Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 25.08.2021 – Az.: S 11 AY 15/21 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragsteller,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Land Hessen, vertreten durch das Regierungspräsidium Gießen
Landgraf-Philipp-Platz 1-7, 35390 Gießen

Antragsgegner,

hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel durch die Richterin am Sozialgericht xxx als Vorsitzende am 25. August 2021 beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 14.7.2021 befristet bis 31.10.2021 ungekürzte Leistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.

GRÜNDE
I.

Der Antragsteller begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von ungekürzten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der am xxx in Guinea geborene Antragsteller reiste am 29.9.2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde in die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen in Gießen aufgenommen. Mittlerweile ist er am Standort in Kassel in der xxx untergebracht. Mit Bescheid vom 19.10.2020 wurden ihm Leistungen nach §§ 3 und 3a AsylbLG in Form von Sachleistungen für den notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Gesundheitspflege sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushaltes, ein saisonbedingtes Bekleidungspaket, ein Kombiticket zur Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (im Gegenwert von 23 € monatlich) und Leistungen zur Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfs i.H.v. 116 € als Barleistungsanspruch bewilligt. Mit Änderungsbescheid vom 14.1.2021 wurden die Barleistungsansprüche ab 01.1.2021 auf 123 € monatlich erhöht (Regelbedarfssatz 146 € abzüglich ÖPNV-Ticket i.H.v. 23 €).

Für den 25.3.2021 war die Überstellung des Antragstellers nach Spanien geplant. Vorher war er schriftlich aufgefordert worden, sich am 24.3.2021 beim Medizinischen Dienst in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen einer ärztlichen Corona-Testung zu unterziehen. Der Antragsteller nahm an der Testung nicht teil. Die geplante Überstellung nach Spanien fand infolgedessen nicht statt. Mittlerweile ist die sogenannte Dublin-Frist abgelaufen und das Asylverfahren des Antragstellers ist in ein nationales Verfahren übergegangen. Hier ist noch keine Entscheidung ergangen.

