Tacheles Rechtsprechungsticker KW 28/2021

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 27. Januar 2021 (B 14 AS 25/20 R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist nicht vertretbar, wenn sich die Bedarfsgemeinschaft auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 berufen kann.

Hiernach können Kinder eines Angehörigen eines EU-Mitgliedsstaates, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates beschäftigt oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedsstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Angehörigen dieses Mitgliedsstaates am allgemeinen Unterricht teilnehmen.

Dieses Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur Teilnahme am Unterricht vermittelt sowohl den Kindern als auch den sie betreuenden Elternteilen ein materielles Aufenthaltsrecht. Dieses Recht knüpft an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils an, reicht aber zeitlich über die Dauer der Beschäftigung dieser Person im Bundesgebiet hinaus.

Wenn die Kinder einer alleinerziehenden Bulgarin in Deutschland die Schule besuchen, während ihre Mutter einer Tätigkeit als Helferin in einem Lebensmittelladen nachgeht, handelt es sich bei diesem Haushaltsvorstand um eine Arbeitnehmerin im Sinne des Art. 45 AEUV.

Selbst wenn eine Unionsbürgerin eine Arbeitnehmereigenschaft einzig in missbräuchlicher Absicht erlangen will, dann ändert dies nichts an der Stellung dieser Person als Arbeitnehmerin.

Von maßgebender Bedeutung sind hier die objektiven Umstände, ob die ausgeübte Tätigkeit echt sowie nicht nur unwesentlich und untergeordnet war. Eine geringfügige Beschäftigung mit einer vereinbarten Arbeitszeit von acht Stunden pro Woche und einer Vergütung von EUR 250,- monatlich erfüllt die Mindestanforderungen an den Umfang, an die Dauer und an die Vergütungshöhe einer hier anerkennungsfähigen Beschäftigung.

Ein Bestehen einer Missbrauchsabsicht ist an dieser Stelle vom zuständigen Sozialleistungsträger nachzuweisen, d. h. Diese Sozialbehörde hat eine antragstellerseitig verfolgte Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, indem die entsprechenden Voraussetzungen künstlich bzw. willkürlich verschafft werden, nachzuweisen.

1.2 – BSG, Urteil vom 27. Januar 2021 (B 14 AS 42/19 R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 steht einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2a) SGB II entgegen. Dieses Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur weiteren Teilnahme am Unterricht einer Regelschule vermittelt sowohl den Kindern als auch den sie betreuenden Elternteilen ein materielles Aufenthaltsrecht.

Die Ausübung einer Beschäftigung mit einer monatlichen Vergütung von EUR 500,- stellt eine Arbeitnehmertätigkeit dar, die gerade nicht in einem

völlig untergeordneten Umfang erfolgt, auch wenn diese Tätigkeit lediglich über einen Zeitraum von zwei Monaten hinweg verrichtet wurde.

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 03.06.2021 – L 7 AS 1234/17

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Arbeitslosengeld II – Kosten der Unterkunft und Heizung – Umzug eines unter- 25- jährigen – Zusicherung durch kommunalen Träger – Anwendung und Auslegung des § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II

Leitsatz (Juris)
Der “Wiederauszug” eines unter- 25-jährigen aus der elterlichen Wohnung in eine eigene Unterkunft löst, nach einem vorangegangenen “Wiedereinzug” in eine elterliche Wohnung, jedenfalls dann das Zusicherungserfordernis nach § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II aus, wenn der unter- 25-jährige vor dem “Wiedereinzug” zu keinem Zeitpunkt, unabhängig von staatlichen Grundsicherungs- und Transferleistungen, auf eigenen Beinen gestanden hat.

Quelle: Juris

2.2 – LSG Hessen, Beschluss v. 31.05.2021 – L 6 SF 1/21 DS B ER

Sozialdatenschutz, SGB II, allgemeines Prozessrecht

Leitsatz
1. Die Tätigkeit einer Richterin als Stadtverordnete und Mitglied des Ausschusses für Soziales, Gesundheit und Sport vermag nicht schon Misstrauen gegen ihre Unparteilichkeit zu rechtfertigen.

