Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Beschluss vom 27.06.2021 – Az.: L 8 AY 11/21 B ER

BESCHLUSS

L 8 AY 11/21 B ER
S 27 AY 4030/20 ER Sozialgericht Hildesheim

In dem Beschwerdeverfahren

xxx,

– Antragstellerin und Beschwerdegegnerin –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen Stabsstelle Justitiariat,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Antragsgegner und Beschwerdeführer –

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 27. Juli 2021 in Celle durch den Richter xxx und die Richterinnen xxx und xxx beschlossen:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 25. Januar 2021 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Im Streit ist Eilrechtsschutz wegen einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG für die Zeit von Anfang Dezember 2020 bis Anfang März 2021.

Die nach eigenen Angaben 19xx geborene Antragstellerin reiste nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Russland (Moskau) im Mai 2015 (zusammen mit ihrer Mutter) nach Deutschland ein und gibt sich als armenische Volkszugehörige ungeklärter Staatsangehörigkeit aus der Ukraine aus. Sie und ihre Mutter seien wegen kriegerischer Auseinandersetzungen aus der Region Luhansk geflohen, in der sie mit (unbefristeten) Aufenthaltserlaubnissen gelebt hätten. Ihre Mutter habe nur einen sowjetischen Pass besessen, den sie bei der Einreise nach Deutschland Schleusern überlassen habe. Die unmittelbar nach Einreise gestellten Asylanträge – während des Asylverfahrens waren die Antragstellerin und ihre Mutter der (seit 2017) im Kreisgebiet des Antragsgegners gelegenen Samtgemeinde Hattorf am Harz zugewiesen – wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation abgelehnt (Bescheid vom 16.12.2016). Die hiergegen beim Verwaltungsgericht (VG) Göttingen erhobene Klage hatte keinen Erfolg (Urteil vom 7.5.2019 – 4 A 153/18 -), weil die Antragstellerin und ihre Mutter weder vor dem Verlassen der Ukraine und der Russischen Föderation einer für das Verfahren relevanten Verfolgung bzw. Betroffenheit ausgesetzt gewesen seien noch eine solche Verfolgung bzw. Betroffenheit bei einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätten. Das Gericht hatte auch keinen Zweifel an der im Asylverfahren angegebenen russischen Staatsangehörigkeit der Antragstellerin und ihrer Mutter. Seit Abschluss des Asylverfahrens verfügt die Antragstellerin über eine Duldung, seit Ende 2019 wegen ungeklärter Identität nach § 60b AufenthG.

Der Antragsgegner (Ausländeramt) forderte die Antragstellerin und ihre Mutter mehrmals zur Passbeschaffung und zur Vorlage von Identitätsnachweisen – z.B. von Geburtsurkunden, einer Kopie des sowjetischen Inlandspasses oder der Heiratsurkunde der Mutter – auf (u.a. im Juni, August und November 2019 sowie im Oktober 2020). Nachdem die Antragstellerin während des Asylverfahrens die BBS II in Osterode (Berufsfachschule – Pflegeassistenz) besucht und dort als Klassenbeste den Erweiterten Sekundarabschluss I sowie einen Abschluss zur staatlich geprüften Pflegeassistenten erworben hatte, beantragte sie beim Antragsgegner eine Duldung nach § 60c AufenthG, um eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin bei der Universitätsmedizin Göttingen fortführen zu können. Einen in diesem Zusammenhang Ende 2019 gestellten Eilantrag lehnte das VG Göttingen u.a. mit der Begründung ab, dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen stehe die bislang unzureichende Mitwirkung der Antragstellerin an der Beschaffung eines Passes oder Passersatzpapiers entgegen. Auf die Aufforderungen des Antragsgegners (Ausländeramt) zur Mitwirkung könne sie sich nicht schlicht darauf zurückziehen, ihre Staatsangehörigkeit sei ungeklärt, sondern müsse sich ernsthaft bemühen, diese aufzuklären. Die nicht belegte Behauptung, in Berlin erfolglos die russische, armenische und die ukrainische Botschaft aufgesucht zu haben, genüge insoweit nicht. Das Gericht habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es der Antragstellerin nicht möglich sei, bei ernsthaften Bemühungen Passersatzpapiere, jedenfalls aber einen Identitätsnachweis zu beschaffen bzw. eine endgültige Ablehnung der zuständigen Behörden nachzuweisen. Den Antrag auf Ausstellung einer Ausbildungsduldung lehnte der Antragsgegner im März 2020 ab.