Nach vorheriger Anhörung vom 13.4.2021 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit Bescheid vom 30.4.2021 mit, unter Aufhebung des Bescheides vom 14.1.2021 würden dem Antragsteller in Anwendung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG ab sofort nur noch Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung, Körper- sowie Gesundheitspflege gewährt. Die Leistungen würden als Sachleistungen erbracht. Der Kürzungsbetrag enthalte die dem Antragsteller im Bescheid vom 14.1.2021 gewährten Leistungen i.H.v. 146 €, umfassend den Barbetrag i.H.v. 123 € und das als Sachleistung gewährte ÖPNV-Ticket im Wert von 23 €. Dies gelte zunächst für die Dauer von sechs Monaten. Dazu führte der Antragsgegner aus, Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 14.1.2021 sei eine entsprechende Anwendung von § 48 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 1a Abs. 3 S. 1 AsylbLG. Insoweit sei eine Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen eingetreten. Die wesentliche Änderung der Beurteilungsgrundlage bestehe darin, dass die Voraussetzungen einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 S. 1 AsylbLG vorliegen würden. Danach hätten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden könnten, ab dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung folgenden Tag keinen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG, es sei denn, die Ausreise habe aus Gründen, die sie nicht zu vertreten hätten, nicht durchgeführt werden können. Der Antragsteller sei nach § 90 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz vollziehbar ausreisepflichtig gewesen und habe die Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme am 25.3.2021 in Gießen verhindert, in dem er am 24.3.2021 nicht zum PCR-Test erschienen sei. Dazu habe dieser angegeben, er habe am 19.3.2021 einen Corona-Test in Kassel gemacht. Er sei dann nach Gießen transferiert worden. Er habe keinen Brief erhalten, in dem er zu einer Testung am 24.3.2021 aufgefordert worden sei. Er habe auch noch keinen Bescheid bezüglich des Asylverfahrens erhalten. Weil der Antragsteller an dem erforderlichen Corona-Test nicht teilgenommen habe, sei die für den 25.3.2021 geplante aufenthaltsbeendende Maßnahme (Überstellung) gescheitert. Nachweislich habe der Antragsteller die Vorladung zur Testung erhalten, diese sei ihm zugestellt und von ihm am 22.3.2021 unterschrieben worden. Nur mit einem negativen PCR-Test sei eine erfolgreiche Überstellung möglich. Der Antragsteller habe diese vereitelt. Daher sei die Leistungsbewilligung vom 14.1.2021 mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Der Antragsteller erhalte nur noch Leistungen zur Deckung seines Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung, Körper- und Gesundheitspflege so wie Kleidung in Form einer Sachleistung. Die Leistungskürzung sei verhältnismäßig und bestehe auf Grundlage von § 14 Abs. 1 AsylbLG zunächst für sechs Monate. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 13.7.2021 beantragte der Antragsteller die Überprüfung des Bescheides vom 30.4.2021 nach Maßgabe von § 44 SGB X. Mit am 14.7.2021 beim Sozialgericht Kassel eingegangenem Schreiben begehrt der Antragsteller die Gewährung ungekürzter Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung. Dazu wird geltend gemacht, entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16) könne die Leistungskürzung nicht verfassungsgemäß sein. Bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit sei im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen der Folgenabwägung treffen. Das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum des Antragstellers sei aktuell nicht gesichert. Es sei daher vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Sinne von § 86 Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszugehen. Die Sanktion nach § 1a Abs. 3 AsylbLG diene vorliegend der Sanktionierung eines Nichterscheinens zu einem PCR-Test. Dieses Ziel könne nicht mehr erreicht werden. Die Sanktion sei daher rechtswidrig.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 30.4.2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts ungekürzte Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung – sei nicht glaubhaft gemacht. Für die Notwendigkeit der Gewährung von Leistungen für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht sei nichts dargetan. Der Antragsteller berufe sich lediglich auf eine pauschale Unterdeckung des Existenzminimums, ohne dies in irgendeiner Form zu konkretisieren. Gegen eine besondere Eilbedürftigkeit spreche die Tatsache, dass der Eilantrag erst ca. 10 Wochen nach Erlass bzw. Zugang des Leistungsbescheids bei Gericht erhoben worden sei. Auch das Vorliegen der Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt sei – sei nicht glaubhaft gemacht worden. Der Bescheid vom 30.4.2021 sei rechtmäßig und verletze den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Er habe keinen Anspruch auf höhere Leistungen nach dem AsylbLG. Auf den Bescheid vom 30.4.2021 werde verwiesen. § 1a AsylbLG sei geltendes Recht und daher anzuwenden. Grundsätzlich gelte, dass das soziokulturelle Existenzminimum für Asylbewerber nicht bedingungslos sei, sondern vom Gesetzgeber ausgestaltet werden dürfe. Der Gesetzgeber dürfe seine Gewährung von der Erfüllung von sachlich-proportionalen Auflagen und Bedingungen abhängig machen (LPK-SGB XII/Ulrich-Arthur Birk, 12. Aufl. 2020, AsylbLG § 1a Rn. 25). Bei der Verweigerung zumutbarer ausländerrechtlicher Mitwirkungspflichten sei eine Kürzung auf das unerlässliche Existenzminimum daher rechtmäßig. Die für den 25.3.2021 geplante sogenannte Dublin-Überstellung des Antragstellers nach Spanien sei gescheitert, da der Antragsteller nicht zum PCR-Test erschienen sei. Für eine Dublin-Überstellung stelle das BAMF ein sogenanntes Laissez-passer aus. Bei Ausstellung dieses Passersatzdokuments müsse die Identität der zu überstellenden Person nicht abschließend geklärt sein. Nunmehr sei die sogenannte Dublin-Frist abgelaufen und das Asylverfahren sei in ein nationales Verfahren übergegangen. Eine Abschiebung in das Herkunftsland habe nicht stattgefunden, da der Antragsteller derzeit über keinerlei Reisedokumente verfüge.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, soweit dieser Gegenstand der Entscheidung ist.

II.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG ist zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), als auch ein Anordnungsanspruch (d. h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG) ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere oder unzumutbare, später nicht wiedergutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG 79, 69 74 m. w. N.). Soweit dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage in einem solchen Eilverfahren nicht möglich ist, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschlüsse v. 12.05.2005 – 1 BvR 569/05, Rd.-Nr. 19, 26 und vom 25.02.2009 – 1 BvR 120/09, Rd.-Nr. 11, jeweils zitiert nach juris).

