Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 07.05.2021 – Az.: S 42 AY 249/19

URTEIL

S 42 AY 249/19

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Kläger –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Stadt Göttingen,
vertreten durch den Oberbürgermeister,
Hiroshimaplatz 1-4, 37083 Göttingen

– Beklagte –

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 7. Mai 2021 durch den Richter am Sozialgericht xxx sowie die ehrenamtlichen Richter xxx und xxx für Recht erkannt:

  1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 19. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 2018 verurteilt, dem Kläger für Oktober 2019 privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog zu gewähren.
  2. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
  3. Die Berufung wird nicht zugelassen.
TATBESTAND

Der Kläger erstrebt die Gewährung privilegierter Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe – analog für Oktober 2019.

Der nach eigenen Angaben am xx.xx.1990 geborene Kläger reiste als somalischer Staatsbürger im April 2009 von Libyen nach Italien ein, von wo er im Dezember 2010 nach Norwegen reiste und von dort im Oktober 2012 zurück nach Italien abgeschoben wurde. Er erhielt unter dem Namen xxx, xxx, in Italien internationalen Schutz. Er kehrte im August 2013 nach Norwegen zurück, reiste am 30. Juni 2016 in die Bundesrepublik ein und stellte am 05. Juli 2016 einen Asylantrag unter dem Namen xxx xxx. Der Kläger ist in einer städtischen Unterkunft untergebracht und erhielt für die Dauer des Asylverfahrens eine Aufenthaltsgestattung. Er verfügte im streitigen Zeitraum weder über einsetzbares Einkommen noch verwertbares Vermögen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 22. November 2017 als unzulässig ab und begründete dies damit, dass dem Kläger bereits in Italien im Rahmen des Asylverfahrens internationaler Schutz gewährt worden sei. Das Verwaltungsgericht (VG) Göttingen wies mit Urteil vom 15. Oktober 2018 die dagegen erhobene Klage ab (3 A 745/17).

Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 19. September 2019 vorläufig privilegierte Leistungen für Oktober 2019 aufgrund eines im einstweiligen Rechtsschutz erwirkten Beschlusses des Landessozialgerichtes (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 12. September 2019 – L 8 AY 12/19 B ER -.

Dagegen legte der Kläger am 30. September 2019 Widerspruch ein, den er damit begründete, dass die unterschiedliche Namensnennung für die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet nicht kausal gewesen sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 2019 und führte zur Begründung an, dass die Leistungen vorbehaltlich der Entscheidung in der Hauptsache gewährt worden seien.

Dagegen hat der Kläger am 29. Dezember 2019 Klage erhoben.

Er trägt vor:
Der Kläger habe Anspruch auf privilegierte Leistungen. Die Beklagte sei hilfsweise trotz unterlassener Bekanntgabe der Fortschreibung im Bundesgesetzblatt verpflichtet, die Grundleistungen fortzuschreiben.

Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 19. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 2019 zu verurteilen, ihm unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen im Zeitraum Oktober in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor:

Eine Änderung der Leistungssätze nach § 3 Absatz 1 und 2 AsylbLG sei ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten. Die Beklagte habe dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu folgen und den Vorbehalt des Gesetzes zu beachten. Der Kläger habe aufgrund der Identitätstäuschung keinen Anspruch auf privilegierte Leistungen.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den zu Parallelverfahren beigezogenen Verwaltungsvorgängen nebst Ausländerakte Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage hat Erfolg.

Die Kammer konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierauf gemäß § 124 Absatz 2 SGG verzichtet haben.

Der Bescheid der Beklagten vom 19. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 2019 erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten.

Der im streitigen Zeitraum im Besitz einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG stehende und damit gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 1 AsylbLG leistungsberechtigte, alleinstehende und sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhaltende Kläger hat in der streitigen Zeit (Oktober 2019) Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG, weil er die 15-monatige Voraufenthalts bzw. Wartezeit zurückgelegt hatte und die Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet zur Überzeugung der Kammer nicht selbst beeinflusst hat.

Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 5. Auflage 2014, § 2 AsylbLG, Rd. 22; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 19. Auflage 2015, § 2 AsylbLG, Rd. 20 m.w.N.). Es handelt sich bei der Prüfung des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens um ein anspruchsausschließendes (rechtshinderndes) Tatbestandsmerkmal (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2007 – B 9b AY 1/06 R -).

Rechtsmissbräuchlich handelt nach den Urteilen des BSG vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AS 1/07 R und B 8 AY 9/07 R) und 02. Februar 2010 (B 8 AY 1/08 R) derjenige, der über die Nichtausreise hinaus sich sozialwidrig unter Berücksichtigung des Einzelfalls verhält, wobei auf eine objektive und eine subjektive Komponente abzustellen ist. Erforderlich ist der Vorsatz bezogen auf eine die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung mit dem Ziel der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Das bloße Unterlassen einer freiwilligen Ausreise trotz Zumutbarkeit genügt in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2007 – B 9b AY 1/06 R -) nicht. Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte bereits mit Urteil vom 20. Dezember 2005 – L 7 AY 40/05 – festgestellt, dass das Ausnutzen einer Duldung nicht rechtsmissbräuchlich sei und ein weiteres Verhalten hinzutreten müsse.

Darüber hinaus setzt das BSG nicht als Tatbestandsmerkmal voraus, dass das missbilligte Verhalten für die Dauer des Aufenthaltes kausal sein müsse, sondern legt eine abstrakt-generelle Betrachtungsweise zugrunde. Demnach muss der Missbrauchstatbestand auch nicht aktuell andauern oder fortwirken. Eine Ausnahme wird für den Fall formuliert, dass aufenthaltsbeenden Maßnahmen während der gesamten Zeit des Aufenthalts aus Gründen, die der Leistungsberechtigte nicht zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Im Falle eines dauerhaften, vom Verhalten des Ausländers unabhängigen Vollzugshindernisses besteht somit eine Ausnahme von dieser typisierenden Betrachtungsweise.

Zum Verhalten des Ausländers hinzutreten muss nach der zitierten Rechtsprechung des BSG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten. Dabei dürfe sich der Leistungsberechtigte nicht auf einen Umstand berufen, welchen er selbst treuwidrig herbeigeführt habe. Der Pflichtverletzung muss in diesem Kontext im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzipes unter Berücksichtigung des Einzelfalles ein erhebliches Gewicht zukommen. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar und damit sozialwidrig ist, soll zum Ausschluss von privilegierten Leistungen führen (vgl. auch Cantzler, Handkommentar zum AsylbLG, 1. Auflage 2019, § 2, Rd. 38). Nach der Rechtsprechung des BSG kann auch ein einmaliges Verhalten diese Rechtsfolge zeitigen. Rechtsmissbräuchliches Verhalten kann nicht durch eine zwischenzeitliche Integration ausgeräumt werden.

Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung unter anderem die Angabe einer falschen Identität oder die Vernichtung des Passes (BT-Drucks 15/420, Seite 121). Dabei erkennt das BSG als Ausnahmefall an, dass das Verhalten eine Reaktion oder vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei welchem um Asyl nachgesucht wird, darstellt. Darüber hinaus nennt das BSG im Urteil vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AY 1/07) auch die Weigerung an der Mitwirkung zur Passersatzbeschaffung als Grund für eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung, sofern eine gesetzliche Regelung für die Mitwirkungshandlung besteht.

Auf der subjektiven Seite setzt nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet Vorsatz voraus.

Dies zugrunde gelegt, liegt zur Überzeugung der Kammer kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vor, das die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet hätte beeinflussen können. Der Kläger hat in anderen Staaten das Asylverfahren unter einer anderen Identität durchlaufen. Dass auch gegenüber den deutschen Behörden eine Identitätstäuschung vorliegt, ist nicht nachweisbar. Die Beklagte – welche für das rechtsmissbräuchliche Verhalten die Darlegungs- und Beweislast trägt – kann aus Sicht des Gerichtes nicht im Wege des Vollbeweises zweifelsfrei nachweisen, dass die bei Einreise in das Bundesgebiet verwendete Identität des Klägers unrichtig ist. Beweiserheblich ist für die jetzigen Angaben nicht eine Täuschung in der Vergangenheit, die außerhalb des Bundesgebietes ohne erkennbare Auswirkungen auf die Dauer des Aufenthaltes in Deutschland erfolgte und hierzu auch nicht geeignet war Die Kammer schließt sich dem Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 12. September 2019 – L 8 AY 12/19 B ER – an.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, weil hier die Beschwer der Beklagten unterhalb des Schwellenwertes von 750,– Euro liegt. Die Berufung wird nicht zugelassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und nicht von einer Entscheidung des Landessozialgerichtes, des Bundessozialgerichtes, des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe oder des Bundesverfassungsgerichtes abweicht sowie auf dieser Abweichung beruht.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.