Die Antragstellerin lebt seit September 2020 in einer mit Zusicherung des Antragsgegners bezogenen ca. 54 qm großen Zweizimmerwohnung in Osterode, für die sie eine Kaltmiete in monatlicher Höhe von 260,00 € und Neben- und Heizkostenvorauszahlungen von jeweils 65,00 € je Monat sowie Stromabschläge in monatlicher Höhe von 50,00 € zu entrichten hat. Zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes bezieht sie Leistungen nach dem AsylbLG, vor dem Eilverfahren zuletzt befristet bewilligt bis November 2020 nach § 2 AsylbLG durch bestandskräftigen Bescheid des Antragsgegners vom 21.8.2020.

Mit Schreiben vom 28.10.2020 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin zu einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG für die Zeit ab Dezember 2020 an. Daraufhin entgegnete diese, sie habe zur Klärung ihrer Identität – gemeinsam mit ihrer Mutter – vergeblich die Botschaften der Russischen Föderation und der Ukraine (in Berlin und Hamburg) sowie Armeniens (in Berlin) aufgesucht. Zudem hätten sie über Bekannte eine Frau in der Ukraine beauftragt, beim zuständigen Standesamt die Ausstellung einer Kopie der Geburtsurkunde der Antragstellerin oder die Bestätigung ihres Geburts- und Wohnortes zu beantragen. Das Amt habe aber unter dem 18.8.2020 geantwortet, eine Geburtsurkunde könne ohne Vorlage eines Passes nicht ausgestellt werden.

Mit Bescheid vom 20.11.2020 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin für die Zeit von Dezember 2020 bis Mai 2021 nur noch nach § 1a Abs. 3 AsylbLG eingeschränkte Leistungen in monatlicher Höhe von 619,38 €, in dem er von den Grundleistungen nach § 3a AsylbLG einen Abzug von 185,00 € vornahm und Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie Strom in monatlicher Höhe von 325,00 €, 58,38 € sowie 50,00 € bewilligte. Bereits in der Zusicherung vom 24.7.2020 war die Antragstellerin darauf hingewiesen worden, dass die Heizkostenabschläge nicht in tatsächlicher Höhe (65,00 €) berücksichtigt würden, sondern nur in angemessener Höhe.

Am 3.12.2020 hat die Antragstellerin hiergegen Widerspruch erhoben und beim Sozialgericht (SG) Hildesheim – wie ihre Mutter wegen der ihr gegenüber verfügten Anspruchseinschränkung (- S 42 AY 4029/20 ER, L 8 AY 20/21 B ER -) – um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Nachdem die Antragstellerin noch Unterlagen über ihren Schulbesuch und eine – dem Ausländeramt bereits 2019 vorgelegte – Kopie eines in der Ukraine für sie ausgestellten Bibliotheksausweises übermittelt hatte (Schriftsatz vom 21.1.2021), hat das SG den Antragsgegner durch Beschluss vom 25.1.2021 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ungekürzte, privilegierte Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. SGB XII für die Zeit vom 3.12.2020 bis zur Bescheidung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 20.11.2020, längstens jedoch bis zum 3.6.2021 zu gewähren. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass die Antragstellerin nicht gegen ihre Mitwirkungspflichten nach § 82 Abs. 3 AufenthG verstoßen habe. Aufgrund ihrer Geburt in der Ukraine liege es nahe, dass sie entweder die ukrainische oder die armenische Staatsangehörigkeit habe. Wegen der ungeklärten Staatsangehörigkeit ihrer Mutter könne auch eine von dieser abgeleitete Staatsangehörigkeit nicht festgestellt werden. Die Antragstellerin habe konkrete Maßnahmen zur Beschaffung von Identitätspapieren glaubhaft gemacht, zum einen das Aufsuchen der Botschaften der Ukraine, der Russischen Föderation und Armeniens und zum anderen die Einschaltung einer Bekannten in der Ukraine, um beim zuständigen Standesamt die Ausstellung einer Geburtsurkunde zu beantragen. Sie habe auch glaubhaft gemacht, dass ihr eine Korrespondenz mit der ehemaligen Schulleitung wegen der Zerstörung der Schule nicht möglich sei. Mit der Vorlage des Bibliotheksausweises habe sie schließlich einen Nachweis über ihre Identität erbracht.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners vom 22.2.2021, der wegen des nicht übermittelten Schriftsatzes der Antragstellerin vom 21.1.2021 (nebst Anlagen) einen Gehörsverstoß rügt und zusätzlich geltend macht, die Antragstellerin verhindere den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen durch die Verschleierung ihrer Staatsangehörigkeit und eine unterbliebene bzw. nur unzureichende Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisepapieren. Die behaupteten Bemühungen in Form von Botschaftsbesuchen und um den Erhalt einer neuen Geburtsurkunde seien ohne Substanz und nicht belegt. Das Antwortschreiben des zuständigen ukrainischen Standesamtes aus August 2020 sei ein bloßes Informationsschreiben und könne nicht als Nachweis für ernsthafte Bemühungen zur Erlangung von Dokumenten dienen. Die Antragstellerin sei bereits im August 2019 darauf hingewiesen worden, dass eine Büchereikarte zur Identitätsklärung nicht ausreichend sei. Die Anträge auf Passersatzpapiere vom 14.2.2021 seien von ihr und ihrer Mutter inhaltlich so vage und ungenau ausgefüllt worden, dass der Botschaft der Russischen Föderation – auch wegen des Fehlens von Identitätsdokumenten – eine (erfolgreiche) Bearbeitung voraussichtlich nicht möglich sein werde. Das gesamte Verhalten der Antragstellerin sei dadurch geprägt, so wenig und so vage wie möglich preis zu geben und den Eindruck zu erwecken, die Erlangung von Heimreisedokumenten sei unmöglich. Dies decke sich nicht mit den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen über die unzureichende Mitwirkung der Antragstellerin bei der Beschaffung eines Passes oder Passersatzpapieres.

Die Antragstellerin hält die Entscheidung des SG für zutreffend und hat nach der Zurückweisung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20.11.2020 durch Widerspruchsbescheid vom 2.3.2021 beim SG Klage erhoben.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Leistungs- (ein Band und ein Hefter) und Ausländerakten (ein Hefter) Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere wegen einer für einen Zeitraum von (höchstens) sechs Monaten bestehenden Beschwer von über 200,00 € je Monat statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG; vgl. zur Bestimmung des Wertes des Beschwerdegegenstandes i.S. des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betreffend laufende lebensunterhaltssichernde Leistungen Senatsbeschluss vom 12.12.2016 – L 8 AY 51/16 B ER – juris Rn. 8) Beschwerde ist unbegründet. Das SG hat den Antragsgegner zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Nach diesen Maßgaben ist die einstweilige Anordnung des SG nicht zu beanstanden.

Das einer einstweiligen Anordnung zugängliche streitige Rechtsverhältnis der Beteiligten betrifft die beim SG anhängige Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20.11.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2.3.2021 über die Bewilligung von nach § 1a Abs. 3 AsylbLG eingeschränkten Leistungen für die Zeit vom 1.12.2020 bis zum 31.5.2021. Da (nur) der Antragsgegner Beschwerde eingelegt hat, betrifft die Prüfung der einstweiligen Anordnung des SG im Beschwerdeverfahren in zeitlicher Hinsicht nur den Zeitraum vom 5.12.2020 „bis zur Bescheidung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 20.11.2020“, also bis zum 2.3.2021.

Die Antragstellerin ist in diesem Zeitraum als Geduldete leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG gewesen. Die Duldung nach § 60b AsylbLG ist zwar nicht ausdrücklich in § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG genannt; sie fällt aber gleichwohl unter diese Norm, weil es sich bei dieser Duldung (auch) um eine i.S. des § 60a AufenthG „für Personen mit ungeklärter Identität“ handelt. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG (Senatsbeschluss vom 9.7.2020 – L 8 AY 52/20 B ER – juris Rn. 22; vgl. auch Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 136; a.A. Hohm in GK-AsylbLG, Stand: März 2021, § 1 AsylbLG Rn. 112-113; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 53).

Die Leistungen der Antragstellerin sind nach derzeitigem Sach- und Streitstand nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zu Unrecht gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG gekürzt worden.