Vor diesem Hintergrund ist der Antrag des Antragstellers ab Eingang bei Gericht am 14.7.2021, wie im Tenor dieses Beschlusses formuliert, zulässig und auch begründet. Dabei stützt sich die erkennende Kammer im Hinblick auf die vorläufige Verpflichtung der Leistungsbehörde zur Gewährung ungekürzter Leistungen auf die Ausführungen des Hessischen Landessozialgerichts zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung von § 1a AsylbLG gerade in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem das Scheitern einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme in der fehlenden Mitwirkung des Leistungsbeziehers gesehen wird. Zu nennen ist hier zu insbesondere eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 26.2.2020 im Verfahren L 4 AY 14/19 B ER und vom 26.7.2021 im Verfahren L 4 AY 19/21 B ER.

Vorliegend kommt als Anlass für die vorgenommene Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG allein die Nichtteilnahme des Antragstellers an der geforderten Corona-Testung vor der vom Antragsgegner für den 25.3.2021 beabsichtigten sogenannten Dublin-Überstellung des Antragstellers nach Spanien in Betracht. Unabhängig vom Ausmaß der alleinigen Verantwortung des Antragstellers an der gescheiterten Überstellung ist im Falle des Antragstellers entscheidend zu berücksichtigen, dass nunmehr wegen Fristablaufs eine Dublin-Überstellung des Antragstellers in das Erstaufnahmeland Spanien nicht mehr möglich ist und sein Asylverfahren komplett in Deutschland abzuwickeln ist. Bis zur Entscheidung im Asylverfahren des Antragstellers wird es eine vollziehbare Ausreiseverpflichtung nicht geben. Damit ist indes ein Anordnungsanspruch auf ungekürzte Leistungen nach dem AsylbLG zu bejahen, denn die Voraussetzungen des § 1 a AsylbLG liegen nicht mit hinreichender Gewissheit vor. Losgelöst von der verfassungsrechtlichen Problematik der Leistungskürzung im Rahmen des § 1a AsylbLG werden jedenfalls ab Eingang des Eilantrags des Antragstellers bei Gericht am 14.7.2021 die Voraussetzungen für eine Leistungskürzung nicht erfüllt. Denn weder eine Dublin-Überstellung noch eine Abschiebung in das Herkunftsland Guinea kommt derzeit unter irgendeinem gesetzlichen Hintergrund in Betracht. Insoweit ist jedenfalls ab Eingang des Eilantrags bei Gericht eine Leistungskürzung beim Antragsteller nicht mehr zu rechtfertigen.

Trotz der Bestandskraft des Bescheides vom 30.4.2021 und des erst zweieinhalb Monate nach Erlass des Kürzungsbescheids bei Gericht gestellten Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist wegen der Kürzung der Leistungen auf bloße Sachleistungen und des Wegfalls jeglicher Barauszahlungen zur Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfs die Eilbedürftigkeit und damit ein Anordnungsgrund zu bejahen. Allein maßgeblich ist, dass die aktuellen Kürzungen schon wegen Fehlens der hierfür gesetzlichen Voraussetzungen verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht genügen können. Das menschenwürdige Existenzminimum des Antragstellers ist jedenfalls nicht gesichert.

Da sich die vom Antragsgegner vorgenommene Leistungskürzung im Bescheid vom 30.4.2021 auf sechs Monate beschränkt, und der im Streit stehende Leistungszeitraum insoweit begrenzt wird, war die Entscheidung des Gerichts zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bis zum 31.10.2021 zu befristen.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Im Streit steht die Kürzung von monatlichen Leistungen im Umfang von 146 € (Regelsatz i.H.v. 146 € einschließlich Ticket für den ÖPNV i.H.v. 23 €) für rund dreieinhalb Monate (14.7.2021 – Antragseingang bei Gericht – bis 31.10.2021). Es stehen also nur 511 € im Streit und die für ein Hauptsacheverfahren maßgebliche Berufungssumme von 750 € gemäß § 144 SGG wird nicht erreicht. Damit ist vorliegend gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG die Beschwerde ausgeschlossen.