Verwaltungsgericht Kassel – Beschluss vom 18.03.2021 – Az.: 6 L 578/21.KS

BESCHLUSS

In dem Verwaltungsstreitverfahren

des xxx,

Antragstellers,

bevollmächtigt:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

die Stadt Kassel,
vertreten durch den Oberbürgermeister, Rathaus, 34117 Kassel,

Antragsgegnerin,

wegen Versammlungsrechts

hat das Verwaltungsgericht Kassel – 6. Kammer – durch

Vorsitzenden Richter am VG xxx,
Richter am VG xxx,
Richterin xxx

am 18. März 2021 beschlossen:

  1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 18. März 2021 gegen die Verfügung vom 16. März 2021 wird wiederhergestellt.
  2. Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.
  3. Der Streitwert wird auf 2.500,– € festgesetzt.
GRÜNDE

Der am 18. März 2021 gestellte Antrag,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 18.03.2021 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.03.2021 (Az.: 3222-Vers 86-21) wird wieder hergestellt,

ist zulässig und begründet.

Die Kammer entscheidet gem. § 5 Abs. 3 S. 1 u. 2 VwGO in der Besetzung ihrer Berufsrichter ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter.

Gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wurde (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO), die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise wiederherstellen. Im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts mit dem Suspensivinteresse des Antragstellers abzuwägen. Dabei kommt es auf die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache an. Hiernach überwiegt das private Interesse, wenn der Verwaltungsakt im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung offensichtlich rechtswidrig ist, da an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Umgekehrt überwiegt das öffentliche Interesse, wenn der Verwaltungsakt nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Vollzugsinteresse besteht. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, hat das Gericht eine unabhängige Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei ist die Prüfungsdichte des Gerichts bei hoher Eingriffsintensität aufgrund der Schwere und Irreparabilität eines dem Antragsteller drohenden Nachteils zu verschärfen. Je schwerwiegender die dem Einzelnen auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme Unabänderliches bewirkt, umso weniger darf der Rechtsschutzanspruch des Einzelnen zurückstehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.01.2020 – 2 BvR 690/19, juris Rn. 16, st. Rspr.).

Danach überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers. Das durch die Antragsgegnerin verfügte Verbot einer Versammlung (Nr. 1 des Bescheides) und die darauf basierenden Nummern 2 und 3 des Bescheides erweisen sich als offensichtlich rechtswidrig.

Die Antragsgegnerin verkennt bei der Anwendung des § 15 VersG die sich aus Art. 8 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Vorgaben der Versammlungsfreiheit, die für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend ist, in evidenter Weise.

1. Die Kammer geht zunächst davon aus, dass die an die Gesundheitsbehörden adressierten Vorgaben des Infektionsschutzrechts, namentlich § 28 und insbesondere § 28a Abs. 1 Nr. 10, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 IfSG gegenüber den versammlungsrechtlichen Vorschriften keine Sperrwirkung entfalten (wie hier: BayVGH, Beschl. v. 21.02.2021 – 10 CS 21.526, juris Rn. 3, 14; VG München, Beschl. v. 20.02.2021 – M 13 S 21.900, juris Rn. 23). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Versammlungsbehörde – wie hier – ihre Verfügung auch mit versammlungsspezifischen Gründen, wie der Gefahr von Auseinandersetzungen mit Gegendemonstrationen (hierzu unten), versieht.

2. Gem. § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.

a) Der Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kann sich auch aus anderweitigen gravierenden Gefahren für hochrangige Schutzgüter wie Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitssystems im Falle einer Pandemie durch ein hochansteckendes Virus mit einer hohen Anzahl schwerer Erkrankungsverläufe ergeben.

b) Bei der Anwendung des § 15 Abs. 1 VersG ist stets die besondere Bedeutung der verfassungsrechtlich verankerten Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG zu beachten. Dieser schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewährleistet dabei auch ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung. Die Bürger sollen damit insbesondere selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können (vgl. BVerfG, Urt. v. 22.02.2011 – 1 BvR 699/06, juris Rn. 63 f.). Die Versammlungsfreiheit ist jedoch nicht vorbehaltlos gewährleistet. Vielmehr können Versammlungen unter freiem Himmel gem. Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz – wie hier § 15 VersG – oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Derartige Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 – 1 BvQ 94/20, juris Rn. 14, st. Rspr.). Insbesondere das Grundrecht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gehört zu solchen Rechtsgütern, welches unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit versammlungsbeschränkende Maßnahmen, worunter grundsätzlich auch Versammlungsverbote fallen, rechtfertigen kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 – 1 BvQ 94/20, juris Rn. 16). Ein Versammlungsverbot scheidet nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aber aus, solange mildere Mittel und Methoden der Rechtsgüterkonfliktbewältigung wie versammlungsrechtliche Auflagen bzw. Beschränkungen und der verstärkte Einsatz polizeilicher Kontrollen nicht ausgeschöpft oder mit tragfähiger Begründung ausgeschieden sind (vgl. BayVGH, Beschl. v. 11.09.2020 – 10 CS 20.2063, juris Rn. 9 m. w. N.; BVerfG, Beschl. v. 04.09.2009 – 1 BvR 2147/09, juris Rn. 17.).

c) Mit Blick auf die Corona-Pandemie kommen speziell Auflagen mit der Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Mindestabstände, aber auch Beschränkungen der Teilnehmerzahl in Betracht, um eine Unterschreitung notwendiger Mindestabstände zu verhindern, zu der es aufgrund der Dynamiken in einer großen Menschenmenge oder des Zuschnitts und Charakters einer Versammlung im Einzelfall selbst dann kommen kann, wenn bezogen auf die erwartete Teilnehmerzahl eine rein rechnerisch hinreichend groß bemessene Versammlungsfläche zur Verfügung steht. Darüber hinaus stellt die Anordnung der Verpflichtung der Versammlungsteilnehmer zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen sowie die Durchführung als ortsfeste Kundgebung anstatt als Aufzug oder die Verlegung an einen aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vorzugswürdigen Alternativstandort ein regelmäßig milderes Mittel dar (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.08.2020 – 1 BvQ 94/20, juris Rn. 16).

d) Eingriffe in Art. 8 Abs. 1 GG kommen von vornherein aber nur in Betracht, wenn die öffentliche Sicherheit und damit zum Beispiel das Rechtsgut Leben und körperliche Unversehrtheit unmittelbar gefährdet ist, d. h. wenn der von der Versammlungsbehörde anzustellenden Gefahrenprognose konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu Grunde liegen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben; bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus (BVerfG, Beschl. v. 12.05.2010 – 1 BvR 2636/04, juris Rn. 17; ThürOVG, Beschl. v. 26.02.2021 – 3 EO 134/21, juris Rn. 6). Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen (BVerfG, Beschl. v. 12.05.2010 – 1 BvR 2636/04, juris Rn. 17). Dabei liegt, nach den allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts, die auf die Konzeption der Grundrechte als Abwehrrechte abgestimmt sind, die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von freiheitseinschränkenden Maßnahmen bei der Behörde (BVerfG, Beschl. v. 04.09.2009 – 1 BvR 2147/09, juris Rn. 13).

3. Von diesen Maßstäben ausgehend ist das durch die Antragsgegnerin verfügte Verbot offensichtlich rechtswidrig.

a) Grundsätzlich sind auch Gefahren, die von einem erhöhten Infektionsrisiko ausgehen, geeignet ein Versammlungsverbot zu rechtfertigen. Ob der überragenden verfassungsrechtlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit, kann dies aber nur in Extremsituationen zulässig sein. Eine solche hat die Antragsgegnerin in der angegriffenen Verfügung nicht festgestellt und liegt auch nicht vor.

Die primären Ziele der Einschränkungen, die sich aus der Corona-Pandemie ergeben, liegen in der Verhinderung einer Überforderung des Gesundheitssystems und dem Schutz des Grundrechtes Dritter auf Leben und Gesundheit.

Entgegen der Annahme in der angegriffenen Verfügung, besteht keine akute Gefahr für eine Überforderung des Gesundheitssystems. Die Anzahl gemeldeter intensivmedizinisch behandelter COVID-19 Fälle ist deutschlandweit von ihrem Höchstwert 5.745 am 3. Januar 2021 derweil auf 2.843 am 16. März 2021 gesunken, hat sich mithin mehr als halbiert. In Hessen lag der Höhepunkt am 5. Januar 2021 mit 523 und liegt derweil, am 16. März 2021, bei 274, was fast einer Halbierung entspricht (vgl. https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/zeitreihen). Wenn die Antragsgegnerin dem entgegenhält, dass der aktuelle Wert der in Hessen intensivmedizinischen Fälle den Höchstwert im Rahmen der ersten Welle deutlich übersteigt, trifft dies objektiv zu. Die Antragsgegnerin berücksichtigt aber nicht ausreichend, dass im Januar 2021 – also in der zweiten Welle – der Wert fast doppelt so hoch war, ohne dass eine Überforderung des Gesundheitssystems eingetreten ist. Zudem trägt die Antragsgegnerin dem Umstand, dass mit der Impfung der älteren Bevölkerungsgruppen, ein besonders vulnerabler Teil der Menschen derweil geschützt werden konnte, nicht hinreichend Rechnung. Schließlich überzeugt in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die derzeit freien Intensivkapazitäten (15,19%) nicht. Die Antragsgegnerin beachtet dabei nicht, dass diese Kapazitäten an den jeweiligen Bedarf angepasst werden, wie sich aus der doppelt so hohen Anzahl intensivmedizinisch behandelter Fälle im Januar ergibt.

Vor diesem Hintergrund kann zur Überzeugung des Gerichts von einer akuten Gefahr für die Überforderung des Gesundheitssystems nicht ausgegangen werden. Mithin kann mit diesem Argument auch kein Versammlungsverbot gerechtfertigt werden.

Zu beachten ist insoweit weiterhin, dass es sich bei der Verhinderung einer Überforderung des Gesundheitssystems um das zentrale Anliegen aller Coronavorgaben handelt. Alle weiteren Begründungsansätze, insbesondere die Festlegung von Inzidenzwerten, sind Mittel zum Zweck.

Dabei hat das Gericht die steigenden Infektionszahlen beachtet. Die aktuellen Inzidenzwerte in Kassel aber auch bundesweit bewegen sich noch unter dem Wert von 100. Die Ministerpräsidentenkonferenz vom 3. März 2021 ist auf der Basis des aktuellen Infektionsrisikos zu dem Ergebnis gelangt, dass Schulen und Kitas wieder öffnen dürfen und weitere Lockerungen angestrebt werden. Erst ab einem Inzidenzwert von 100 (in Brandenburg erst ab 200) sollen, gleichsam im Rahmen einer Notbremse, die Coronavorschriften wieder verschärft werden. Dieser Wert wird nicht erreicht. Bundesweit beträgt die Inzidenz aktuell 86 (vgl. https://www.rki.de, Stand 17.03.2021) in Kassel beträgt sie aktuell 67,9 (Stadt) und 52,4 (Landkreis) (vgl. https://www.kassel.de, Stand 17.03.2021). In Hessen ist der Wert heute auf 100 angestiegen (https://www.hessenschau.de). Mit dem Rekurs auf den in der Ministerpräsidentenkonferenz festgelegten Inzidenzwert von 100 soll im Übrigen nicht die Feststellung verbunden sein, dass bei einer Überschreitung jegliche Versammlungen ausgeschlossen wären. Die Kammer wollte damit lediglich verdeutlichen, welche Risikoeinschätzung in Bezug auf den Inzidenzwert von der Ministerpräsidentenkonferenz vorgenommen wurde. Dort war man der Ansicht, dass bis zu einem Inzidenzwert von 100 selbst wieder Kinder im Präsenzunterricht in den Schulen, also in geschlossenen Räumen, unterrichtet werden können. Wenn dies aber möglich ist, muss die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel, wo das Infektionsrisiko deutlich niedriger ist, ob der herausragenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die freiheitlich demokratische Staatsordnung, erst Recht möglich sein. Daher ist auch der Hinweis der Antragsgegnerin auf die – möglicherweise ansteckenderen und mit einem höheren Mortalitätsrisiko verbunden – Mutationen nicht geeignet, eine andere Entscheidung zu rechtfertigen. Zudem gilt es in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der deutliche Anstieg des Inzidenzwerts zumindest teilweise auch darauf zurückzuführen sein wird, dass Personen die im Rahmen der erst in jüngerer Zeit zur Verfügung stehenden Schnell- und Selbsttests Eingang in die Statistik gefunden haben.