Nach § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG (i.d.F.v. 15.8.2019, BGBl. I 1294) erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG, also vollziehbar ausreisepflichtige Personen mit oder ohne Duldung, bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, nur Leistungen in entsprechender Anwendung des § 1a Abs. 1 AsylbLG mit dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag. Das bedeutet, sie haben nur einen Anspruch auf deutlich reduzierte Leistungen; einen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG haben sie nicht. Ein leistungsmissbräuchliches Verhalten i.S. des § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG stellt insbesondere der Verstoß gegen die in § 48 Abs. 3 AufenthG normierte Pflicht eines Ausländers ohne gültigen Pass oder Passersatz dar, an der Beschaffung eines Identitätspapiers und der Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit mitzuwirken (BSG, Urteil vom 12.5.2017 – B 7 AY 1/16 R – juris Rn. 15 m.w.N. zu der Vorgängervorschrift des § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F.). Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG setzt ferner voraus, dass ein dem Ausländer vorwerfbares Verhalten vorliegt und dieses Verhalten ursächlich für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist, wobei das BSG bislang offengelassen hat, ob auch ein bloß fahrlässiges Verhalten den Tatbestand einer Anspruchseinschränkung erfüllen kann (BSG, a.a.O., Rn. 17). Zusätzlich muss ein ernsthaftes Bestreben der Ausländerstelle vorliegen, den Betroffenen in sein Heimatland zurückzuführen (BSG, a.a.O., Rn. 18 m.w.N.). Problematisch ist es, wenn nicht eine einzige Ursache im Sinne einer conditio sine qua non für die Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen in Betracht kommt, sondern mehrere Ursachen hierfür vorliegen. Dann ist zunächst zu prüfen, in wessen Verantwortungsbereich diese Ursachen fallen. Liegen mehrere Ursachen für die Unmöglichkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor, so dürfen den Leistungsberechtigten lediglich die Gründe zugerechnet werden, die sie nur selbst zu vertreten haben. Ursachen, die im Verantwortungsbereich der Ausländerbehörden, des Heimatlandes oder im politischen Raum anzusiedeln sind und die die Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung ebenfalls kausal beeinflussen, scheiden für eine Anspruchseinschränkung aus. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die vom Leistungsberechtigten gesetzte Ursache die einzige und diejenige sein muss, die die Anspruchseinschränkung rechtfertigt. Die Leistungsberechtigten müssen sich hingegen keine außerhalb ihres Verantwortungsbereiches liegenden Risiken zurechnen lassen (Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a Rn. 86; BSG, Urteil vom 27.2.2019 – B 7 AY 1/17 R – juris Rn. 27; zum Vorstehenden zuletzt Senatsbeschluss vom 15.7.2021 – L 8 AY 12/21 B ER -).

Bei der Auslegung des § 1a AsylbLG berücksichtigt der Senat auch die Rechtsprechung des BVerfG zu einem vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten, der strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit unterliegt und den sonst weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers zur Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit von Regelungen zur Ausgestaltung des Sozialstaates beschränkt (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 – juris 132-134; s. auch Senatsbeschluss vom 4.12.2019 – L 8 AY 36/19 B ER – juris Rn. 6 ff.; jüngst Sächsisches LSG, Beschluss vom 3.3.2021 – L 8 AY 8/20 B ER – juris Rn. 58 ff.). Zur Vermeidung eines möglichen Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ist § 1a AsylbLG in dem Sinne restriktiv auszulegen, dass eine Anspruchseinschränkung nur in denjenigen Fällen in Betracht kommt, in denen die tatbestandlichen Voraussetzungen eindeutig vorliegen. Nur in diesen Fällen stellt sich die vom Senat bislang noch nicht beantwortete Frage, ob die Rechtsfolge einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 1 Satz 2 AsylbLG (der Höhe nach) überhaupt verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen kann (vgl. dazu Sächsisches LSG, a.a.O.).

Nach gegenwärtigem Stand spricht zwar Überwiegendes dafür, dass die Antragstellerin in vorwerfbarer Weise ihren Mitwirkungspflichten im ausländerrechtlichen Verfahren nicht nachgekommen ist.