2. Außerhalb des Anwendungsbereichs von § 60 Abs. 3 SGG ist die Besorgnis von Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters bzw. einer Richterin nur dann gerechtfertigt, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte für eine konkret ins Gewicht fallende Interesseneinbindung bestehen.

3. Soweit der Antragsteller die Löschung seiner Sozialdaten aus den Akten des Antragsgegners begehrt, richtet sich dieser Anspruch nach § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB X.

4. Der Streitwert ist gemäß §§ 197a SGG, 52 Abs. 2 GKG auf 2.500,00 Euro festzusetzen. Der Sach- und Streitstand bietet für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte und es ist sachlich nicht gerechtfertigt, das Interesse eines Antragstellers im Beschwerdeverfahren, mit dem Interesse an einer Hauptsacheentscheidung gleich zu bewerten.

Quelle: www.rv.hessenrecht.hessen.de

2.3 – LSG Niedersachsen- Bremen, Urt. v. 03.05.2021 – L 11 AS 234/18

Keine Abtretung von Hartz-IV-Ansprüchen zur Tilgung von Altschulden

Orientierungshilfe (Redakteur Tacheles e. V.)
Die Abtretung von Hartz-IV-Ansprüchen zur Tilgung von Altschulden liegt nicht im wohlverstandenen Interesse des Leistungsberechtigten und ist damit unwirksam.

Pressemitteilung des LSG Celle-Bremen Nr. 15/2021 v. 05.07.2021 und Volltext sowie hier: rsw.beck.de

s. a. dazu Leitsatz Dr. Manfred Hammel

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 3. Mai 2021 (L 11 AS 234/18):
Zur Auslegung und Anwendung des § 53 Abs. 2 Nr. 2 SGB I, wenn ein Vermieter mit seiner Arbeitslosengeld II beziehenden Mieterin eine Vereinbarung des Inhalts abgeschlossen hat, dass zur Finanzierung von Nebenkostennachforderungen vom Regelbedarf ein Betrag in einer Höhe von monatlich EUR 50,- an ihn abgetreten wird.

Die Abtretung von Bestandteilen der Regelbedarfsleistungen (§ 20 SGB II) liegt nicht im wohlverstandenen Interesse i. S. d. § 53 Abs. 2 Nr. 2 SGB I von Alg II erhaltenden Personen.

Dies gilt gerade dann, wenn vom SGB II-Träger die von ihm für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II fortlaufend bewilligten Leistungen bislang entsprechend § 22 Abs. 7 SGB II dem Vermieter direkt angewiesen wurden.

Die für die Begleichung der Nachforderungen aus den Betriebskostenabrechnungen geltend gemachten Monatsbeträge und die hierauf bezogenen Abtretungen stellten Abtretungen aus Regelbedarfsleistungen dar, die der Sicherung des Lebensunterhalts dienen.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Alg II beziehenden Person würden hier bei einer Bejahung eines wohlverstandenen Interesses im Sinne des § 53 Abs. 2 Nr. 2 SGB I in einem erheblichen Maße beeinträchtigt werden, weil als Ergebnis der Durchführung einer entsprechenden Abtretung keine ausreichenden Mittel zur Sicherung lebensnotwendiger Bedarfe mehr zur Verfügung stehen würden.

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – SG Saarbrücken, Urt. v. 22.02.2021 – S 21 AS 821/19

Jobcenter dürfen Unterkunftskosten nicht auf Grundlage ihrer Konzepte kürzen

Das SG Saarbrücken hat in mehreren Verfahren entschieden, dass Jobcenter die zu gewährenden Unterkunftskosten für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II (“Hartz IV”) nicht gemäß ihren selbst erstellten Konzepten kürzen und auf die dabei errechneten Grenzwerte beschränken dürfen (“Grundsicherungsrelevante Mietspiegel”).

