Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 05.05.2021 – Az.: S 11 AY 7/21 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragsteller,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Landkreis Kassel, vertreten durch den Kreisausschuss,
– Fachbereich Aufsicht und Ordnung -,
Wilhelmshöher Allee 19 – 21, 34117 Kassel,

Antragsgegner,

hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel am 5. Mai 2021 durch die Richterin am Sozialgericht xxx als Vorsitzende beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 6.4.2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30.3.2021 wird angeordnet.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 7.4.2021 vorläufig bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens und bei fristgerechter Klagerhebung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens 1. Instanz ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.

GRÜNDE
I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des Eilrechtsschutzes die Gewährung von ungekürzten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der am xx.xx.xxxx im Iran geborene Antragsteller reiste am 26.2.2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 5.3.2001 einen Asylantrag. Im März 2001 wurde er der Stadt Kassel zugewiesen. Seitdem lebt er in Kassel bzw. im Landkreis Kassel. Der Asylantrag des Antragstellers wurde zunächst mit rechtskräftiger Entscheidung des VGH Kassel vom 22.12.2004 abgelehnt. Die mit der abgelehnten Asylentscheidung angedrohte Abschiebung wurde nie vollzogen. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen konnten wegen der Passlosigkeit des Antragstellers nicht erfolgen. Der im März 2010 erneut gestellte Antrag auf Asylgewährung wurde mit rechtskräftiger Entscheidung des Verwaltungsgerichts Kassel vom 23.3.2016 abgelehnt. Aufenthaltsrechtlich wurden dem Antragsteller von Beginn an lediglich befristete Duldungen (Aussetzung der Abschiebung) erteilt. Zurzeit ist der Antragsteller im Besitz einer Duldung nach § 60 b AufenthG, die bis zum 4.6.2021 gültig ist. Seit Jahren erhält der Antragsteller vom Antragsgegner nur gekürzte Leistungen im Rahmen des § 1 a AsylbLG. Hierzu erfolgten zuletzt im Jahresabstand entsprechende Anhörungen durch den Antragsgegner. Zuletzt mit Schreiben vom 16.02.2021 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dieser sei mit rechtskräftigen Bescheiden des BAMF auf seine Ausreisepflicht hingewiesen worden. Im Falle des Antragstellers könnten aus von ihm zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden. Er sei in der Vergangenheit mehrfach vom Bürgeramt der Stadt Kassel und des Landkreises Kassel aufgefordert worden, einen Pass zu beantragen. Über die entsprechenden Verpflichtungen gemäß § 60 b Abs. 2 S. 1 AufenthG sei der Antragsteller jeweils belehrt worden. In seinem Falle liege der Missbrauchstatbestand des § 1 a Abs. 3 AsylbLG vor, denn die beabsichtigten aufenthaltsbeendenden Maßnahmen könnten wegen des Verhaltens des Antragstellers nicht vollzogen werden.

Mit Bescheid des Antragsgegners vom 30.3.2021 teilte dieser dem Antragsteller mit, ihm würden vom 1.4.2021 bis 30.9.2021 Leistungen gemäß § 1 a Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 1 a Abs. 1 S. 2-4 AsylbLG gewährt. Der Missbrauchstatbestand des § 1 a Abs. 3 AsylbLG liege im Fall des Antragstellers vor, denn beabsichtigte aufenthaltsbeendende Maßnahmen könnten wegen des Verhaltens des Antragstellers nicht vollzogen werden. In der Vergangenheit sei er bereits mehrfach vom Bürgeramt von Stadt und Landkreis Kassel aufgefordert worden, einen Pass zu beantragen. Bis zum heutigen Tage seien keinerlei Bemühungen zur Mitwirkung erkennbar. Trotz Corona-Pandemie habe das iranische Generalkonsulat geöffnet, so dass es dem Antragsteller möglich sei, sich mit diesem in Verbindung zu setzen. Es liege allein im Verantwortungsbereich des Antragstellers, sich erforderliche Heimreisedokumente zu beschaffen. Der Umfang der Leistungsanspruchseinschränkung ergebe sich nach § 1 a Abs. 3 i.V.m. § 1 a Abs. 1 AsylbLG. Danach würden Leistungsberechtigte bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen keine Leistungen nach §§ 2, 3 und 6 AsylbLG, sondern nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege sowie Leistungen nach § 4 AsylbLG erhalten. Neben den Unterkunftskosten i.H.v. 160 € bewilligte der Antragsgegner ab April 2021 Leistungen nach § 1 a AsylbLG i.H.v. 192 € zuzüglich einer Aufstockung für Haushaltsenergie und Wohnungsinstandhaltung i.H.v. 37,82 €, insgesamt monatlich 389,82 €.

Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers am 6.4.2021 Widerspruch ein.

Mit am 7.4.2021 beim Sozialgericht Kassel eingegangenem Schreiben stellt der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit dem Ziel der Gewährung ungekürzter Leistungen nach dem AsylbLG. Dazu wird geltend gemacht, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16) könne die vorliegend streitige Sanktion nicht verfassungsgemäß sein. Zur Streitfrage gebe es mittlerweile zahlreiche Entscheidungen. Hinzuweisen sei auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (PKH) vom 4.12.2019 zum Az. L 8 AY 36/19 BER. Auch in einer Entscheidung vom 22.2.2021 führe das Landessozialgericht Sachsen im Verfahren L 8 AY 9/20 BER aus, dass die Regelung in § 1 a Abs. 1 S. 2 AsylbLG den verfassungsrechtlichen Anforderungen widerspreche. Zwar könne das Gericht vorliegend aufgrund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des § 1 a AsylbLG diese Norm nicht selbst verwerfen. Mit Blick auf die aufgeworfenen Fragen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sei jedoch eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen der Folgenabwägung zu treffen und nach den vorliegenden gerichtlichen Entscheidungen könne dies nur dazu führen, dass die Leistungskürzung zunächst und bis zum Ausgang der Hauptsache ausgesetzt werde. Dies gelte erst recht, als vorliegend eine Kürzung des Regelbedarfes um mehr als 50 % ohnehin mit Art. 1 GG nicht zu vereinbaren sei. Das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum des Antragstellers sei aktuell nicht mehr gesichert. In einem solchen Fall sei regelmäßig vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Sinne von § 86 Abs. 2 S. 2 SGG auszugehen.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 6.4.2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30.3.2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrags bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Dazu führt der Antragsgegner aus, es bestehe bereits kein Anordnungsgrund. Der Antragsteller erhalte gemäß § 1 a Abs. 1, 3 AsylbLG eingeschränkte Leistungen, weil er sich der gemäß § 60 b Abs. 3 AufenthG zumutbaren Passbeschaffung beharrlich verweigere. Die gesetzlich gemäß § 1 a AsylbLG angeordnete Anspruchskürzung könne nach Auffassung des Antragsgegners zumindest bei subjektiv vertretbarer Verweigerung zumutbarer Mitwirkungshandlungen nicht zu einer verfassungswidrigen Einschränkung des Grundrechts auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums führen. Das zuständige Fachamt des Antragsgegners vertrete zudem die Auffassung, dass es ohne eine entgegengesetzte Weisung der Fachaufsicht (RP) an die streitige gesetzliche Regelung gebunden sei. Das Gericht möge daher entscheiden.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vom Antragsgegner beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.

II.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen der Widerspruch (oder die Anfechtungsklage) keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Darüber hinaus ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), als auch ein Anordnungsanspruch (d. h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG) ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere oder unzumutbare, später nicht wiedergutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG 79, 69 74 m. w. N.). Soweit dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage in einem solchen Eilverfahren nicht möglich ist, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschlüsse v. 12.05.2005 – 1 BvR 569/05, Rd.-Nr. 19, 26 und vom 25.02.2009 – 1 BvR 120/09, Rd.-Nr. 11, jeweils zitiert nach juris).