Nach § 48 Abs. 3 AufenthG ist ein Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, verpflichtet, an der Beschaffung von Identitätspapieren mitzuwirken sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist der Ausländer damit verpflichtet, es nicht nur bei der Einreichung der erforderlichen Unterlagen und einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung seines Heimatstaates zu belassen, sondern darüber hinaus, falls ihm das Identitätspapier nicht in angemessener Zeit ausgestellt wird, regelmäßig nachzufragen, sich nach den Gründen für die Bearbeitungsdauer zu erkundigen und beharrlich um die Ausstellung des Papiers nachzusuchen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.10.2018 – OVG 3 B 4.18 – juris Rn. 22; VG München, Beschluss vom 5.9.2018 – M 25 S 18.2249 – juris Rn. 17; VG Hamburg, Urteil vom 2.11.2010 – 8 K 1605/10 – juris Rn. 20). Allerdings muss die Ausländerbehörde gesetzliche Mitwirkungspflichten z.B. zur Beschaffung von Identitätspapieren (§ 48 Abs. 3 AufenthG) konkret gegenüber dem Betroffenen aktualisiert haben, um aus der mangelnden Mitwirkung negative aufenthaltsrechtliche Folgen ziehen zu können (BVerwG, Urteil vom 26.10.2010 – 1 C 18/09 – juris Rn. 17; SG München, Beschluss vom 31.1.2017 – S 51 AY 122/16 ER – juris Rn. 40). Ferner folgt aus § 82 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Hinweispflicht für die Ausländerbehörde, die in aller Regel über bessere Kontakte und Kenntnisse hinsichtlich der bestehenden Möglichkeiten zur Beschaffung von Heimreisepapieren verfügt (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21.2.2017 – OVG 3 B 14.16 – juris Rn. 24 m.w.N.). Diese Grundsätze sind auf die Beurteilung eines leistungsrechtlich nach § 1a Abs. 3 AsylbLG relevanten Verhaltens zu übertragen, allerdings mit der Maßgabe einer restriktiven Auslegung bezogen auf eindeutige und nachhaltige Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Mitwirkungspflichten (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 6.6.2019 – L 8 AY 17/19 B ER -; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a Rn. 133). Eine Beschränkung von Leistungen kommt wegen der Auswirkungen der Leistungskürzung nur in Betracht, wenn die Behörde einem Antragsteller eine konkrete, erfüllbare und zumutbare Mitwirkungshandlung aufgibt, die dieser aus von ihm zu vertretenden Umständen nicht befolgt. Das Ergebnis der Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen muss auf Umständen beruhen, die dem Verantwortungsbereich der handelnden Person zuzurechnen sind (Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 85 m.w.N.). Dabei muss eine umfassende konkrete Bewertung anhand des Einzelfalles erfolgen (Oppermann, a.a.O., § 1a AsylbLG Rn. 89). Entscheidend ist, ob das Fehlverhalten des Ausländers monokausal war oder nicht ein komplettes staatliches Versagen („Ohnmacht des Staates“) diese Konstellation zumindest mitverursacht hat (Oppermann, a.a.O., § 1a Rn. 189).

In Übereinstimmung mit der Entscheidung des VG Göttingen vom 6.2.2020 (- 1 B 349/19 -; S. 4 des Beschlusses) dürfte die Antragstellerin auch in der streitgegenständlichen Zeit an der Beschaffung eines Passes oder Passersatzpapieres nur unzureichend mitgewirkt haben, obwohl die Ausländerstelle des Antragsgegners sie mehrfach und eindeutig auf ihre insoweit bestehenden Mitwirkungspflichten hingewiesen hat (u.a. am 27.6., 2.7., 13. und 30.8., 28.11.2019 sowie im Weiteren bei der Ausstellung einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität nach § 60b AufenthG). Ernsthafte Bemühungen zur Klärung ihrer Identität und zur Erlangung von aussagekräftigen Dokumenten sind (noch immer) nicht nachgewiesen. Dies gilt für den angeblichen Versuch, durch eine beauftragte – namentlich nicht genannte – Frau bei dem zuständigen Standesamt in der Ukraine eine Geburtsurkunde zu beschaffen; der Antragsgegner hat zutreffend darauf hingewiesen, dass das insoweit von der Antragstellerin und ihrer Mutter vorgelegte Schreiben des Zentralamtes des Standesamtswesens (…) vom 18.8.2020 lediglich ein Informationsblatt ist und eine entsprechende Antragstellung nicht dokumentiert. Auch die (angeblichen) Botschaftsvorsprachen belegen nicht in hinreichender Weise, dass die Antragstellerin das ihr Mögliche zur Klärung ihrer Identität und Beschaffung von entsprechenden Dokumenten unternommen hat. Der Vortrag der Antragstellerin und ihrer Mutter in dem bereits entschiedenen Parallelverfahren (Beschluss vom 24.6.2021 – L 8 AY 20/21 B ER -), sie selbst wüssten nicht, welcher Staatsangehörigkeit sie seien, und hätten deshalb im bisherigen ausländerrechtlichen Verfahren gar keine Angaben hierzu gemacht, erscheint mit Rücksicht auf ihre Lebensverhältnisse in der Ukraine – angeblich mit rechtmäßigem Aufenthalt wegen einer Aufenthaltserlaubnis (der Mutter), der Lebensunterhaltssicherung durch Erwerbstätigkeit und dem (regulären) Schulbesuch der Antragstellerin – vorgeschoben. Dass es der Antragstellerin (und ihrer Mutter) unter diesen Umständen nicht möglich sein soll, irgendwelche (aussagekräftigen) Belege über ihre Identität vorzulegen, ist nicht glaubhaft. Ihre mangelnde Mitwirkung im ausländerrechtlichen Verfahren ist mit hinreichender Gewissheit auch der (alleinige) Grund dafür gewesen, dass ihr gegenüber aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht durchgeführt werden konnten.