Beachtlich ist der massive Rückgang der Todeszahlen. So starben am 29. Dezember 2020 an einem Tag 1.244 Personen an den Folgen ihrer Erkrankung (vgl. https://de.statista.com). Am 17. März 2021 meldet das RKI dagegen 249 Todesfälle in 24 Stunden (vgl. https://experience.arcgis.com). Dies stellt einen massiven Rückgang dar und zeigt, dass die behördlichen Maßnahmen wie etwa die Impfungen – insbesondere die der vulnerablen Personen – erste Erfolge zeigen. Mit dem Rückgang der Todeszahlen steigen die Begründungsanforderungen an ein Versammlungsverbot. Diesen Anforderungen werden die pauschalen Ausführungen der Antragsgegnerin offensichtlich nicht gerecht.

Soweit sich die Antragsgegnerin auf die Studie von Lange und Monscheuer (Spreading the Disease: Protest in Times of Pandemics, http://ftp.zew.de) beruft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich dabei bis jetzt lediglich um ein Diskussionspapier handelt, welches das übliche Peer-Review-Verfahren noch nicht durchlaufen hat (https://www.hu-berlin.de). Es handelt sich zudem um keine medizinisch/epidemiologische Studie, vielmehr sind die Autoren Ökonomen. Im Übrigen ließe sich mit der Studie auch dann kein Totalverbot einer Versammlung rechtfertigen, wenn man die Ergebnisse als objektiv zutreffend berücksichtigen würde. Denn wie bereits oben gezeigt, kann ein Infektionsrisiko ein Versammlungsverbot nur in Extremsituationen rechtfertigen. Eine solche wird durch die Studie nicht beschrieben. Überdies gilt es – auch an dieser Stelle – zu beachten, dass durch andere Maßnahmen (Abstandhalten/Maskentragen etc.) die Infektionsgefahr soweit reduziert werden kann, dass sich ein Totalverbot als unverhältnismäßig erweist.

Das Gericht hat auch und gerade berücksichtigt, dass das hiesige Versammlungsverbot erkennbar auch Nichtverantwortliche erfasst. Die Maßnahmen richten sich nämlich auch gegen Personen, von denen weder objektiv noch dem Anschein nach eine Gefahr oder der tragfähige Verdacht einer Gefahrverursachung im Sinne einer Verbreitung für das Corona-Virus ausgeht. An der grundsätzlichen Zulässigkeit solcher Beschränkungen bestehen indes keine Bedenken, weil anders die Verbreitung unerkannter Infektionskrankheiten im Allgemeinen und des Coronavirus im Besonderen nicht erfolgreich begegnet werden kann. Dass dies grundsätzlich zulässig ist, wird durch § 9 i.V.m. § 3 Abs. 1 S. 3 HSOG verdeutlicht.

b) Das Verbot der Versammlung ist ferner offensichtlich rechtswidrig, weil mildere Maßnahmen möglich sind bzw. die Antragsgegnerin diese nicht mit einer tragfähigen Begründung ausgeschlossen hat.

Wie oben dargestellt kommen mit Blick auf die Corona-Pandemie als mildere Maßnahmen etwa das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen oder das Einhalten von Mindestabständen sowie ortsfeste Kundgebungen in Betracht. Mag man die Erwägungen der Antragsgegnerin in Bezug auf die elf angemeldeten, den Coronamaßnahmen kritisch gegenüberstehenden Versammlungen noch nachvollziehen – wenngleich die Begründung der Antragsgegnerin insoweit mangels hinreichender Tatsachengrundlage ein Verbot nicht trägt (Beschlüsse vom gestrigen Tage 6 L 562/21.KS und 6 L 573/21.KS) -, weil es in der Vergangenheit mehrere Fälle gegeben hat, in denen sich in vergleichbaren Fällen Versammlungsteilnehmer nicht an entsprechende Auflagen gehalten haben, so ist für die hier streitgegenständliche Gegendemonstration nicht im Ansatz dargetan, dass auch nur der Verdacht dafür bestünde, die Teilnehmer würden sich an entsprechende Auflagen nicht halten. Soweit die Antragsgegnerin befürchtet, es könne zu einer „Durchmischung“ der bislang 17 angemeldeten Versammlungen kommen, legt sie nicht dar, warum sich die Teilnehmer der hier streitgegenständlichen Gegendemonstration nicht an etwaige Auflagen halten sollten. Dass nicht ausreichend Polizeikräfte zur Verfügung stehen, um ein Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Demonstrationen zu verhindern, wird lediglich behauptet. Der Presse kann hingegen entnommen werden, dass die Polizei „gut vorbereitet ist“ (so ein Polizeisprecher gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland – https://www.rnd.de). Allein aufgrund dieser Erwägungen erweist sich das angegriffene Versammlungsverbot als offensichtlich rechtswidrig.

Soweit die Antragsgegnerin in der angegriffenen Verfügung einen polizeilichen Notstand als Verbotsgrund andeutet, hat das Gericht bereits gestern hinsichtlich zweier Versammlungen mit deutlich höheren Teilnehmerzahlen (6 L 562/21.KS – 6.000 Teilnehmer und 6 L 573/21.KS – 17.500 Teilnehmer) entschieden, dass die Voraussetzungen für ein Versammlungsverbot, aufgrund eines polizeilichen Notstandes, nicht im Ansatz dargelegt sind. Für die hier streitgegenständliche Gegendemonstration mit 200 angemeldeten Teilnehmern gilt dies erst Recht.

4. Das Gericht hat davon abgesehen gem. § 80 Abs. 5 S. 4 VwGO selbst Auflagen zu verfügen. Dies ist primär Aufgabe der Verwaltung. Nur in zeitbedingten Notsituationen kann das Gericht selbst Auflagen verhängen. Im Hinblick darauf, dass die Antragsgegnerin bereits in der Eingangsverfügung dazu angehalten wurde, dies vorzubereiten, kann das Gericht darauf verzichten. Dabei fällt zudem ins Gewicht, dass eine kooperative Abstimmung mit dem Antragsteller zu allen in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen, um die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem Ziel des Infektionsschutzes und des Schutzes von Leib und Leben auf der einen und der Versammlungsfreiheit auf der anderen Seite zu ermöglichen (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 17.04.2020 – 1 BvQ 37/20, juris Rn. 27), bislang nicht erfolgt ist.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 S. 1 VwGO.

6. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffer 45.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Eine weitere Reduzierung des Streitwerts findet im Hinblick auf die Vorwegnahme der Hauptsache nicht statt.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.