Vor diesem Hintergrund ist der Antrag des Antragstellers ab Eingang bei Gericht am 7.4.2021, wie im Tenor dieses Beschlusses formuliert, zulässig und auch begründet. Sowohl im Hinblick auf die Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 6.4.2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30.3.2021 als auch im Hinblick auf die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung ungekürzter Leistungen an den Antragsteller nach dem AsylbLG stützt sich die erkennende Kammer auf eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 26.2.2020 im Verfahren L 4 AY 14/19 B ER.

In einem vergleichbaren Fall eines Leistungsempfängers, dem bei fehlender Passbeschaffung und bestehender Ausreiseverpflichtung die Leistungen nach Maßgabe des § 1 a AsylbLG gekürzt worden sind, hat das Hessische Landessozialgericht in der genannten Entscheidung sowohl die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Entscheidung über die Leistungskürzung als auch die vorläufige Verpflichtung der Leistungsbehörde zur Gewährung ungekürzter Leistungen mit der Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung von § 1 a AsylbLG begründet.

Dabei hat es zunächst für die zu treffende gerichtliche Entscheidung eine Kombination der Entscheidung nach § 86 b Abs. 1 und § 86 b Abs. 2 SGG für notwendig erachtet, weil der Widerspruch gegen eine Einschränkung des Leistungsanspruchs nach § 1 a AsylbLG gemäß § 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Nur in der Kombination der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 86 b Abs. 1 SGG und der Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung ungekürzter Leistungen nach dem AsylbLG kann aber dem Rechtsschutzbegehren des Antragstellers in verfassungsgemäßer Weise effektiv Rechnung getragen werden.

Unstreitig unterfällt der Antragsteller dem von einer Leistungskürzung nach § 1 a AsylbLG betroffenen Personenkreis, denn beim Antragsteller können trotz vollziehbarer Ausreiseverpflichtung aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Sinne einer Abschiebung nicht durchgeführt werden, weil der Antragsteller an der hierfür erforderlichen Passbeschaffung bei der iranischen Konsularvertretung bislang nicht mitgewirkt hat und nicht in sein Heimatland Iran abgeschoben werden kann (vgl. hierzu die Bestimmungen von § 1 a Abs. 1 und Abs. 3 AsylbLG in der ab 1.9.2019 geltenden Fassung).

Das Hessische Landessozialgericht hat in der oben genannten Entscheidung zwar die tatbestandlichen Voraussetzungen der Leistungskürzung nach § 1 a AsylbLG bei dem zur Ausreise verpflichteten Leistungsempfänger, der seiner Mitwirkung zur Passbeschaffung nicht nachkommt, bejaht, jedoch für die Rechtsfolge des § 1 a Abs. 3 AsylbLG (in der Neufassung nach § 1 a Abs. 1 AsylbLG) indes auf Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16) eine verfassungskonforme Auslegung als unerlässlich angesehen. Dabei hat es zunächst die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer bedarfsunabhängigen Leistungsabsenkung als gescheitert bezeichnet (HLSG, Beschluss vom 26.2.2020, a. a. O.). Sodann wird gefordert, dass die Rechtsfolge des § 1 Abs. 1 AsylbLG im Hinblick auf die Leistungskürzung den Anforderungen an bedarfsbezogene Differenzierungen nach Maßgabe des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16) genügen müsse. Dazu hat das Hessische Landessozialgericht ausgeführt, sofern der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen wolle, dürfe er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren und eine Differenzierung sei nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweiche und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden könne. Dabei sieht das HLSG eine Rechtfertigung für eine Leistungskürzung allenfalls für Personen, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten und bei denen sich bereits zu Beginn des Aufenthalts anhand einer Prognose diese Kurzfristigkeit feststellen lässt. Für den seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebenden Antragsteller lassen sich diese Erwägungen zu einem (prognostizierten) kurzfristigen Aufenthalt allerdings nicht anwenden. Das HLSG führt sodann weiter aus, dass sich Leistungsminderungen insbesondere nicht unter Verweis darauf rechtfertigen lassen würden, dass lediglich Leistungen für soziale Teilhabe entzogen würden und ein „Kernbereich“ verbleibe. Unter Hinweis auf das bundesverfassungsgerichtliche Urteil vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16, juris, Rn. 119) sieht das HLSG indes die physische und soziokulturelle Existenz durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG als einheitlich geschützt an. In diesem Zusammenhang kritisiert das HLSG, dass der Empfänger abgesenkter Leistungen nach Maßgabe von § 1 a AsylbLG nicht von dem pauschalierten Leistungsmodell des § 2 AsylbLG und der §§ 3, 3 a AsylbLG profitieren könne und auf die Anmeldung des individuellen Bedarfs insbesondere im Bereich der soziokulturellen Existenz verwiesen werde. In der Entscheidung des HLSG wird daher auch betont, dass der nach dem Wortlaut bestehende vollständige Ausschluss von Leistungen des notwendigen persönlichen Bedarfs nach § 3 Abs. 1 S. 2 AsylbLG aus der Härtefallregelung im Sinne einer Nichtdeckung der Bedarfe des soziokulturellen Existenzminimums auch schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 als verfassungswidrig kritisiert und die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung gefordert worden sei (hierzu auch BSG, Urteil vom 12.5.2017, B 7 AY 1/16 R, juris, Rn. 35 zur Vorgängerregelung und Beschluss des HLSG vom 31.5.2019, L 4 AY 7/19 BER, juris, Rn. 39 jeweils m.w.N.).