Anders als im Fall ihrer Mutter bestehen aber durchdringende Zweifel daran, dass die Einschränkung des Anspruchs nach § 1a Abs. 3 AsylbLG wegen mangelnder Mitwirkung an der Beschaffung von Pass- und/oder Passersatzpapieren die Aufenthaltsbeendigung der Antragstellerin (konkret) bezweckt, also in hinreichender Weise ein durchgängig ernsthaftes Bestreben der Ausländerstelle vorgelegen hat, die Antragstellerin in ihr Heimatland zurückzuführen (zu diesem Erfordernis BSG, Urteil vom 12.5.2017 – B 7 AY 1/16 R – juris Rn. 18 m.w.N.). Aus der gerichtlichen Auseinandersetzung um die Ausstellung einer Beschäftigungserlaubnis bzw. einer Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG (vgl. Beschluss des VG Göttingen vom 6.2.2020 – 1 B 349/19 -, S. 5) und dem beigezogenen Vorgang der Ausländerstelle ergibt sich, dass nicht eine Beendigung des Aufenthalts der Antragstellerin im Vordergrund steht bzw. gestanden hat; im Gegenteil bestünde bei Erfüllung der Passpflicht und Vorliegen der weiteren rechtlichen Voraussetzungen die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG oder § 18a AufenthG, weil die Antragstellerin in Deutschland während des Asylverfahrens bereits eine Ausbildung abgeschlossen hatte. Zudem komme die Erteilung einer Ausbildungsduldung in Betracht (vgl. die Vermerke der Ausländerstelle vom 13.12.2019 und vom 6.1.2020). Unter diesen Umständen ist in diesem Einzelfall eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht gerechtfertigt. Leistungsminderungen sind nur dann verhältnismäßig, wenn die Belastungen der Betroffenen auch im rechten Verhältnis zur tatsächlichen Erreichung des legitimen Zieles stehen (vgl. BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 – juris Rn. 133).

Der Antragstellerin haben für die Zeit vom 3.12.2020 bis zum 2.3.2021 (weiterhin) Analog-Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII zugestanden, weil sie sich bereits länger als 15 Monate ohne wesentliche Unterbrechung in Deutschland aufgehalten hat und eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer in Deutschland (noch) nicht anzunehmen war. Nach den Umständen des Einzelfalles wiegen Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung (i.S. des § 48 Abs. 3 AufenthG) nicht so schwer, dass ihnen auch im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommt. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), kann zum Ausschluss von Analog-Leistungen führen (dazu BSG, Urteil vom 17.6.2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rn. 33). In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Antragstellerin in einer besonderen Konfliktsituation befinden dürfte: eine Mitwirkung im ausländerrechtlichen Verfahren könnte einerseits ihrem weiteren Aufenthalt in Deutschland dienen, andererseits aber eine Abschiebung ihrer Mutter begünstigen. Zudem ist es gut möglich, dass die Antragstellerin auf Informationen und Hilfestellungen ihrer Mutter angewiesen ist, diese aber nicht von ihr erhält.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.