Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 19.05.2021 – Az.: S 12 AY 8/21 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragsteller,

Prozessbevollm.: Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis Kassel, vertreten durch den Kreisausschuss, Fachbereich Aufsicht und Ordnung,
Wilhelmshöher Allee 19-21, 34117 Kassel,

Antragsgegner,

hat die 12. Kammer des Sozialgerichts Kassel am 19. Mai 2021 durch den Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht xxx, beschlossen:

  1. Auf den am 28. April 2021 bei Gericht eingegangenen Antrag des in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 28. April 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 25. März 2021 und insoweit die mit diesem erfolgte Bewilligung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Zeitraum vom 1. April 2021 bis 30. September 2021 allein noch nach § 1a AsylbLG, angeordnet.
  2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 28. April 2021, dem Antragseingang bei Gericht, bis zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 28. April 2021 gegen den Bescheid vom 25. März 2021, bei Zurückweisung des Widerspruchs und anschließender rechtzeitiger Klageerhebung auch darüber hinaus, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens 1. Instanz, jedoch längstens bis 30. September 2021, wie zuletzt bezogen ungekürzte Leistungen nach § 2 AsylbLG und diese nach der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.
  3. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
GRÜNDE

Der zulässige Antrag ist im entschiedenen Umfang begründet, wobei Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund der den Beteiligten seitens des Kammervorsitzenden unter dem 29. April 2021 im Wortlaut aufgezeigten und auch auf den Antragsteller des vorliegenden Verfahrens anwendbaren Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts (HLSG) einerseits zum Vorliegen erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken gegen Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG u.a. in Fallgestaltungen der auch hier vorliegenden Art, also bei fehlender Passbeschaffung und bestehender Ausreiseverpflichtung (Beschluss vom 26. Februar 2020, L 4 AY 14/19 B ER) und andererseits zum Vorliegen ebenfalls erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die Gewährung von Leistungen an in Gemeinschaftsunterkünften alleinlebenden Asylbewerbern (Beschluss vom 13. April 2021, L 4 AY 3/21 B ER, juris) statt nach der Regelbedarfsstufe 1 allein noch nach der Regelbedarfsstufe 2 folgen (vgl. zu § 1a AsylbLG weiter Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 22. Februar 2021, L 8 AY 9/20 B ER –, juris sowie zu § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG den Vorlagebeschluss des SG Düsseldorf, Beschluss vom 13. April 2021, S 17 AY 21/20 –, juris ). Dieser Rechtsprechung schließt sich die Kammer nach eigener Überprüfung insgesamt an, wobei jedenfalls zu § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG auch bereits eine Reihe von auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung klagestattgebenden Hauptsacheentscheidungen der Kammer vorliegen, in denen entweder der Prozessbevollmächtigte des vorliegenden Antragstellers Prozessbevollmächtigter der dortigen Kläger oder der Antragsgegner des vorliegenden Verfahrens auch dort Beklagter war. Insoweit liegen dann auch im hier konkreten Einzelfall des vorliegenden Antragstellers nach wiederum weiterer Prüfung mit den Ausführungen seines Prozessbevollmächtigten hierzu sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund vor, ohne dass sich insoweit für die Kammer rechtserhebliche Zweifel ergäben, die die Kammer an der insoweit von ihr getroffenen Abwägungsentscheidung gehindert hätten.

Auf der Grundlage der aktenkundigen Ausführungen des HLSG in der oben genannten Entscheidung vom 26. Februar 2020, denen die erkennende Kammer folgt, bestehen bei summarischer Prüfung der Leistungskürzung, denen der Antragsteller bereits wiederholt ausgesetzt gewesen ist, nämlich auch hier die nicht nur vom HLSG formulierten verfassungsrechtlichen Bedenken an der streitigen Leistungskürzung, wobei sich ebenfalls das Sächsische Landessozialgericht nicht nur mit seiner o.a. Entscheidung, sondern ebenfalls zwei weiteren Entscheidungen (vgl. Beschlüsse vom 11. Januar 2021, L 8 AY 10/20 B ER und vom 3. März 2021, L 8 AY 8/20 BER, juris) dahingehend geäußert hat, dass die Regelung in § 1 Abs. 1 S. 2 AsylbLG den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16, zitiert nach juris) genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen widerspreche. Dabei weist das Sächsische Landessozialgericht darauf hin, dass aus der Kürzung nach § 1a AsylbLG einem von der Leistungseinschränkung betroffenen Ausländer rund 50% seines monatlichen Regelbedarfs vorenthalten werde. Das Bundesverfassungsgericht habe die Sanktionsnormen im SGB II für verfassungswidrig erklärt, die über die Höhe der Leistungsminderung selbst bei wiederholten Pflichtverletzungen von 30% hinausgehen würden. Kürzungen i.H.v. 60% habe es als unzumutbar und für verfassungswidrig beurteilt.

Gleiches gilt mit der Rechtsprechung der Kammer (SG Kassel, u.a. Urteile vom 19. November 2020, S 12 AY 56/20 und S 12 AY 44/20) und der des HLSG (Beschluss vom 13. April 2021) dann aber auch bezogen auf § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sowie § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG

Im Rahmen der Folgenabwägung ist dem Antragsteller daher einerseits die weitere Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG jedenfalls im Rahmen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Ansprüche nicht zuzumuten und der Antragsgegner ist dazu zu verpflichten, vorläufig ungekürzte Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren (vgl. hierzu auch SG Kassel, Beschluss vom 5. Mai 2021, S 11 AY 7/21 ER und SG Marburg, Beschluss vom 13. April 2021, S 9 AY 1/21 ER); gleiches gilt andererseits und darüber hinausgehend dann aber auch für eine alleinige Leistungsgewährung nach der Regelbedarfsstufe 2 statt nach der Regelbedarfsstufe 1. Dies auch unabhängig davon, dass mit dem HLSG (Beschluss vom 13. April 2021) die Leistungshöhen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nach summarischer Prüfung darüberhinausgehend auch unionsrechtswidrig sind.

Bei der Entscheidung ist insoweit letztlich und in erster Linie auf die Aussichten im Hauptverfahren abzustellen. Ist eine Klage offensichtlich begründet, wird die Anordnung in der Regel erlassen, ist sie offensichtlich unbegründet, wird sie in der Regel abgelehnt. Liegen schließlich beide Voraussetzungen nicht offensichtlich vor, ist darüber hinaus im Rahmen des Ermessens eine Interessenabwägung durchzuführen. Dabei müssen in Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz die Gerichte bei der Auslegung der anzuwendenden Vorschriften der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte und den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung tragen und insbesondere die Folgen der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes berücksichtigen. Je schwerer die Belastungen hieraus wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden. Insoweit reicht es in diesen Fällen aus, dass bei einer überschlägigen Prüfung der Sach- und Rechtslage Gründe dafürsprechen, dass ein Anspruch auf Gewährung der begehrten Leistung besteht (Anordnungsanspruch).

Dies deshalb, weil mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) u.a. vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02 und vom 19. März 2004, 1 BvR 131/04, das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition umso weniger zurückgestellt werden darf, je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt insoweit auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>; 94, 166 <216>). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (vgl. Beschluss der 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 25. Juli 1996, NVwZ 1997, Seite 479).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen mit dem HLSG (Beschluss vom 21. März 2007, L 7 AY 14/06 ER, mzwN) sodann aber auch nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Dies deshalb, weil Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System bilden.

Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei diese regelmäßig dann zugunsten des Bürgers ausfällt, wenn dessen grundgesetzlich aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot herzuleitender Anspruch auf Führung eines menschenwürdigen Lebens gefährdet wäre. Insoweit sind grundrechtliche Belange eines Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die z.B. darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt. Denn im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (vgl. u.a. HLSG, Beschlüsse vom 27. Juli 2005, L 7 AS 18/05 ER und vom 19. Juni 2008, L 7 AS 32/08 B ER).

Die im Rahmen der summarischen Prüfung vorzunehmende umfassende Interessenabwägung führt insoweit zum Überwiegen des Anordnungsinteresses des Antragstellers vor dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners, d.h., bei offenem Ausgang der Hauptsache überwiegen die Interessen des Antragstellers an der vorläufigen Leistungsgewährung.

Auf Grund der erheblichen Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 1a Absatz 7 SGG einerseits und der Leistungshöhen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG andererseits sowie den daraus drohenden erheblichen Nachteilen des Antragstellers für dessen Existenzsicherung war dem Antrag vorliegend stattzugeben.

Die Kostenentscheidung folgt § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.