Das Sozialgericht hat im Rahmen der Überprüfung dieser Konzepte festgestellt, dass diese und ihre Fortschreibungen nicht den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechen und damit „nicht schlüssig“ sind. Das Vorgehen der Jobcenter, Vergleichsräume mittels eines sogenannten „clusteranalytischen Verfahrens“ zu bilden, ist nach Auffassung des Sozialgerichts für das Saarland insbesondere mit den Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 30.01.2019 (u.a. B 14 AS 24/18 R) nicht vereinbar. Dies hat zur Folge, dass zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten grundsätzlich die Tabellenwerte nach dem Wohngeldgesetz zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10 % und damit regelmäßig höhere Werte heranzuziehen sind. Die Übernahme von darüber hinaus gehenden Unterkunftskosten bleibt dabei möglich, wenn eine leistungsberechtigte Person tatsächlich keinen Wohnraum zu diesem Wert gefunden hat (vgl. u.a. Urteile vom 29.10.2020 – S 21 AS 716/17 <Landkreis Neunkirchen>; vom 25.01.2021 – S 21 AS 1021/19 <Landkreis Saarlouis> und vom 22.02.2021 – S 21 AS 821/19 <Regionalverband Saarbrücken>; es wurde jeweils Berufung eingelegt).

Quelle: Pressemitteilung des SG Saarbrücken v. 06.07.2021

3.2 – SG München, Urteil v. 18.05.2021 – S 8 AS 2502/19

Zur Frage des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft, hier verneinend.

Leitsatz (Redakteur Tacheles e. V.)
1. Bei Partnern, die kürzer als ein Jahr zusammenwohnen, können nur gewichtige Umstände die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft begründen (LSG Niedersachsen-Bremen v. 08.07.2009 – L 7 AS 606/09 B ER – FEVS 61, 523; LSG Nordrhein-Westfalen v. 16.02.2009 – L 19 AS 70/08; LSG Nordrhein-Westfalen v. 04.07.2007 – L 19 B 56/07 AS ER – FEVS 59, 128; LSG Berlin-Brandenburg v. 18.01.2006 – L 5 B 1362/05 AS ER).

2. Nicht jede Form der solidarischen, aus freundschaftlicher Verbundenheit geplanter und organisierter Hilfsbereitschaft bei der Kinderbetreuung, um Arbeit und Ausbildung zu ermöglichen (die gerade unter alleinerziehenden Menschen vollkommen unabhängig von Partnerschaften und Wohnformen nicht nur absolut üblich, sondern geradezu conditio sine qua non für die Ausübung eines Berufes bzw. einer Ausbildung ist) bedeutet auch, dass daraus eine gegenseitige „Versorgung“ von Kindern im Sinne des § 7 Abs. 3a Nr. 3 SGB II zu folgern wäre.

Quelle: www.gesetze-bayern.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Sozialgericht Münster, Beschluss vom 12. Oktober 2020 (S 20 SO 177/20 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Ein Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII kann nicht erfolgen, wenn sich die antragstellenden EU-Ausländerinnen auf das Gleichbehandlungsgebot gemäß Art. 1 EFA berufen können.

In Bezug auf das EFA hat die BR Deutschland keinen Vorbehalt im Zusammenhang mit der Gewährung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt erklärt. Ein Aufenthaltsrecht kann hier aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a) FreizügG/EU) abgeleitet werden.

4.2 – LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Mai 2021 (L 9 SO 56/21 B ER):

Bejahende Anwendbarkeit der Rückausnahme bei einem Wohnungslosen rumänischen Bedürftigem, auch wenn er sich nicht bei der Meldebehörde angemeldet hat (Orientierungssatz Redakteur Tacheles e. V.)

Zum Vorliegen der Voraussetzungen der Rückausnahme gemäß § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII im Fall eines seit 2009 wohnungslos im Bundesgebiet lebenden rumänischen Staatsangehörigen, der um Leistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII nachsucht.

