Sozialgericht Marburg – Beschluss vom 13.04.2021 – Az.: S 9 AY 1/21 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragsteller,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Regierungspräsidium Gießen Erstaufnahmeeinrichtung, Abteilung VII
Lilienthalstraße 2, 35394 Gießen

Antragsgegner,

hat die 9. Kammer des Sozialgerichts Marburg am 13. April 2021 durch die Vorsitzende, Richterin xxx, beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 19. Februar 2021 gegen den Bescheid vom 15. Februar 2021 sowie der gegen den Bescheid vom 15. Februar 2021 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 22. März 2021 erhobenen Klage vom 23. März 2020 wird angeordnet.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.

GRÜNDE
I.

Die Beteiligten streiten vorliegend über die Gewährung von ungekürzten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der Antragsteller wurde am xxx 1998 in xxx/Afganistan geboren, ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste erstmals am 19. April 2016 in das Bundesgebiet der Bundesrepublik Deutschland ein, mit dem Begehren Asyl gewährt zu bekommen.

Der Antragsteller bezog Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Zuletzt bewilligte der Beklagte mit Bewilligungsbescheid vom 26. August 2020 in der Form des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2021 Barleistungen in Höhe von 123,00 € sowie Sachleistungen in Form eines Kombitickets zur Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs gültig für den Landkreis der Unterbringung, einmalig ein Hygienepaket, Bekleidung in Form eines saisonbedingten Bekleidungspakets sowie den notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Gesundheitspflege sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts als Sachleistung.

Mit Schreiben vom 22. Dezember 2020 hörte der Beklagte den Kläger betreffend der beabsichtigten Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG an. Der Kläger erklärte sinngemäß, er habe den negativen Bescheid des BAMF erhalten und zu Kenntnis genommen. Allerdings könne er gegen den Bescheid klagen. Er bleibe so lange in Deutschland und erbat, die Leistungen nicht zu kürzen, da insbesondere Medikamente angeschafft werden müssten.

Mit Bescheid vom 15. Februar 2021 gewährte der Beklagte unter Aufhebung des Änderungsbescheids vom 27. Januar 2021 in Anwendung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Absatz 7 Satz 1 AsylbLG ab sofort nur noch Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung, Körper- sowie Gesundheitspflege. Laut den vorliegenden Unterlagen sei der Kläger vollziehbar ausreisepflichtig. Der Asylantrag sei durch Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung angeordnet worden. Auf Grund des bereits in Frankreich gestellten Asylantrages, seien die französischen Behörden für die Behandlung des Asylantrages zuständig. Der Kürzungsbetrag enthalte die mit Änderungsbescheid vom 27. Januar gewährten Leistungen in Höhe von 146,00 € (Barleistungen in Höhe von 123,00 € sowie das RMV-Ticket in Höhe von 23,00 €). Die Gründe für die bisher nicht erfolgte Ausreise habe der Antragsteller selbst zu vertreten, da er der Ausreisepflicht trotz Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit nicht nachgekommen sei. Es lägen weder tatsächliche noch rechtliche Gründe vor, aus denen der Antragsteller die Ausreise nach Frankreich nicht habe vollziehen können.

Der Antragsteller hat am 19. Februar 2021 Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. März 2021 als unbegründet zurück. Die Einschränkungen der Leistungen sei rechtmäßig erfolgt. Die Voraussetzungen einer Leistungskürzung nach § 1 Absatz 7 AsylbLG lägen vor. Der Asylantrag des Antragstellers sei als unzulässig abgelehnt worden, da die französischen Behörden auf Grund des bereits dort gestellten Asylantrags zuständig seien. Weiterhin sei die Abschiebung angeordnet worden. Abschiebeverbote lägen nicht vor. Mithin habe der Antragsteller die nicht erfolgte Ausreise selbst zu vertreten. Der seitens des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken sei entgegenzuhalten, dass Verwaltung und Gerichte an Recht und Gesetz gebunden seien und das Verwerfungsmonopol beim Bundesverfassungsgericht liege.

Der Antragsteller hat ferner am 22. Februar 2021 Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vor dem Sozialgericht Marburg erhoben. Der Antragsteller trägt vor, dass nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die vorliegende Sanktion nicht verfassungsgemäß sein könne. Der Prozessbevollmächtigte verweist auf die Ausführungen des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremens in dem Verfahren L 8 AY 14/19 B ER (Bl. 3) hin. Zwar könne das Gericht vorliegend auf Grund der Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit die Norm des § 1a AsylbLG nicht verwerfen. Es sei aber eine Entscheidung im Rahmen einer Folgenabwägung zu treffen. Dies würde dazu führen, dass die Leistungskürzung zunächst bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens auszusetzen sei. Dies gelte erst recht, als vorliegend eine Kürzung des Regelbedarfs um mehr als 50 % ohnehin nicht mit Art. 1 GG zu vereinbaren sei.

Der Antragsteller beantragt wörtlich,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragssteller vorläufig und unter Vorbehalt der Rückzahlung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage des Antragstellers vom 23.03.2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.02.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.03.2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrags zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Die Voraussetzungen der Leistungskürzung nach §1a AsylbLG lägen vor und eine andere Bewertung ergäbe sich auch nicht aus Gründen der Verfassungsmäßigkeit. Entgegen den Ausführungen des Bevollmächtigten würden dem Antragsteller auch die aus Art. 1 Absatz 1 GG i.V.m. Art. 20 Absatz 1 GG folgenden und für ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleistenden, unabweisbar gebotenen Leistungen gewährt.

Der Antragsteller hat am 23. März 2021 Klage gegen den am 22. März 2021 erlassenen Widerspruchsbescheid erhoben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag im einstweiligen Rechtsschutz war vorliegend als isolierter Antrag nach § 86b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszulegen. Der Antragsteller beantragte vorliegend die vorläufige Verpflichtung zur Leistung der beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrags im einstweiligen Rechtsschutz. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid hat jedoch vorliegend wegen § 11 Absatz 4 Nr. 1 AsylbLG keine aufschiebende Wirkung (s.a. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 86b SGG [Stand: 19. März 2021], Rn. 95). Der Antragsgegner hat allerdings mit Bescheid vom 26. August 2020 in der Form des Änderungsbescheides vom 15. Februar 2021 aus der Perspektive des objektiven Empfängers einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung erlassen („stehen Ihnen … bis auf Weiteres folgende Grundsicherungsleistungen zu“) (s.a. Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG [Stand: 05. Januar 2021], Rn. 265). Diese Leistungen entzog der Antragsgegner mit Bescheid vom 15. Februar 2021. Mithin lebt der Dauerverwaltungsakt mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung gleichsam wieder auf. Einer gesonderten vorläufigen Verpflichtung zur Leistung bedarf es demnach vorliegend nicht. Dem Begehren des Antragstellers ist im Rahmen der Auslegung unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips eindeutig zu entnehmen, dass vorliegend zumindest auch eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung begehrt wird, da damit das Antragsziel erreicht werden kann.

Der als isolierter Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung statthafte Antrag ist zulässig und begründet.

Die im Rahmen der summarischen Prüfung vorzunehmende umfassende Interessenabwägung führt vorliegend zum Überwiegen des Anordnungsinteresses des Antragstellers vor dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners. Auf Grund der erheblichen Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 1a Absatz 7 SGG sowie den daraus drohenden erheblichen Nachteilen des Antragstellers für dessen Existenzsicherung war dem Antrag vorliegend stattzugeben.

Gemäß § 86b Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung § 86b Absatz 1 Nr. 2 SGG ist begründet, wenn das private Interesse des Anfechtenden, den Vollzug des angefochtenen Bescheides bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen (privates Aussetzungsinteresse), gegenüber dem öffentlichen Interesse an dessen Sofortvollzug (öffentliches Vollzugsinteresse) überwiegt. Die danach nötige Abwägung zwischen dem privaten Aussetzungsinteresse und dem öffentlichen Vollzugsinteresse hat sich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, weil am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheides in der Regel kein öffentliches Interesse besteht, während bei einem rechtmäßigen Bescheid das öffentliche Interesse angesichts der gesetzlich angeordneten, sofortigen Vollziehbarkeit in der Regel vorrangig ist. Dabei ist eine summarische Prüfung des zu Grund liegenden Lebenssachverhaltes vorzunehmen. Daneben sind auch alle sonstigen Umstände des Einzelfalls, die für und gegen die sofortige Vollziehbarkeit sprechen, gegeneinander abzuwägen, insbesondere das besondere Vollzugsinteresse im Einzelfall, der Umfang der drohenden Rechtsbeeinträchtigung und die Folgen, die der Sofortvollzug eines rechtswidrigen Bescheides einerseits und das Aussetzen des Sofortvollzugs eines rechtmäßigen Bescheides andererseits mit sich bringen würde. Je geringer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind, umso gewichtiger müssen die sonstigen, gegen den Sofortvollzug sprechenden Umstände sein.

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien war somit die aufschiebende Wirkung des Widerspruchsbescheids vom 22. März 2021 und der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. März 2021 anzuordnen.

Zwar geht der Gesetzgeber vorliegend auf Grund der Regelung des § 11 Absatz 4 Nr. 1 AsylbLG grundsätzlich von einem Überwiegen des Vollzugsinteresses aus. Es bestehen jedoch wesentliche Vorbehalte bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des § 1a Absatz 7 AsylbLG. Mithin hat die Kammer erhebliche Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit des zu Grunde liegenden Verwaltungsaktes. Jedenfalls wiegen die dem Antragsteller bei Nichtanordnung der sofortigen Vollziehung drohenden Nachteile erheblich schwerer als die Nachteile des Antragsgegners bei Antragsstattgabe.

Vorliegend richtet sich die Rechtmäßigkeit des zu Grunde liegenden Verwaltungsakts über § 9 Absatz 3 AsylbLG nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in entsprechender Anwendung i.V.m. § 1a Absatz 7 AsylbLG.

Es handelt sich bei dem Bescheid des Antragsgegners vom Bescheid vom 26. August 2020 in der Form des Änderungsbescheides vom 15. Februar 2021 um einen Dauerverwaltungsakt. Der Antragsgegner hat vorliegend Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG für einen unbestimmten Zeitraum bewilligt. Diesen hebt der Bescheid des Antragsgegners vom 15. Februar 2021 zumindest teilweise für die Zukunft auf.

Gemäß § 48 Absatz 1 Satz 1 SGB X in entsprechender Anwendung ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit sich in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Nach § 1 a Absatz 7 Satz 1 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 oder 5, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 31 Absatz 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt wurde und für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des Asylgesetzes angeordnet wurde, nur Leistungen entsprechend Absatz 1, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist.

Die Norm des § 1 a Absatz 7 AsylbLG begegnet jedoch erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Bereits das Landessozialgericht Hessen hat in seinem Beschluss vom 31. März 2020 –L4 AY 2/20 B ER, juris Rn. 38 ff. ausgeführt:

„§ 1a AsylbLG unterliegt seit einiger Zeit verfassungsrechtlicher Kritik, soweit in der Rechtsfolge der vollständige Wegfall des notwendigen persönlichen Bedarfs zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums vorgesehen ist (insbes. Brings/Oehl, ZAR 2016, 22; Janda SGb 2018, 344; Kanalan, ZfSH/SGB 2018, 241; Oppermann, ZESAR 2017, 55 <60 f.>; dies. in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 207 ff.; Voigt, info also 2016, 99). Auch wurde schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – in der Sanktionierung der Einreise, um Leistungen zu erlangen, eine am Maßstab von BVerfGE 132, 134 verfassungsrechtlich unzulässige Migrationssteuerung gesehen (Voigt, info also 2016, 99 <102>; erwägend SG Münster, Beschluss vom 1. März 2013 – S 12 AY 13/13 ER -, juris Rn. 12 f.) und an der Verfassungskonformität gezweifelt, weil dieser Tatbestand den Betroffenen keine Möglichkeit gibt, ihr Verhalten so zu ändern, dass sie wieder bedarfsdeckende Leistungen erhalten (allgemein Janda, ZAR 2013, 175 <180 f.>; dies erwägend Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2013 – L 4 AY 17/13 B ER –, juris Rn. 28).

Auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – sind zwar gesetzlich vorgesehene Unterdeckungen des zur Existenzsicherung Benötigten aus bedarfsunabhängigen Erwägungen nicht von vornherein ausgeschlossen. Jedoch ist bereits der Kreis legitimer Zwecke der Auferlegung von Mitwirkungs- oder Unterlassungspflichten und ihrer Sanktionierung eng zu ziehen (zum Folgenden BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, juris Rn. 121, 123 ff., 130 f.). Das Grundgesetz kennt keine allgemeinen Grundpflichten der Bürgerinnen und Bürger. Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu. Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfG a.a.O. Rn. 123). Die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele, insbesondere migrationspolitischer Ziele, nicht zu relativieren (vgl. BVerfGE a.a.O. Rn 120; E 132, 134 <173 Rn. 95>). Der soziale Rechtsstaat ist aber darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen wirkliche Bedürftigkeit vorliegt (vgl. BVerfGE a.a.O. Rn. 124). Eine Anspruchseinschränkung kann die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nur dann wahren, wenn sie nicht darauf ausgerichtet ist, repressiv Fehlverhalten zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden (BVerfG a.a.O. Rn. 131).

Der Senat verkennt dabei nicht, dass ein Unterschied zwischen den Sanktionen der §§ 31 ff. SGB II, über die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte, und dem vom Gesetzgeber im Übrigen seit 2015 parallel zum SGB II ausgestalteten Sanktionen der §§ 1a, 14 AsylbLG (zum Sanktionscharakter und den Parallelen zum SGB II: Cantzler, AsylbLG, 2019 § 1a Rn. 1; Oppermann in: jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG Rn. 137, 222) darin besteht, dass die vom Bundesverfassungsgericht zu prüfenden Sanktionsnormen einen engen Bezug zum Nachranggrundsatz des Existenzsicherungsrechts aufwiesen. Die Mitwirkungshandlungen zielten dort mehr oder weniger auf die Überwindung der Hilfebedürftigkeit. Hier zielen die Handlungs- oder Unterlassungspflichten hingegen neben der Verhinderung oder Beendigung des Rechtsmissbrauchs auch auf die Einhaltung des Asyl- oder Migrationsrechts bzw. die Schaffung migrationsrechtskonformer Zustände. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – kann daher keinen abschließenden Maßstab zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit derartiger Sanktionen darstellen. Auf verfassungsrechtsdogmatischer Ebene stellt sich hier wie dort indes eine identische Frage: Unter welchen Voraussetzungen können Handlungs- oder Unterlassungspflichten aus bedarfsunabhängigen Erwägungen durch eine Leistungsabsenkung bzw. Anspruchseinschränkung sanktioniert werden? Denn anders als bei den Regelleistungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geht es in beiden Fällen nicht um die verfassungsrechtlichen Grenzen der bedarfsdeckenden Ausgestaltung des Anspruchs, sondern um die Zulässigkeit der Unterschreitung dieses Niveaus, dort durch prozentuale Absenkungen, hier u.a. durch den vollständigen Ausschluss des notwendigen persönlichen Bedarfs bzw. des sog. soziokulturellen Existenzminimums. Jedenfalls das Verbot einer rein repressiven Ahndung von Fehlverhalten dürfte vor diesem Hintergrund übertragbar sein (vgl. zur hiesigen Variante § 1a AsylbLG am Maßstab des PKH-Verfahrens LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. Dezember 2019 – L 8 AY 36/19 B ER, Seite 4 unten).

Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass auch der soziale Rechtsstaat darauf angewiesen ist, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen wirkliche Bedürftigkeit vorliegt (BVerfG a.a.O. Rn. 124; BVerfGE 142, 353 <371 Rn. 39>), trägt grundsätzlich auch das Ziel der Rechtsmissbrauchsvermeidung (vgl. auch Senatsbeschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER –, juris). Dieses legitime Regelungsziel wird allerdings dadurch begrenzt, dass das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge auch für jene verlangt, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; die daraus folgende Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren (BVerfG a.a.O., Rn. 120; vgl. auch BVerfGE 132, 134 <173 Rn. 95>). Im Bereich der Migration muss sich der Gesetzgeber zudem bewusst sein, dass das Recht aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG jeder Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zukommt, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes „aufhält“ (BVerfGE 132, 134 <159 Rn. 63>) oder in Deutschland „lebt“ (BVerfGE 40,121 <133>). Solange der deutsche Staat Personen auf seinem Territorium aufnimmt, beherbergt oder auch nur duldet, sind sie auch leistungsberechtigt (Kirchhof, NZS 2015, 1 <4>); die Statusunabhängigkeit des Menschenwürdeschutzes manifestiert sich daher auch in der Unabhängigkeit vom Aufenthaltsstatus (Schreiber, SR 2018, 181 <182 f.>). Wegen dieser vom Grundrecht gerade intendierten Schutzrichtung darf der Gesetzgeber also weder Leistungen allein wegen der Rechtswidrigkeit des Aufenthalts unter den verfassungsrechtlich anzuerkennenden Bedarf kürzen oder vorenthalten noch aus vermeintlich generalpräventiven oder repressiven Gründen, um Migration einzuschränken.

Auch wenn zwischen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Mitwirkungspflichten und an die Leistungseinschränkung als Sanktion zu unterscheiden ist (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 123 ff. einerseits und Rn. 129 ff. andererseits), so begrenzen die vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten, strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen an die Leistungseinschränkung (BVerfG a.a.O., Rn. 129 ff.) mittelbar den Kreis der sanktionierbaren Handlungs- oder Unterlassungspflichten. Leistungsminderungen sind nur verhältnismäßig, wenn die Leistungsminderung unter Berücksichtigung ihrer Eignung zur Erreichung dieses Zwecks und als mildestes, gleich geeignetes Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Belastung der Betroffenen steht. Das setzt voraus, dass es den Betroffenen tatsächlich möglich ist, die Minderung staatlicher Leistungen durch eigenes zumutbares Verhalten abzuwenden und die existenzsichernde Leistung wiederzuerlangen. Die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG sind daher nur gewahrt, wenn die zur Deckung des gesamten existenznotwendigen Bedarfs erforderlichen Leistungen für Bedürftige jedenfalls bereitstehen und es in ihrer eigenen Verantwortung liegt, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten (BVerfG a.a.O. Rn. 133). Diese Anforderungen stehen ebenfalls rein repressiven Leistungsabsenkungen entgegen, bei der der leistungsberechtigten Person keine Handlungsoption im Sinne zweckgemäßen Verhaltens eröffnet wird, um die Sanktion abzuwenden.“

Diese Bedenken stellen sich vorliegend auch für den hier anwendbaren § 1a Absatz 7 Satz 1 AsylbLG. Des Weiteren ist in die Abwägung einzustellen, dass mit Bescheid vom 19. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2021 die Barleistungen sowie das Ticket zur Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs vollständig entzogen werden und nur noch Sachleistungen gewährt werden. Mithin ist darin eine erhebliche Beschränkung des soziokulturellen Existenzminimums zu sehen.

Zwar trifft den Antragsteller vorliegend die Pflicht zur Ausreise und er hat somit keinerlei Bleibeperspektive in Deutschland. Ferner hat der Antragsteller in Frankreich einen Asylantrag gestellt. Dem Antragsteller wurde die Abschiebung nach Frankreich angedroht. Jedoch rechtfertigt auch dies vorliegend keine andere Bewertung. Allein die nicht erfolgende Ausreise kann gegenüber dem Antragsteller nicht als vermeidbares persönliches Fehlverhalten qualifiziert werden (s.a. SG Oldenburg, Beschluss vom 20. Februar 2020, S 25 AY 3/20 ER, BeckRS 2020, 3170, Rn. 24). Allein das Nichtausreisen ist dem Antragsteller ergo nicht vorzuwerfen. Insbesondere kann die Exekutive selbst durch Vollziehung der Abschiebung eine Ausreise erzwingen. Die hier erfolgte vollständige Kürzung des Barbedarfs sowie des Nahverkehrstickets kommt jedoch einer Sanktionsnorm gleich, um die Ausreise zu erzwingen (vgl. auch Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG [Stand: 23. März 2021], Rn. 209). Auch § 14 AsylbLG lässt keine Dauerleistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG zu, sondern sieht vielmehr eine zeitliche Befristung und erneute Prüfung vor.

Wegen der grundrechtlichen Gewichtung der Leistungen, die die Menschenwürde des Leistungsempfängers sichern sollen, muss daher vorliegend das Vollzugsinteresse hinter dem Aussetzungsinteresse zurückstehen.

Die umstrittene Frage, ob die Norm verfassungsgemäß auszulegen ist, mit der Folge, dass Leistungen entgegen des Wortlauts nach § 3 Absatz 1 AsylbLG zu gewähren sind (so das Landessozialgericht Hessen für § 1a Absatz 1 Satz 3 AsylbLG, Beschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER – juris Rn. 49 ff.; s.a. LSG Hessen, Beschluss vom 31. März 2020 – L 4 AY 4/20 B ER für § 1a Absatz1 und Absatz 2 AsylbLG, BeckRS 2020, 6698 Rn. 34 ff.) kann vorliegend dahinstehen, da die Norm des § 1a Absatz 7 AsylbLG vorliegend unangewendet bleiben kann.

Die Kammer ist nicht daran gehindert die Norm des § 1a Absatz 7 AsylbLG unangewendet zu lassen. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der Gesetzesbindung der Fachgerichte (Art. 20 Absatz 3 GG) sowie dem Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (Art. 100 Absatz 1 Satz 1 GG). Zwar können die Fachgerichte den Rechtskreis des Rechtsschutzsuchenden nicht ohne gesetzliche Grundlage erweitern. Ihnen ist es daher verwehrt, unter Berufung auf ein vermeintliches verfassungswidriges defizitäres Handeln des Gesetzgebers, einen Anspruch zuzusprechen. Andererseits kann das Fachgericht den Rechtsschutzsuchenden vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt (oder Übergriffen privater Dritter) schützen, soweit dies aufgrund Art. 19 Absatz 4 Satz 1 GG bzw. Art. 2 Absatz 1 i.V.m. Art. 20 Absatz 3 GG geboten ist und keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden.

Die Fachgerichte können ergo dann einstweiligen Rechtsschutz gewähren, wenn sie ernstliche Zweifel haben, ob eine Norm des einfachen Rechts, die von der Behörde als Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen genutzt wird, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dies ist vorliegend der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 SGG in entsprechender Anwendung. Vorliegend ist es billig, dem Antragsgegner die Kosten vollständig aufzuerlegen.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 172 Absatz 1 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.