Auf der Grundlage der Ausführungen des HLSG in der oben genannten Entscheidung, denen die erkennende Kammer folgt, bestehen bei summarischer Prüfung der Leistungskürzung, denen der Antragsteller bereits mehrjährig ausgesetzt ist, die auch vom HLSG formulierten verfassungsrechtlichen Bedenken an der streitigen Leistungskürzung. Auch das Sächsische Landessozialgericht hat sich in drei Entscheidungen aus diesem Jahr (vgl. Beschluss vom 11.1.2021, L 8 AY 10/20 BER, Beschluss vom 22.2.2021, L 8 AY 9/20 BER und Beschluss vom 3.3.2021, L 8 AY 8/20 BER, alle zitiert nach juris) dahingehend geäußert, dass die Regelung in § 1 Abs. 1 S. 2 AsylbLG den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16, zitiert nach juris, z.B. Rn. 120) genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen widerspreche. Dabei weist das Sächsische LSG darauf hin, dass aus der Kürzung nach § 1 a AsylbLG einem von der Leistungseinschränkung betroffenen Ausländer rund 50 % seines monatlichen Regelbedarfs vorenthalten werde. Das Bundesverfassungsgericht habe die Sanktionsnormen im SGB II für verfassungswidrig erklärt, die über die Höhe der Leistungsminderung selbst bei wiederholten Pflichtverletzungen von 30 % hinausgehen würden. Kürzungen i.H.v. 60 % habe es als unzumutbar und für verfassungswidrig beurteilt.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jahrelangen Leistungskürzungen und der aktuellen Lebenssituation des Antragstellers ergeben sich im Ergebnis auch für die erkennende Kammer erhebliche Zweifel an der verfassungsmäßigen Zulässigkeit jedenfalls der aktuellen Leistungskürzung beim Antragsteller. Im Rahmen der Folgenabwägung ist dem Antragsteller daher die weitere Anspruchseinschränkung jedenfalls im Rahmen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Ansprüche nicht zuzumuten und der Antragsgegner ist dazu zu verpflichten, vorläufig ungekürzte Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren.

Ein Anordnungsgrund ist zu bejahen. Eilbedürftigkeit liegt vor, obschon der Antragsteller bereits langjährig gekürzte Leistungen erhalten hat. Allein maßgeblich ist, dass die aktuellen Kürzungen den oben genannten verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht genügen und hierdurch das menschenwürdige Existenzminimum des Antragstellers nicht gesichert ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.

Dazu:
Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 26.07.2021 – Az.: L 4 AY 19/21 B ER