Der Anwendung dieser Rückausnahme steht nicht entgegen, wenn keine Meldung bei der zuständigen Kommunalbehörde vorliegt, d. h. § 23 Abs. 3 Satz 8 SGB XII nicht zur Anwendung gelangt, weil bedingt durch Obdachlosigkeit und dem Fehlen einer eigenen Wohnung keiner Meldepflicht entsprochen zu werden hatte. Es lag hier nur ein Aufenthalt in Notschlafstellen und im öffentlichen Straßenraum eines großstädtischen Ballungszentrums vor.

Erstritten durch H&M Kanzlei – Berlin

Volltext: www.justiz.nrw.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – LSG München, Urteil v. 21.05.2021 – L 8 AY 109/20

Titel:
Leistungen, Einkommen, Unterkunft, Bescheid, Aufenthaltserlaubnis, Asylantrag, Arbeitsvertrag, Lebensunterhalt, Heizung, Unterkunftskosten, Berufung, Kostenerstattung, Asylbewerber, Widerspruchsbescheid, Unterkunft und Heizung, Kosten der Unterkunft, Kosten der Unterkunft und Heizung

Leitsätze:
1. Zur Anwendung von § 44 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 9 Abs. 4 AsylbLG bei Erstattungsforderungen.

2. Mit den §§ 21, 22 DVAsyl a.F. konnte keine wirksame Pauschalierung i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG erfolgen.

Quelle: www.gesetze-bayern.de

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – Es bewegt sich etwas: Mittlerweile liegen dem Bundesverfassungsgericht (mindestens) drei Verfahren zur Entscheidung vor, in denen es um die Verfassungswidrigkeit der Leistungen nach dem AsylbLG geht.

Ein Beitrag von Claudius Voigt

·         Eine Verfassungsbeschwerde (Aktenzeichen beim BVerfG: 1 BvR 2682/17) vom 6. Oktober 2017 der Rechtsanwaltskanzlei Gerloff und Gilsbach zur Leistungskürzung bei einem selbst zu vertretenden Abschiebungshindernis (Passbeschaffung) nach § 1a Nr. 2 AsylbLG (alte Fassung) bzw. § 1a Abs. 3 AsylbLG (neue Fassung). Der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegt eine Entscheidung des BSG (Urteil vom 12.05.2017; B 7 AY 1/16 R), in der das BSG eine jahrelange Leistungskürzung für zulässig erklärt hatte. Das BSG hatte sein Urteil maßgeblich darauf gestützt, dass aufgrund der damals geltenden Formulierung einer Kürzung auf das „nach den Umständen unabweisbar Gebotene“ im Einzelfall alle existenznotwenigen Bedarfe (auch das soziale Existenzminimum) geleistet werden müssten. Daher sei der alte § 1a AsylbLG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Diese Auffassung ist aber spätestens seit Inkrafttreten des aktuell geltenden § 1a Abs. 3 AsylbLG nicht mehr haltbar, da nun sämtliche Leistungen des sozialen Existenzminimums kategorisch ausgeschlossen sind. Außerdem widerspricht die BSG-Rechtsprechung offensichtlich den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu den grundsätzlichen Voraussetzungen von Sanktionen (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019, 1 BvL 7/16). Das BVerfG hat angekündigt, noch in diesem Jahr über die Verfassungsbeschwerde entscheiden zu wollen.

·         Ein Vorlagebeschluss des LSG Niedersachsen (Aktenzeichen L 8 AY 21/19 vom 26. Januar 2021) zur Verfassungswidrigkeit der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG in der 2018 geltenden Fassung. Das LSG Niedersachsen ist überzeugt, dass die Grundleistungen aus drei Gründen verfassungswidrig sind:

a.    Es sind Kürzungen bei den Grundleistungen (z. B. der Bedarfe für Fernseher, Computer, Gebrauchsgüter für Kultur, Sport und Erholung, Kursgebühren, damals eine Kürzung um 10 Euro) nicht nachvollziehbar begründet und bemessen worden.

b.    Von diesen willkürlichen Kürzungen sind „nicht hinreichend zuverlässig“ nur diejenigen erfasst, die sich voraussichtlich nur kurzfristig in Deutschland aufhalten werden, sondern auch Personen, die sich von vornherein absehbar langfristig hier aufhalten werden.

c.    Zwischen 2017 und 2019 ist die Höhe der Grundleistungen nicht neu festgesetzt worden.

·         Ein Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 13. April 2021, S 17 AY 21/20 zur zehnprozentigen Leistungskürzung bei alleinstehenden Personen in Gemeinschaftsunterkünften nach § 2 AsylbLG (sozialrechtliche Zwangsverpartnerung durch Regelbedarfsstufe 2 für Alleinstehende). Zahlreiche Gerichte haben diese Form der Leistungskürzung bereits für unzulässig erklärt, eine Übersicht über diese Gerichtsentscheidungen gibt es hier: freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2020/11/2020-11-23_Rechtssprechung-zu-%C2%A7-3a-AsylbLG.pdf

Quelle: www.ggua.de

6.2 – Kranke Hartz-IV-Bezieherin geht nicht zum Arzt – Jobcenter streicht ihr alle Leistungen

Ein Jobcenter streicht einer Hartz-IV-Bezieherin die Leistungen, weil sie nicht zum Arzt geht. Doch das Amt hat die Rechnung ohne das Sozialgericht gemacht.

weiter: www.merkur.de

siehe dazu: LSG München, Urteil v. 06.05.2021 – L 16 AS 652/20

6.3 – Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zur Besorgnis der Befangenheit in Asylverfahren

Das BVerfG hat einer Verfassungsbeschwerde gegen eine fachgerichtliche Entscheidung stattgegeben, durch die ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit gegen den zuständigen Einzelrichter in einem Asylverfahren für unbegründet erklärt worden war.

weiter auf juris

6.4 – AsylbLG-Analogleistungen: BSG-Urteile zu Nachzahlungen gem. § 44 SGB X und Darlehen für einmalige Bedarfe gem. § 37 S GB XII

Ein Beitrag von Claudius Voigt

Das Bundessozialgericht hat am 24. Juni 2021 einige weitere Entscheidungen zum AsylbLG gefällt, die zum Teil für die Beratungspraxis wichtig sind. Es liegen dazu bisher noch nicht die schriftlichen Urteilsbegründungen vor, sondern nur kurze Terminberichte. Dennoch möchte ich die praxisrelevanten Punkte vorstellen:

1.    BSG, Urteil vom 24. Juni 2021, B 7 AY 2/20 R:

Analog- und Grundleistungen:

Anspruch auf AsylbLG-Nachzahlung gem. § 44 SGB X auch bei Wegfall der Bedürftigkeit

In dieser Entscheidung geht es unter anderem um die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt werden kann und eine Nachzahlung zu Unrecht vorenthaltener Leistungen durch das Sozialamt erfolgen muss. Wichtig ist die vor allem dann, wenn das Sozialamt zu Unrecht keine Umstellung in die Analogleistungen vorgenommen, zu Unrecht eine Kürzung nach § 1a AsylbLG verhängt oder zu niedrige Grundleistungen erbracht hat, dagegen aber kein Widerspruch / Klage eingelegt worden war. Gem. § 44 SGB X (i. V. m. § 9 Abs. 4 AsylbLG und § 116a SGB XII) können derartige bestandskräftigen, aber rechtswidrigen Bescheide mit einem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X auch nachträglich wieder „aufgeschnürt“ werden. Voraussetzung dafür ist, dass der Überprüfungsantrag spätestens innerhalb der vier auf den rechtswidrigen Verwaltungsakt folgenden Kalenderjahre gestellt wird. Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen müssen dann jedoch nur für ein Jahr nachgezahlt werden. Das Bundessozialgericht war in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass dieser Anspruch auf Nachzahlung nur dann bestehe, wenn die Person durchgehend und auch aktuell noch hilfebedürftig war und ist. Wenn jedoch zwischenzeitig – temporär oder auf Dauer – die Hilfebedürftigkeit entfallen ist (z. B. weil eine Arbeit aufgenommen wurde), hatte das BSG bisher eine Nachzahlung abgelehnt (z. B: BSG, Urteil vom 20.12.2012 – B 7 AY 4/11 R).

Diese Auffassung hat das BSG nun aufgegeben:
Es besteht vielmehr ein Anspruch auf Nachzahlung auch dann, wenn die Hilfebedürftigkeit zwischenzeitlich entfallen ist. Das BSG begründet diese Änderung seiner Rechtsprechung damit, dass der Nachzahlungszeitraum im Jahr 2015 von vier Jahren auf ein Jahr verkürzt worden war und damit eine „Konkretisierung des „Gegenwärtigkeitsprinzips“ vorgenommen worden sei. Auch eine zwischenzeitliche Ausreise der betreffenden Person ins Ausland habe keine negative Auswirkungen auf den Anspruch auf Nachzahlung im Rahmen des Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X.

Das Bundessozialgericht weist darüber hinaus darauf hin, dass es „verfassungsrechtliche Bedenken“ hat, ob wegen einer „rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer“ in der Vergangenheit die Umstellung in die Analogleistungen dauerhaft verweigert werden darf.

2.    BSG, Urteil vom 24. Juni 2021, B 7 AY 5/20 R:

Analogleistungen:

Übernahme der Fahrtkosten zum Anhörungstermin nur über Darlehen gem. § 37 SGB XII

Ein Asylantragsteller erhielt Analogleistungen und hatte die Übernahme von Kosten in Höhe von knapp 200 Euro beantragt für Fahrt- und Übernachtung wegen eines auswärtigen BAMF-Anhörungstermins. Das BSG hat die Kostenübernahme über einen Zuschuss gem. § 73 SGB XII nun abgelehnt und stattdessen auf das Darlehen nach § 37 Abs. 1 SGB XII verwiesen. Denn nach Überzeugung des BSG ist dieser Bedarf in den Regelsätzen enthalten, und daher handele es sich nicht um „unbenannte“ atypische Bedarfe.

Hierzu einige Hinweise:
·         Das Urteil folgt der bisherigen Rechtsauffassung des BSG, die Übernahme von einmaligen Bedarfen, die zwar im Grundsatz im Regelsatz enthalten sind, aber in ihrer Höhe erheblich von durchschnittlichen Bedarfen abweichen, nicht über einen Zuschuss nach § 73 SGB XII übernehmen zu können. In zwei früheren Entscheidungen (Urteil vom 29.05.2019, B 8 SO 14/17 R  sowie Urteil vom 12.09.2018, B 4 AS 33/17 R) hatte das BSG bereits geurteilt, dass z. B. die Passbeschaffungskosten zwar einmalige „unabweisbare Bedarfe“ sein könnten – aber Teil der Regelbedarfe seien und daher entweder angespart werden müssten oder alternativ lediglich über Darlehen (in diesen Fällen nach § 24 Abs. 1 SGB II) übernommen werden müssten. Dies verkennt jedoch völlig, dass z. B. für „Personalausweise“ (und damit nach BSG-Auffassung auch für Passkosten) ein hochgerechneter Bedarf von 25,6 Cent im Regelsatz enthalten ist. Bei angenommenen Passkosten von z. B. 100 Euro müsste man ganze 390 Monate oder über 32 Jahre ansparen – insofern trägt die Argumentation erkennbar nicht.

·         In die Regelbedarfe sind nämlich lediglich durchschnittliche Bedarfe eingeflossen. Die besonderen und zum Teil extrem hohen zusätzlichen Bedarfe ausländischer Staatsangehöriger, die für deutsche Staatsangehörige in der Regel gar nicht entstehen können (z. B. Kosten für einen ausländischen Nationalpass, Fahrtkosten zum BAMF oder zur Botschaft, Sprachmittlungskosten) sind hingegen rechnerisch nicht berücksichtigt.

·         Im SGB II gibt es mit § 21 Abs. 6 SGB II seit dem 1. Januar 2021 eine neue Auffangnorm auch für diese einmaligen Bedarfe, die für SGB-II-Leistungsberechtigte nun unter bestimmten Bedingungen (auch) als Zuschuss zu übernehmen sind, wenn sie ihrer Höhe nach „erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweichen“. Aus unerfindlichen Gründen hat die Gesetzgeberin eine derartige Mehrbedarfsregelung für einmalige Bedarfe im SGB XII (und damit auch für die Analogleistungen des AsylbLG) aber nicht eingeführt: Hier gibt es gem. § 27a Abs. 4 Nr. 2 SGB XII nur die Möglichkeit, bei regelmäßig wiederkehrenden Zusatzbedarfen den monatlichen Regelsatz höher festzulegen – dies kann Bedeutung haben z. B. für die Sprachmittlungskosten bei regelmäßigen längerfristigen Therapien. Für einmalige Bedarfe gilt dies jedoch nicht. Es ist dringend notwendig – schon aus Gründen der Gleichbehandlung –, dass die Gesetzgeberin auch im SGB XII eine dem § 21 Abs. 6 SGB II entsprechende Regelung einführt.

·         Die Inanspruchnahme eines Darlehens nach § 37 Abs. 1 SGB XII führt dazu, dass die Leistungen monatlich um „bis zu“ fünf Prozent der Regelbedarfsstufe 1 (also bis zu 22,30 €) gekürzt werden. Dies führt zu einer langfristigen Unterschreitung des Existenzminimums. Daher sollte bei Beantragung eines Darlehens ausdrücklich der Verzicht auf diese Rückzahlung beantragt werden. Dies ist möglich, da die Formulierung „bis zu fünf Prozent“ auch eine niedrigere oder gar keine Rückzahlung ermöglicht. So hat es ausdrücklich auch das Bundesarbeitsministerium in seiner Weisung zur Übernahme der Kosten für Computer für Homeschooling formuliert: Da im SGB XII keine Rechtsgrundlage für einmalige Mehrbedarfe existiere, besteht nach Auffassung des BMAS für den PC-Bedarf

„allein die Möglichkeit der Gewährung eines ergänzenden Darlehens nach § 37 Absatz 1 SGB XII mit gleichzeitigem dauerhaftem Verzicht auf die Rückzahlung nach § 37 Absatz 4 SGB XII. Dies ist mit dem Wortlaut von Absatz 4 vereinbar, denn dieser beschränkt sich für die monatliche Rückzahlung auf eine Obergrenze („bis zur Höhe von jeweils 5 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 1“), was im Ausnahmefall auch einen dauerhaften Verzicht auf die Rückzahlung umfasst. Nur ein ergänzendes Darlehen mit gleichzeitigem dauerhaftem Verzicht auf die Rückzahlung führt materiell-rechtlich im Ergebnis zu einer mit dem SGB II gleichwertigen Wirkung.“

Eine entsprechende Praxis sollte für andere unabweisbare einmalige Bedarfe gelten und ausdrücklich beantragt werden.

·         Das Urteil des BSG bezieht sich nur auf Analogleistungen. Im Falle der Grundleistungen sind einmalige Bedarfe (etwa für Passbeschaffung, BAMF-Fahrtkosten, Dolmetscher*innenkosten, Schüler*innen-PC) unzweifelhaft als Zuschuss über § 6 Abs. 1 AsylbLG zu übernehmen.

Hinweis Redakteur:
Wegen Wartungsarbeiten am Server ist die Seite von www.sozialgerichtsbarkeit.de zur Zeit nicht erreichbar.

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker