Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 26.07.2021 – Az.: L 4 AY 19/21 B ER

BESCHLUSS

In dem Beschwerdeverfahren

xxx,

Antragsteller und Beschwerdegegner,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis Kassel, vertreten durch den Kreisausschuss,
– Fachbereich Aufsicht und Ordnung -,
Wilhelmshöher Allee 19 – 21, 34117 Kassel,

Antragsgegner und Beschwerdeführer,

hat der 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt am 26. Juli 2021 durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht xxx, den Richter am Landessozialgericht xxx und die Richterin am Landessozialgericht xxx beschlossen:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 5. Mai 2021 dahingehend abgeändert, dass die einstweilige Anordnung über die im Ausspruch vorgesehenen Befristungen längstens bis 30. September 2021 befristet wird. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat auch für das Beschwerdeverfahren die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

GRÜNDE

Die am 4. Juni 2021 eingegangene Beschwerde des Antragsgegners, mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 5. Mai 2021 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen,

ist zulässig, aber nur in sehr geringem Umfang begründet.

Das Sozialgericht hat zutreffend die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet und die einstweilige Anordnung im Wesentlichen zu Recht erlassen; lediglich die Befristung war so formuliert, dass sie hinsichtlich der Leistungsdauer möglicherweise über den Streitgegenstand hinausreicht; insoweit war die Befristung der Bewilligung bis zum 30. September 2021 im Bescheid vom 30. März 2021 als Zäsur zu beachten.

Zutreffend ist das Sozialgericht bei sachgerechter Antragsauslegung von der Kombination des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ausgegangen (dazu im Einzelnen: Senatsbeschluss vom 10. Januar 2019 – L 4 AY 11/18 B ER – m.w.N.). Der Widerspruch des Antragstellers entfaltet nach § 11 Abs. 4 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) i.V.m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) keine aufschiebende Wirkung.

Das Gericht der Hauptsache kann nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86 Abs. 1 SGG gebotene Interessenabwägung muss sich auf alle öffentlichen und privaten Interessen erstrecken, die im Einzelfall von Bedeutung sind; den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, also namentlich der Rechtmäßigkeit beziehungsweise der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, kommt dabei, soweit sie sich im Rahmen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung beurteilen lässt, erhebliche Bedeutung zu (vgl. zu dem im Einzelnen umstrittenen Maßstab für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung: Hess. LSG, Beschluss vom 26. März 2007 – L 9 AS 387/07 ER – sowie Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 12 ff.). Namentlich hat die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne Weiteres zu erfolgen, wenn der Bescheid offensichtlich rechtswidrig (und der Widerspruch oder die Klage zulässig) ist, während sie ausscheidet, wenn dieser offensichtlich rechtmäßig (oder der Widerspruch oder die Klage offensichtlich unzulässig) ist. Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse; im Rahmen dieser Abwägung ist auch die der gesetzlichen Anordnung des Sofortvollzugs zu entnehmende Wertung zu berücksichtigen. Insbesondere wenn die Erfolgsaussichten offen sind, hat eine umfassende Folgenabwägung stattzufinden, in deren Rahmen namentlich die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen sind, sofern sie durch die Entscheidung berührt werden.

Gemessen an diesem Maßstab bestehen hinreichende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Feststellung der Anspruchseinschränkung, was zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung führt.

Bereits die Voraussetzungen von § 1a Abs. 3 AsylbLG liegen mit hinreichender Gewissheit nicht vor. Hiernach erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag nur Leistungen entsprechend Absatz 1. Die Norm fordert dabei eine Kausalität zwischen einem vorwerfbaren Verhalten und dem Nichtvollzug (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 7 AY 7/12 R –, BSGE 114, 302-310, SozR 4-3520 § 1a Nr 1, zit. nach juris Rn. 25).

Indes ist die Weigerung, an der Passbeschaffung über ein Konsulat der Islamischen Republik Iran mitzuwirken, nicht vorwerfbar. Versteht man die Aufforderungen an den Antragsteller lebensnah so, dass er alles seinerseits Erforderliche tun solle, um vom iranischen Konsulat einen Reisepass oder ein zur Einreise in den Iran berechtigendes Dokument ausgestellt zu erhalten, so wird vom Antragsteller ein Verhalten verlangt, das die Intimsphäre als unantastbaren Kernbereich des Persönlichkeitsrechts des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG berührt (vgl. zur Unantastbarkeit eines Kernbereichs: BVerfGE 34, 238 <245>; 54, 143 <146>; 103, 21 <31>). Denn nach dem Kenntnisstand des Senats wird bei der Antragstellung von iranischen Staatsangehörigen die Abgabe einer sogenannten Freiwilligkeitserklärung verlangt (vgl. zum Ganzen auch das den Beteiligten bekannte Senatsurteil vom 22. Juli 2020 – L 4 AY 8/17 – juris). Das Auswärtige Amt führte in seinen Lageberichten vom 27. Februar 2011, GZ: 508-516.80/3 IRN, S. 43 und vom 8. Oktober 2012, Gz.: 508-516.80/3 IRN, S. 38 f. (zitiert nach asylis) Folgendes aus: „Deutsche Reiseausweise oder EU-Heimreisepapiere werden von den Grenzbehörden nicht anerkannt. Die iranischen Behörden bestehen darauf, dass ein Heimreisedokument von der zuständigen iranischen Auslandsvertretung ausgestellt wird. Diese wiederum haben Anweisung, jedem Iraner, der bei ihnen vorspricht und freiwillig die Ausstellung eines Reisepasses beantragt, einen solchen auszustellen. Dies gilt auch für Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt haben. Die iranischen Auslandsvertretungen in Deutschland stellen Heimreisedokumente grundsätzlich nur dann aus, wenn die betreffende Person persönlich vorgesprochen und dabei zu erkennen gegeben hat, dass sie freiwillig nach Iran zurückkehrt. Außerdem wird der zweifelsfreie Nachweis der iranischen Staatsangehörigkeit verlangt.“ Hinsichtlich aktuellerer Zeiträume ging das VG Bayreuth, Gerichtsbescheid vom 11. Dezember 2018 – B K 18.696 –, juris von einer unveränderten Sachlage aus. Die Bundesregierung ging von einer entsprechenden „grundsätzlichen Haltung des Irans“ noch im August 2019 aus (BT-Drucks. 19/12640, S. 23). Dieser Kenntnisstand wird jedenfalls am Beweismaßstab des Eilverfahrens nicht durchgreifend in Frage gestellt durch den Umstand, dass nach dem neuesten Lagebericht nunmehr die Abgabe einer „Reueerklärung“, die sich auf die illegale Ausreise aus der Islamischen Republik Iran bezieht, abverlangt wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 5. Februar 2021, GZ: 508-516.80/3 IRN, S. 25). Auch vermögen die vom Antragsgegner mit Schriftsatz vom 13. Juli 2021 übersandten Angaben auf der Homepage des Konsulats (Bl. 91 bis 93 d.A.), die solche Erklärungen nicht auflisten, die anderen Erkenntnisse nicht in Zweifel zu ziehen, da nicht erwartet werden kann, dass ein solcher Text die tatsächliche Praxis des Konsulats abbildet.

Nach dem Akteninhalt verweigert der Antragsteller jegliche Mitwirkung an der Passbeschaffung, worin auch die Weigerung zum Ausdruck kommt, freiwillig auszureisen. Freiwilligkeit kann sowohl nach dem allgemeinen Wortverständnis als auch unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles (vgl. zum Folgenden BSG a.a.O., Rn. 27 f.) nur bedeuten, dass der Antragsteller erklären sollte, er reise aus freien Stücken in den Iran. Diese Erklärung kann indes von niemandem verlangt werden, der den entsprechenden Willen nicht besitzt; ansonsten wäre er zum Lügen gezwungen. Der Begriff der Freiwilligkeit entzieht sich weiteren Überlegungen. Gefordert wird eine Erklärung, etwas zu wollen, was er gerade nicht wollte. Ein gegenteiliger Wille kann von ihm auch nicht verlangt werden; der Wille als solcher ist staatlich nicht beeinflussbar. Eine andere Frage ist, ob von dem Betroffenen trotz eines entgegenstehenden Willens bestimmte Handlungen abverlangt werden können. Der Zwang, dies auch zu wollen, entspräche einem dem Grundgesetz fremden totalitären Staatsverständnis (BSG a.a.O., Rn. 28).

Sollte nunmehr eine „Reueerklärung“ verlangt werden, würde Entsprechendes gelten.

Da bereits der Tatbestand einer Variante des § 1a AsylbLG mit hinreichender Gewissheit nicht gegeben ist, kann offenbleiben, ob das Sozialgericht die Rechtsfolge des § 1a AsylbLG zutreffend verfassungskonform ausgelegt hat.

Zudem sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund einer einstweiligen Anordnung glaubhaft gemacht.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Diese Anforderungen sind im Lichte der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) zu konkretisieren (zum Folgenden: BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 10 m.w.N.). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte -, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt. Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten, müssen die Gerichte bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung zur Begründung von Leistungen zur Existenzsicherung in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG Rechnung tragen. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung haben sich am Rechtsschutzziel zu orientieren, das mit dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren verfolgt wird.

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben; da die Voraussetzungen des § 1a AsylbLG mit hinreichender Gewissheit nicht vorliegen (s.o.), hat der Antragsteller Anspruch auf ungekürzte Leistungen. Klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass diese auf der Grundlage der vom Antragsteller nicht angefochtenen Entscheidung nach §§ 3, 3a AsylbLG zu bemessen sind, da das Sozialgericht ersichtlich davon ausging, dass dieses Leistungsniveau auch im Wege der verfassungskonformen Auslegung der Rechtsfolge des § 1a AsylbLG zu erreichen ist. Damit ging das Sozialgericht offenbar davon aus, dass der Weg zu Leistungen nach § 2 AsylbLG versperrt ist oder solche nicht beantragt wurden. Zudem hat das Sozialgericht den Antrag nicht im Übrigen zurückgewiesen; es ist nach den Entscheidungsgründen der Auffassung, dem Begehren des Antragstellers voll entsprochen zu haben. Von einer höheren Leistung auf der Grundlage von § 2 AsylbLG kann aus diesem Grunde nicht ausgegangen werden, zumal nach dem derzeitigen Sachstand nichts dafür ersichtlich ist, dass diese vorgerichtlich oder mit dem Eilantrag beansprucht wurden. Die Begründung des Antrags zielt im Wesentlichen auf die Verfassungswidrigkeit des abgesenkten Leistungsniveaus. Diesem Begehren entspricht eine einstweilige Anordnung auf dem ungekürzten Leistungsniveau von §§ 3, 3a AsylbLG.

Hinsichtlich der weiteren Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung wird auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Indes war der Ausspruch durch das Sozialgericht („…im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 7.4.2021 vorläufig bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens und bei fristgerechter Klagerhebung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens 1. Instanz ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.“) dahingehend weiter zu befristen, dass die Leistungsgewährung nicht über den geregelten Bewilligungszeitraum hinausreicht. Die Regelung eines Bewilligungszeitraumes schafft eine Zäsur, die den Streitgegenstand entsprechend begrenzt (vgl. allgemein Senatsbeschluss vom 14. April 2021 – L 4 AY 3/21 B ER – juris Rn. 22; BSG, Beschluss vom 30. Juli 2008 – B 14 AS 7/08 B – juris). Sowohl die Anspruchseinschränkung als auch die Leistungsgewährung ist im Bescheid vom 30. März 2021 auf den Zeitraum vom 1. April 2021 bis 30. September 2021 befristet. Mit hin war auszuschließen, dass insbesondere im Falle der Klageerhebung sich die Geltungsdauer der einstweiligen Anordnung über den 30. September 2021 erstreckt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Das Obsiegen des Antragsgegners war nicht so erheblich, dass eine Quotelung angezeigt gewesen wäre.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.