Tacheles Rechtsprechungsticker KW 24/2021

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urteil vom 23. März 2021 (B 8 SO 2/20 R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine bedürftige Person, die wegen des Bezugs einer Altersrente (§§ 35 ff. SGB VI) aufgrund von § 21 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht mehr dem Leistungssystem des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) zugeordnet werden darf, kann auch nicht mit Bezug auf den aus § 2 Abs. 1 SGB XII hervorgehenden Nachranggrundsatz vom Sozialhilfeträger von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß den §§ 41 ff. SGB XII in Verbindung mit den §§ 27 ff. SGB XII ausgeschlossen werden, weil (wohl) ein Wohngeldanspruch in einer den ungedeckten Bedarf übersteigenden Höhe besteht.

§ 2 Abs. 1 SGB XII stellt grundsätzlich keine isolierte Ausschlussnorm, sondern lediglich ein Gebot im Sinne eines Programmsatzes, ohne eine eigenständige, normative Bedeutung dar.

Für die Anwendung des § 2 Abs. 1 SGB XII ist es nicht von maßgebender Bedeutung, ob eine bedürftige Person gegen Dritte einen durchsetzbaren Anspruch geltend machen kann, sondern ob ein zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen vorhanden ist, oder die Leistung von anderen (tatsächlich) erhalten wird, d. h. eine unmittelbare, direkte Möglichkeit besteht, einen notwendigen Bedarf aus eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln zu decken.

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 06.05.2021 – L 31 AS 445/21 B ER, L 31 AS 446/21 B ER PKH

Aufenthaltsrecht – Bescheinigungen der Arbeitsagentur – Meldebescheinigung – Glaubhaftmachung – Einseitige Anordnung

Leitsatz (Redakteur)
1. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war abzulehnen, denn nach der ständigen Rechtsprechung des 31. Senats ist die Bescheinigung der Bundesagentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit Voraussetzung für das Fortbestehen eines Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 3 S. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU ist und bei einem Leistungsanspruch nach § 7 Absatz 1 S. 2 SGB II ein gewöhnlicher Aufenthalt durch die Vorlage entsprechender Meldebescheinigungen notwendig ist (so zuletzt Beschluss vom 4. Mai 2020, L 31 AS 602/20 B ER).

2. Die vorgelegten Erklärungen des Antragstellers und seiner Tante können schon deshalb nicht zu einer anderen Einschätzung führen, weil sie die gesetzlich vorgesehenen Bescheinigungen (Meldebescheinigungen und Bescheinigungen der Agentur für Arbeit) nicht ersetzen können.

Quelle: gesetze.berlin.de

2.2 – LSG Baden-Württemberg Urteil vom 22.4.2021 – L 7 AS 4054/18

Leitsätze
Ein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Nettokaltmiete kann auch allein gestützt auf Angebotsmieten ohne Berücksichtigung von Bestandsmieten entwickelt werden. Aus § 22c Abs. 1 Satz 3 SGB II folgt keine Pflicht zur Berücksichtigung von Bestandsmieten bei der Erstellung eines schlüssigen Konzepts. Werden bei der Datenerhebung alle Wohnungen einer Wohnungsgrößenklasse erfasst und nicht nur Wohnungen mit einfachem Standard, ist es zulässig, als Angemessenheitsgrenze den obersten Wert des unteren Drittels zugrunde zu legen.

Quelle: lrbw.juris.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Magdeburg vom 21.05.2021 – S 5 AS 2586/15

Leitsatz RA Michael Loewy
1. Wird der Wohnungsmarkt nicht deutlich überwiegend oder nahezu ausschließlich durch große Wohnungsunternehmen und Genossenschaften geprägt, bedarf es zur repräsentativen Abbildung des Wohnungsmarktes der Sicherstellung, dass auch ausreichend Daten von kleineren Vermietern in die Erhebung einfließen. Diesen Anforderungen genügt das nachgebesserte Konzept des Landkreises Harz nicht, denn Datensätze der privaten Vermieter sind mit lediglich 13 Prozent und damit nicht proportional in das Konzept für den Vergleichsraum eingeflossen.

2. Insoweit genügt es nicht – in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung der Kammer (S 5 AS 213/15) -, dass die verschiedenen Anbieter der Mietwohnungen zumindest in signifikanter Weise nicht notwendig proportional bei der Datenermittlung vertreten sein müssen.

3. Das nachgebesserte Konzept des Landkreises Harz 2012 ist – entgegen LSG Sachsen-Anhalt L 5 AS 391/19 ZVW – unschlüssig. [nicht rechtskräftig]

Quelle: www.anwaltskanzlei-loewy.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Schleswig- Holstein, Urt. v. 28.04.2021 – L 9 SO 1/21

Streitigkeiten nach dem SGB XII

Leitsatz
1. Erledigt sich der Anspruch (hier: auf Zustimmung zum Umzug gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 SGB XII) vor Erhebung des Widerspruchs, führt dies nicht zur Erledigung des Widerspruchsverfahrens; der Widerspruch ist vielmehr anfänglich unzulässig.

2. Die Unzulässigkeit eines Widerspruchs entbindet den Leistungsträger grundsätzlich nicht von der Verpflichtung, diesen innerhalb angemessener Frist zu bescheiden.

3. Ein Fall rechtmissbräuchlicher Rechtsverfolgung, der dem Bescheidungsanspruch ausnahmsweise entgegenstehen kann, liegt nicht schon dann vor, wenn das materielle Rechtsschutzziel mit dem Widerspruch nicht mehr erreicht werden kann.

Quelle: www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 09.06.2021 – Az.: L4 AY 5/21 B ER

Normen: § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, §§ 3 Abs. 1 und 2, 3 a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG – Schlagworte: AsylbLG, Regelbedarfsstufe 2b, Regelbedarfsstufe 1, Sammelunterkunft, Gemeinschaftsunterkunft

Hessisches LSG zu Regelbedarfsstufe 1 für Alleinstehende in Gemeinschafts-/Sammelunterkünften

Orientierungshilfe (Redakteur von Tacheles e. V.)
1. § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sind bei wortlautgetreuer Auslegung nicht mit Art. 1 GRC, Art. 20 GRC i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL zu vereinbaren.

Wegen des gleichzeitigen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte greift hier nicht lediglich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die den gleichen Restzweifeln unterliegt wie die verfassungskonforme Auslegung. Vielmehr führt der Anwendungsvorrang von Art. 1 und Art. 20 GRC zur Nichtanwendung der unionsrechtswidrigen Ausnahmeregelungen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG und zur wohnsituationsunabhängigen Anwendung der Regelbedarfsstufen bei Alleinstehenden (vgl. Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 13.04.2021 – Az.: L 4 AY 3/21 B ER).

Quelle: RA Sven Adam

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – Anmerkung zu: BSG, Urteil vom 24.06.2020 – B 4 AS 12/20 R

Autor: Ursula Spiolek, Ri’inLSG
Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente bei Pflege des Ehepartners und Aufnahme eines Kindes in Vollzeitpflege

Orientierungssätze
1. Die Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung – UnbilligkeitsV – vom 14.04.2008 – BGBl I 2008, 734) regelt abschließend die Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen die Verpflichtung, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, für den Leistungsberechtigten unbillig wäre (vgl. BSG, Urt. v. 19.08.2015 – B 14 AS 1/15 R Rn. 19, 23 f. – BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr 1).

2. Nicht erfassten unzumutbaren Härten kann im Rahmen der Ermessensausübung begegnet werden (vgl. BSG, Urt. v. 19.08.2015 – B 14 AS 1/15 R a.a.O.).

3. Eine etwa zweieinhalb Jahre umfassende Zeitspanne zwischen dem möglichen Beginn einer abschlagsbehafteten Altersrente und der abschlagsfreien Regelaltersrente ist zu lang, um noch die Anforderung einer bevorstehenden abschlagsfreien Altersrente i.S.d. § 3 UnbilligkeitsV erfüllen zu können.

4. Zum Vorliegen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder sonstigen Erwerbstätigkeit i.S.d. § 4 UnbilligkeitsV (hier: Geltendmachung von Pflegezeiten).

5. Der Ausnahmetatbestand des § 6 UnbilligkeitsV findet auf Zeiten vor dessen Inkrafttreten, etwa bei noch nicht bestandskräftigen Aufforderungsbescheiden, keine Anwendung.

Quelle: www.juris.de

6.2 – Verrechnung von Kindergeld mit Sozialhilfe setzt Konkretisierung des sozialhilferechtlichen Erstattungsanspruchs voraus

Die Familienkassen dürfen versehentlich ausgezahltes Kindergeld nicht mehr zurückfordern, wenn der Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers (hier: Jobcenter) bei der Kindergeldauszahlung noch nicht ausreichend konkretisiert war.

weiter: www.juris.de

6.3 – Rechte von Schutzsuchenden in Deutschland gestärkt – zu EuGH, Urteil vom 10.06.2021 – C-901/19

Wird beiden zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten subsidiärer Schutz beantragt, müssen sie zur Feststellung des Grades der Intensität eines bewaffneten Konflikts sämtliche relevanten Umstände prüfen, die die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnen Wenden diese Behörden systematisch ein einziges quantitatives Kriterium an, wie eine Mindestzahl ziviler Opfer, könnten Personen ausgeschlossen werden, die tatsächlich Schutz benötigen.

Quelle: curia.europa.eu

Hinweis Redakteur:
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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker