, wenn bei selbstständig Tätigen in einem Monat eine besonders hohe Einnahme erfolgt. Gilt dies dann auch?

Ja, sagt das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11.5.2020 – L 18 AS 732/18) – in einer recht umstrittenen Entscheidung. Hiernach reicht es auch, wenn die Einnahmen in einem Monat den Leistungsanspruch entfallen lassen.

Unbestritten ist die Frage aber in sehr eindeutigen Fällen, wenn z.B. bereits das Gesamteinkommen: 6 Monate größer ist als der Bedarf). Hier urteilte das SG Berlin, dass eine monatliche „Spitzabrechnung“ stattzufinden hat (SG Berlin- Urteil vom 3.12.2020 – S 128 AS 7217/19).

Damit gilt wohl, dass auch bei selbstständigen Leistungsempfängern KEIN Durchschnittseinkommen gebildet wird, wenn ihre Einnahmen in einem Monat den Leistungsanspruch entfallen lassen.

Interessant in diesem Zusammenhang (und bislang ungeklärt) ist dann die Frage, wie Corona-Soforthilfen anzurechnen sind. Diese dürften in einer Vielzahl der Fälle den Leistungsanspruch in einem Monat entfallen lassen und dann eigentlich zu einer „Spitzabrechnung“ führen. Bei den zu erwartenden stark schwankenden Einnahmen dürfte diese Betrachtung viel vorteilhafter sein, als die Bildung und Anrechnung der „Corona“ Hilfen über den gesamten Bewilligungszeitraum.

weiter bei RA Kay Füßlein

Hinweis:
a. Auffassung: LSG Berlin-Brandenburg, 11.05.2020 – L 18 AS 732/18

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25.01.2021 – L 11 AL 15/19

Arbeitslose müssen aufgenommene Probearbeit unverzüglich der Bundesagentur für Arbeit melden.

Ein leistungsrechtlich relevantes Beschäftigungsverhältnis setzt keine Entgeltlichkeit voraus.

Leitsatz (Redakteur)
Auch bei einem Probearbeitsverhältnis handele es sich um eine Beschäftigung iSd § 138 Abs 3 SGB III, selbst wenn hierfür kein Arbeitsentgelt gezahlt werde.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – SG Rostock 8. Kammer, Urteil vom 09.02.2021 – S 8 SO 24/20

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII

Leitsatz (Juris)
Der Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aus §§ 19 Abs. 2 Satz 1, 41 Abs. 1 und 3 SGB XII wirkt ungeachtet des Umstandes, dass eine vorläufige Entscheidung nach § 44 a Abs. 1 SGB XII nicht ergehen könnte, auch dann nach § 41 Abs. 2 Satz 1 SGB XII auf den Ersten des Kalendermonats zurück, in dem er gestellt wird, wenn die bindende Feststellung der dauerhaft vollen Erwerbsminderung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger (§ 45 SGB XII) erst nach Ablauf des Antragsmonats beim Sozialhilfeträger eingeht (entgegen Runderlass Nr. 13/2017 vom 27.04.2017 des Ministeriums für Soziales, Integration und Gleichstellung Mecklenburg-Vorpommern).

4.2 – SG Düsseldorf, Beschluss v. 25.01.2021 – S 28 SO 481/20 ER

Sozialhilfe – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Leistungsausschluss für Ausländer bei fehlendem Aufenthaltsrecht – Rückausnahme bei mindestens fünfjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet – Nachweismöglichkeiten

Rumänischer Staatsangehöriger hat Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB XII – Die Dauer des Mindestaufenthalts im Inland nach § 23 Abs 3 S 7 SGB XII idF ab 29.12.2016 kann auch auf andere Weise als die Meldung bei einer inländischen Meldebehörde belegt werden.

Leitsatz (Redakteur)
Zwar ist nach dem Wortlaut des Gesetzes für den Beginn der Fünfjahresfrist eine melderechtliche Anmeldung erforderlich. Die Dauer des Aufenthaltes kann aber auch auf andere Weise als durch eine melderechtliche Anmeldung belegt und glaubhaft gemacht werden (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.6.2017 – L 15 SO 112/17 B ER; LSG Hamburg, Beschluss v. 20.06.2019 – L 4 AS 34/19 B ER; SG Düsseldorf, Beschluss v. 15.12.2020 – S 3 AS 3354/20 ER).

Hinweis:
a. Auffassung LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 4.5.2018 – L 6 AS 59/18 B ER; offenlassend LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 7.2.2019 – L 2 AS 860/18 B ER

5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

5.1 – Anmerkung zu: BSG 4. Senat, Urteil vom 14.10.2020 – B 4 AS 14/20 R

Autor: Dr. Stefan Meißner
Quelle: juris
Normen: § 40 SGB 2, § 48 SGB 10, § 11a SGB 2, § 22 SGB 2, § 11b SGB 2, § 50 SGB 10, § 11 SGB 2
Fundstelle: jurisPR-SozR 4/2021 Anm. 1
Herausgeber: Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG
Jutta Siefert, Ri’inBSG
Zitiervorschlag: Meißner, jurisPR-SozR 4/2021 Anm. 1 Zitiervorschlag

Berücksichtigung eines Sofortbonus nach Stromanbieterwechsel als Einkommen

Orientierungssatz zur Anmerkung
Der vom Stromversorger für den Vertragsabschluss mit ihm an den Leistungsbezieher gezahlte Sofortbonus stellt zu berücksichtigendes Einkommen dar.

weiter auf Juris

5.2 Conterganrente bei SGB II-Leistungen nicht anrechenbar – Pressemitteilung zu LSG NRW, Urt. v. 03.12.2020 – L 6 AS 1651/17 – Revision zugelassen

Dem Bezug von SGB II-Leistungen durch Empfänger einer Rente nach dem ContStifG steht weder ihre laufende Rentenleistung noch eine aus Mitteln dieser Rente angeschaffte, selbst bewohnte Eigentumswohnung entgegen.

Der Klägerin stehe (u.a.) ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 7 SGB II für ihre über den im Regelbedarf enthaltenen Anteil hinausgehenden Stromkosten zu. Sie müsse diesen nicht aus eigenen Mitteln decken. Zwar verfüge sie über (erhebliche) monatliche Zahlungen aus der Conterganrente. Diese Leistungen blieben jedoch gemäß § 18 Abs. 1 ContStifG bei der Berechnung der SGB II-Leistungen außer Betracht. Ihnen komme im Wesentlichen eine Entschädigungsfunktion für die Betroffenen zu, wodurch vorrangig entgangene Lebensmöglichkeiten ausgeglichen werden sollten. Infolgedessen sei die Conterganrente (einschließlich der jährlichen Sonderzahlung) zur Bestreitung des Lebensunterhaltes weder bestimmt noch geeignet und müsse daher auch zur Deckung jedenfalls existenzsichernder Mehrbedarfe nicht eingesetzt werden.

Die Klägerin müsse auch ihre Eigentumswohnung – ungeachtet von deren Größe – nicht einsetzen. Denn die Verwertung der Immobilie stelle eine besondere Härte im Sinne von § 12 Abs. 3 SGB II für sie dar, da diese von ihr ein Sonderopfer abverlangen würde, das weit über dasjenige hinausgehe, welches die Verwertung einer Immobilie, die den Lebensmittelpunkt des Betroffenen bilde, ohnehin bedeute. Die Klägerin habe auch nachgewiesen, dass die Wohnung zumindest in weiten Teilen aus Mitteln der Conterganrente erworben worden sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Quelle: Pressemitteilung des LSG Essen v. 22.02.2021

5.3 – OVG Bremen, Beschluss vom 15. Dezember 2020 (1 B 432/20):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Zur Verpflichtung einer Sicherheits- und Ordnungsbehörde zur obdachlosenrechtlichen Unterbringung einer verhaltensauffälligen Person „ohne festen Wohnsitz“.

Eine aus einem sozialschädlichen Verhalten eines wohnungslosen Menschen folgende „Unterbringungsunfähigkeit“ in einer Obdachlosenunterkunft lässt die grundsätzliche Verpflichtung der zur Gefahrenabwehr zuständigen Behörde unberührt, sofern kein Fall einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Entsprechendes würde die Einleitung von Maßnahmen nach dem Unterbringungsrecht erforderlich machen.

Auch bei einem Aufenthalt „ohne festen Wohnsitz“ eines obdachlosen Menschen in einem großstädtischen Ballungsraum kann nicht von einem Bestehen einer Unterbringungsunwilligkeit ausgegangen werden, wenn diese wohnungslose Person nicht (regelmäßig) bei der „Zentralen Fachstelle Wohnen“ vorspricht und keine Anhaltspunkte dafürsprechen, dass dieser Antragsteller zwischenzeitlich über eine Unterkunft verfügt oder sich ständig an einem anderen Ort aufhält.

Hinweis Redakteur:
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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker