Tacheles Rechtsprechungsticker KW 21/2021

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urt. v. 19.05.2021 – B 14 AS 57/19 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Unterkunftskosten – Mietwohnung – Heizkostennachforderung – Unwirtschaftliches Heizverhalten

Heizkostennachforderung ist kopfteilig als Bedarf anzuerkennen.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Voraussetzung für die Übernahme einer Nachforderung ist grundsätzlich, dass sich der geltend gemachte Bedarf auf die aktuell bewohnte Wohnung bezieht. Davon sind unter weiteren Voraussetzungen Ausnahmen anerkannt, wenn ein durchgehender SGB II-Leistungsbezug vorliegt. Nichts anderes gilt, wenn wegen vorrangig zu beantragendem Kinderwohngeld eine Unterbrechung des Leistungsbezugs eintritt.

2. Die den Grenzwert des „Bundesweiten Heizspiegels“ übersteigende Nachforderung ist als Bedarf der Klägerinnen anzuerkennen. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Ablehnung der Übernahme unangemessener Unterkunfts- oder Heizkosten grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren voraus, das den Leistungsberechtigten in die Lage versetzt, seiner vom Gesetz vorgesehenen Kostensenkungsobliegenheit nachzukommen.

3. Die mit einer Kostensenkungsaufforderung verbundene Warn- und Aufklärungsfunktion ist auch in Bezug auf Heizkosten, welche die Grenzwerte des „Bundesweiten Heizspiegels“ überschreiten und ein unwirtschaftliches Heizverhalten indizieren, nicht entbehrlich.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis:
Bei zu hohen Heizkosten muss Jobcenter zum Einsparen auffordern

weiter: www.evangelisch.de

1.2 – BSG, Urt. v. 19.05.2021 – B 14 AS 39/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Unterkunftskosten – Mietwohnung – Tiefgaragenstellplatz

Höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung unter Berücksichtigung des sog „Garagenzuschlags“.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage sind als Bedarf für Unterkunft und Heizung nur dann anzuerkennen, wenn – wie hier – Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses sind, eine Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz nicht möglich und die Gesamtmiete angemessen ist. In diesem Fall besteht eine Obliegenheit zur Kostensenkung, zum Beispiel durch Untervermietung des Stellplatzes, nicht.

2. Weder auf § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II, der die Überschreitung der Angemessenheitsgrenze voraussetzt, noch auf den allgemeinen Nachranggrundsatz des § 2 Abs 1 Satz 1 SGB II kann eine solche Obliegenheit gestützt werden.

3. Bei Letzterem handelt es sich nicht um einen eigenständigen Ausschlusstatbestand, sondern um eine Grundsatznorm, die durch die speziellen Regelungen des SGB II ausgestaltet wird und der regelmäßig nur im Zusammenhang mit diesen Vorschriften Bedeutung zukommt. Das ausdifferenzierte Normprogramm des § 22 SGB II trägt dem Nachranggrundsatz bereits Rechnung.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis:
Garagenstellplatz ausnahmsweise auf Kosten des Jobcenters

Jobcenter dürfen Hartz-IV-Beziehern die Übernahme der Kosten für einen angemieteten Garagenstellplatz nicht pauschal verweigern. Sind die Unterkunftskosten angemessen und ist der Stellplatz untrennbar mit dem Wohnungs-Mietvertrag verbunden, muss das Jobcenter die vollen Mietaufwendungen übernehmen.

weiter: www.evangelisch.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 20.04.2021 – L 3 AS 350/21 B ER

Einstweiliger Rechtsschutz – Regelungsanordnung – hygienebedingter Mehrbedarf (FFP2-Schutzmasken)

Leitsatz (Redakteur)
Kein Mehrbedarf für FFP2-Masken, da ein Mehrbedarf des Antragstellers nicht unabweisbar ist, weil er unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsparmöglichkeiten in anderen Bereichen gedeckt ist und zudem seiner Höhe nach nicht erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Quelle: gesetze.berlin.de

2.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.04.2021 – L 18 AS 132/21

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Antragserfordernis – Antrag auf Alg nach dem SGB III umfasst nicht grundsätzlich Antrag auf Alg II – keine rückwirkende Leistungsgewährung – kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

Leitsatz
Ein Antrag auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III umfasst nicht grundsätzlich einen Antrag auf Arbeitslosengeld nach dem SGB II (Anschluss an BSG, Urteil vom 2. April 2014 – B 4 AS 29/13 R).

Quelle: gesetze.berlin.de

Anmerkung von Harald Thomé:
Es ist aber immer zu prüfen, inwieweit die Arbeitsagentur nicht einen Beratungsunterlassungsfehler nach § 14 SGB I durchgeführt hat und nicht auf die sinnvolle Antragstellung nach dem SGB II hingewiesen hat. Denn in den Fällen in denen SGB III – Leistungen nicht gewährt wurden, musste schon bei der Antragstellung offensichtlich sein, dass hier möglicherweise die Voraussetzungen für einen Anspruch nach ALG I nicht erfüllt sein könnten.

Auch wäre zu prüfen, ob im Versagungsbescheid ein Hinweis auf die wiederholte Antragstellung nach § 28 SGB X, mit der verkürzten Frist in Bezug auf das ALG II erfolgte (§ 40 Abs. 7 SGB II), in beiden genannten Punkten könnte ggf. ein Anspruch über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auf rückwirkende SGB II – Leistungen wegen unterlassener Beratung geltend gemacht werden.

2.3 – LSG Hessen, Beschluss v. 07.05.2021 – L 9 AS 158/21 B ER

Jobcenter muss FFP2-Masken nicht bezahlen

Das LSG Darmstadt hat in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren entschieden, dass Bezieher von Grundsicherungsleistungen (Hartz IV) keinen Anspruch auf zusätzliche Leistungen für den Kauf von FFP2-Masken haben.

Kurzfassung:
Kosten für FFP2-Masken sind kein Hartz-IV-Mehrbedarf

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3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 04.05.2021 – S 33 AS 592/19

Durch ein aktuelles Urteil vom 04.05.2021 (nicht rechtskräftig), welches ebenfalls durch die Anwaltskanzlei Audörsch erstritten wurde, hat das Sozialgericht Schleswig abermals klargestellt, dass der Kreis Nordfriesland nicht über ein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der sog. Mietobergrenze für Leistungsbezieher*innen (SGB XII, SGB II [Hartz 4]) verfügt, jedoch wurde nunmehr auch die schlüssige Vergleichsraumbildung in Frage gestellt.

Hierzu hat des Sozialgericht Schleswig folgendes ausgeführt: westkuestenanwalt.com

3.2 – SG Schleswig, Gerichtsbescheid vom 10.05.2021 – S 33 AS 349/20

Das Sozialgericht Schleswig hat aufgrund der erfolgreichen Tätigkeit der Anwaltskanzlei Audörsch durch Gerichtsbescheid vom 10.05.2021 (S 33 AS 349/20 – nicht rechtskräftig) festgestellt, dass es sich bei dem Verkaufserlös durch die Veräußerung eines gesamten Unternehmens nicht um Einkommen, sondern um Vermögen handelt.

Insoweit nimmt das Sozialgericht Schleswig auf die von der Anwaltskanzlei Audörsch im Rahmen des Klageverfahrens angeführte Entscheidung des SG Karlsruhe Bezug und begründet seine Entscheidung damit wie folgt: westkuestenanwalt.com

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen vom 03.05.2021 – L 8 SO 47/21 B ER

Leitsatz RA Michael Loewy
1. Den Antragsteller trifft im Rahmen der Selbsthilfe keine „Obliegenheit“ zur Stellung eines Antrags auf Eingliederungshilfe.

2. Ein die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 Satz 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK; BGBl. II 2008, 1419) wahrendes Recht der Eingliederungshilfe, das die Autonomie, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung behinderter Menschen anerkennt, hat auch die individuelle Entscheidung zu achten und zu respektieren, auf Hilfe zu verzichten.

3. Eine Mitwirkungspflicht, durch die Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe eine „Besserung“ des Betroffenen zu erreichen, verfolgt kein legitimes Ziel; es gibt keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über die Grundrechts-berechtigten (vgl. BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 – juris Rn. 127 m.w.N.).

Quelle: www.anwaltskanzlei-loewy.de

4.2 – SG Schleswig, Urteil vom 23.11.2020 – S 12 SO 114/17

Das Sozialgericht in Schleswig hat in einer weiteren, durch die Anwaltskanzlei Audörsch erfolgreich erstrittenen Entscheidung (Urteil vom 23.11.2020, nicht rechtskräftig) festgestellt, dass das Konzept zur Ermittlung der Mietobergrenzen im Kreis Nordfriesland nicht transparent und damit unschlüssig ist‚ da u.a. die erhobenen Daten keine Überprüfung dahingehend zulassen, ob diese Daten die Vermieterstruktur im Vergleichsraum widerspiegeln.

Konkret nimmt das Gericht auf eine Entscheidung des Schleswig-Holsteinisches LSG Bezug und führt folgendes aus: westkuestenanwalt.com

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – SG Kassel v 19.5.2021, S 11 AY 9/21 ER

SG Kassel v 20.5.21, S 12 AY 10/21 ER

Dazu RA Volker Gerloff:
Kein Corona-Zuschlag für „AsylbLG-Kinder“ – einzige Gruppe die leer ausgeht und eh schon am wenigsten hat.

Sauerei, aber wohl rechtlich nicht angreifbar bzw. nur mit enormem Aufwand…

Quelle: twitter.com

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – BVerfG 2. Senat, Beschluss vom 07.07.2020 – 2 BvR 696/12

Autor: Prof. Dr. Steffen Luik, RiBSG

Verfassungswidrigkeit der Aufgabenübertragung des Bildungs- und Teilhabepakets im SGB XII auf die Kommunen

Leitsätze
1. Art. 28 Abs. 2 GG wird durch das Durchgriffsverbot des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG näher ausgestaltet. Es untersagt dem Bund, den Kommunen neue Aufgaben zu übertragen.

2. Ein Fall des Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG liegt vor, wenn ein Bundesgesetz den Kommunen erstmals eine bestimmte Aufgabe zuweist oder eine damit funktional äquivalente Erweiterung einer bundesgesetzlich bereits zugewiesenen Aufgabe vornimmt.

3. Eine Anpassung bundesgesetzlich bereits zugewiesener Aufgaben an veränderte ökonomische und soziale Umstände ist nach Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG zulässig.

Quelle: www.juris.de

6.2 – Bagatellgrenze für Rückforderungen im SGB II

Die FDP-Fraktion fordert die Einführung einer Bagatellgrenze für Rückforderungen im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II).

Sie fordern deshalb eine Bagatellgrenze von 36 Euro für Rückforderungen im SGB II.

weiter: www.juris.de

6.3 – BVerfG-Vorlage zur Verfassungsmäßigkeit des BAföG-Bedarfssatzes für Studierende

Die Regelung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), nach der im Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 ein monatlicher Bedarf für Studierende in Höhe von 373 Euro galt (§ 13 Absatz 1 Nummer 2 BAföG), verstößt nach Überzeugung des BVerwG gegen den aus dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten folgenden Anspruch auf Gewährleistung des ausbildungsbezogenen Existenzminimums (Artikel 12 Absatz 1, Artikel 3 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 GG).

Das Bundesverwaltungsgericht hat deshalb beschlossen, dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Vereinbarkeit des Bedarfssatzes mit den genannten Bestimmungen des Grundgesetzes zur Entscheidung vorzulegen.

weiter: www.juris.de

Wir wünschen allen Lesern frohe Pfingsten.

Hinweis Redakteur:
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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker