BESCHLUSS
S 42 AY 4029/20 ER
In dem Rechtsstreit
xxx
– Antragstellerin –
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen
gegen
Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen
– Antragsgegner –
hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 1. April 2021 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 20. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2021 wird angeordnet.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
GRÜNDE
I.
Die Antragstellerin erstrebt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von privilegierten Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe – analog.
Die 19xx geborene, alleinstehende Antragstellerin ist nach eigenen Angaben staatenlos und reiste am 28. Mai 2015 in das Bundesgebiet ein. Während des Asylverfahrens wurde mehrfach eine Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation bei armenischer Volkszugehörigkeit vermerkt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und die Anerkennung von Asyl ab, stellte keine Abschiebungsverbote fest und forderte die Antragstellerin zur Ausreise auf. Andernfalls werde sie in die Russische Föderation abgeschoben. Dagegen eingelegte Rechtsbehelfe blieben erfolglos.
Die Antragstellerin wurde zum 03. August 2015 der Samtgemeinde Hattorf am Harz zugewiesen. Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin am 02. Juli 2019 in einem Gespräch auf, ihren ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten nachzukommen. Nach dem Vermerk des Sachbearbeiters xxx vom 15. Juli 2019 habe die Antragstellerin gegenüber der ukrainischen Botschaft um Ausstellung von Passpapieren gebeten, was 6 Monate dauern könne. Es sei ihr erklärt worden, dass eine Passbeschaffung erst dann unzumutbar sei, wenn alle infrage kommenden Botschaften (Russland, Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Iran) dies endgültig verweigerten. Am 13. August 2019 folgte eine weitere Aufforderung. Daraufhin erteilte er eine Duldung nach § 60b Absatz 2 und 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Der Antragsgegner bewilligte der Antragstellerin – wie bisher – mit Bescheid vom 04. Mai 2020 privilegierte Leistungen gemäß § 2 AsylbLG für die Zeit vom 01. Juni bis zum 30. November 2020 in Höhe von monatlich 842,67 Euro. Mit Bescheid vom 07. Oktober 2020 bewilligte er privilegierte Leistungen für die Zeit vom 01. Dezember 2020 bis zum 31. Mai 2021 in unveränderter Höhe.
Der Antragsgegner gewährte ihr nach vorheriger Anhörung mit Bescheid vom 20. November 2020 für die Zeit vom 01. Dezember 2020 bis zum 31. Mai 2021 gekürzte Leistungen gemäß „§ 1a AsylbLG“ in Höhe von monatlich 646,67 Euro und begründete dies damit, dass sie an der Beschaffung von Passpapieren nicht mitwirke, obgleich dies möglich und zumutbar sei. Sie sei seit dem 02. Juli 2019 wiederholt und hinreichend über ihre ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten belehrt worden. Die Leistungen würden auf 186,– Euro monatlich beschränkt, wobei auf den Bedarf für Ernährung 150,44 Euro, Körperpflege 26,58 Euro und Gesundheitspflege 8,98 Euro entfielen.
Dagegen legte die Antragstellerin am 03. Dezember 2020 Widerspruch ein, den sie damit begründete, weder über eine Geburtsurkunde noch über einen Pass zu verfügen. Sie warte auf eine Liste mit Vertrauensanwälten aus der Ukraine und sei auch mit der Russischen Botschaft in Kontakt getreten.
Die Antragstellerin hat am 05. Dezember 2020 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.
Der Antragsgegner hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02. März 2021 zurückgewiesen und zur Begründung angeführt, dass die Kürzung nach § 1a Absatz 3 AsylbLG gerechtfertigt sei, weil die Antragstellerin ihre ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten verletzt und bei der Beschaffung von Heimreisepapieren nicht mitgewirkt habe. Sie habe ihre Staatsangehörigkeit systematisch verschleiert. Aufgrund der Dokumente, die sie unstreitig besessen habe, müsse ihr ihre Staatsangehörigkeit bekannt sein.
Dagegen hat die Antragstellerin am 03. März 2021 Klage erhoben (S 42 AY 55/21).
Sie trägt vor:
Sie habe von Anfang an erklärt, staatenlos zu sein. Sie habe nicht mitgeteilt, die türkische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Im Asylverfahren habe sie zur Staatsangehörigkeit Angaben getätigt, die sie nicht verstanden habe. Mit Schriftsatz vom 21. Januar 2021 erklärte sie, Schreiben an die Iranische und die Aserbaidschanische Botschaft zu senden. Sie habe nie behauptet, dass ihr Vater die iranische Staatsangehörigkeit besitze, sondern dass er im Iran geboren sei. Ihre Großmutter sei Aserbaidschanerin, aber es sei nie behauptet worden, dass sie diese Staatsangehörigkeit besitze. Sie habe am 01. März 2021 beim Russischen Generalkonsulat vorgesprochen. Ihr sei erklärt worden, dass man ihr ohne Vorlage des Passes nicht helfen könne. Sie stehe auch nicht auf der Liste der russischen Staatsangehörigen.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage der Antragstellerin vom 03. März 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor:
§ 1a Absatz 3 AsylbLG sei verfassungsgemäß. Die Antragstellerin sei ihren Passbeschaffungspflichten nicht nachgekommen. Sämtliche im Vermerk 15. Juli 2019 aufgenommenen Nationalitäten seien von der Antragstellerin genannt worden. Solange sie sich weigere, ihre Staatsbürgerschaft preiszugeben, habe sie sich um alle in Betracht kommenden Staatsbürgerschaften zu bemühen. Der Antragsgegner konzentriere sich auf die russische Staatsangehörigkeit. Der Vortrag sei nicht geeignet, die Aussichtslosigkeit der Beschaffung von Passpapieren zu belegen. Mit der Verschleierung ihrer Staatsangehörigkeit täusche sie über ihre Identität. Der Termin vor der Botschaft habe allein dem Zweck gedient, eine Negativbescheinigung über die russische Staatsbürgerschaft zu erlangen, und sei nicht auf eine Identitätsklärung ausgerichtet gewesen. Sie habe sich nie illegal in Russland oder der Ukraine aufgehalten, sondern sei im Besitz eines Passes oder eines Aufenthaltstitels gewesen.
Die Antragstellerin und ihre Tochter haben am 16. März 2021 eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie die Ausländerakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat Erfolg.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist analog § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 02. März 2021 umzudeuten (§ 86b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Denn der Absatz 1 ist vorrangig und gilt – wie hier – für den Fall der Zulässigkeit der Anfechtungsklage in der Hauptsache. Die Klage hat gemäß § 11 Absatz 4 Nr. 2 AsylbLG keine aufschiebende Wirkung, nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 20. November 2020 den Bewilligungsbescheid vom 07. Oktober 2020 aufgehoben hat, mit dem der Antragstellerin noch privilegierte Leistungen für die Zeit vom 01. Dezember 2020 bis zum 31. Mai 2021 gewährt worden waren. Mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage erreicht sie ihr Rechtsschutzziel.
Der Bescheid vom 07. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2021 erweist sich im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen Prüfungsdichte als rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in eigenen Rechten.
Gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Die Antragsteller unterfällt als Inhaberin einer Duldung gemäß § 60b AufenthG dem Anwendungsbereich des AsylbLG, wie sich aus § 1 Absatz 1 Nr. 4 dieses Gesetzes ergibt. Sie hat auch die 18-monatige Voraufenthaltszeit erfüllt und sich im streitigen Zeitraum im Bundesgebiet tatsächlich aufgehalten.
Der Kürzungstatbestand des § 1a Absatz 3 AsylbLG liegt zur Überzeugung der Kammer nicht vor, weil die Antragstellerin im vorliegenden Einzelfall ihren Aufenthalt nicht durch ihr Verhalten den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen vereitelt hat.
Für den streitigen Zeitraum ist zur Überzeugung der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls eine konkrete Mitwirkungsaufforderung gemäß § 48 AufenthG zu fordern, die sich direkt an die Antragstellerin richtet. Zutreffend ist zwar, dass die ausländerrechtliche Mitwirkungspflicht jeden Leistungsberechtigten – unabhängig von einer Rechtsfolgenbelehrung – trifft und eine explizite Rechtsfolgenbelehrung nicht notwendig sein dürfte, jedoch muss für den Betroffenen erkennbar sein, welches Verhalten die Ausländerbehörde von ihm verlangt.
Im vorliegenden Fall erweisen sich jedoch sämtliche Passbeschaffungsbemühungen mit dem Zielstaat Russland als aussichtslos, nachdem die Antragstellerin und ihre Tochter mit eidesstattlichen Versicherungen nachgewiesen haben, dass die russischen Behörden ihnen eine entsprechende Staatsangehörigkeit nicht zuordnen können. Sofern der Antragsgegner dies bezweifelt, wäre er gehalten, sich konsularische direkt an die russischen Behörden zu wenden. Unabhängig von ihren Bemühungen scheitern somit Vollzugsmaßnahmen mit dem Zielstaat Russland an der Tatsache, dass dieses Land mangels nachgewiesener Staatsangehörigkeit die Aufnahme verweigern kann und offensichtlich ablehnt. Die Passbeschaffungsbemühungen haben sich bislang auf Russland beschränkt, zumal auch das BAMF eine Abschiebung nach Russland anordnete. An Botschaften anderer Länder wurden – unabhängig von ihrer Ernsthaftigkeit – zumindest während des Gerichtsverfahrens Schreiben versandt, so dass die Antragstellerin ihren Mitwirkungspflichten aktuell nachkommt. Es ist an der Ausländerbehörde, ihr nunmehr konkrete Mitwirkungshandlungen aufzuzeigen oder eine Vorführung vor den Auslandsvertretungen der Zielstaaten anzuordnen, damit diese auf offiziellem Wege die Staatsangehörigkeit klären. Die behördlichen Möglichkeiten zur Identitätsklärung sind derzeit aus Sicht der Kammer nicht ausgeschöpft, so dass die Behörde sich nicht darauf zurückziehen kann, eine unbestimmt weit gefasste Mitwirkung der Antragstellerin (Vorsprache bei „allen“ in Betracht kommenden Botschaften) zu verlangen, nachdem sie selbst mit ihren Bemühungen an eine Grenze gestoßen ist, die nur mit behördlicher Hilfe überwunden werden können.
Mangels rechtsmissbräuchlichen Verhaltens sind – wie mit Bescheid vom 07. Oktober 2020 bewilligt – privilegierte Leistungen zu gewähren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.