1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)
1.1 – BSG, Urt. v. 02.09.2021 – B 8 SO 13/19 R
Sozialhilfe – Unterkunfts- und Heizkosten – Angemessenheit – älterer Mensch
Sozialhilfe muss Rentnern nicht höhere Heizkosten bezahlen
Kälteempfindliche, ältere Sozialhilfebezieher können vom Sozialhilfeträger nicht pauschal die Übernahme höherer Heizkosten beanspruchen. Nur wenn im jeweiligen Einzelfall tatsächlich ein konkreter erhöhter Wärmebedarf vorliegt, ist nach dem Gesetz eine Übernahme der angemessenen Kosten möglich.
Quelle: www.evangelisch.de
1.2 – BSG, Urt. v. 02.09.2021 – B 8 SO 5/20 R
Sozialhilfe – Hilfe zum Lebensunterhalt – verwertbares Vermögen – private Rentenversicherung – Verwertungsausschluss
Kann eine private Rentenversicherung auch bei Vereinbarung eines Verwertungsausschlusses für die Zeit vor dem Eintritt in den Ruhestand einzusetzendes Vermögen im Sinne des § 90 Absatz 1 SGB XII darstellen
Nur eingeschränkter Zugriff des Sozialamtes auf Lebensversicherung
Schließen Sozialhilfebezieher den Verkauf ihrer erst in Jahren fälligen privaten Lebensversicherung vertraglich aus, darf das Sozialamt dies bei der Bewilligung von Sozialhilfe berücksichtigen. Nur wenn eine private Rentenversicherung innerhalb von zwölf Monaten verwertet werden kann, darf der Sozialhilfeträger die Leistungen als Darlehen statt als Zuschuss gewähren.
Quelle: www.evangelisch.de
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – LSG Baden-Württemberg Beschluß vom 22.7.2021, L 3 AS 4008/20 B
Leitsätze
Eine Beschwerde gegen Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren ablehnenden Beschluss ist auch dann unbegründet, wenn dadurch, dass der im erstinstanzlichen Verfahren angegriffene rechtmäßige Bescheid über vorläufige Leistungen im Laufe des Beschwerde- und Berufungsverfahrens durch einen (teilweise) rechtswidrigen Bescheid über endgültige Leistungen ersetzt wird, nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens (teilweise) Erfolgsaussicht eingetreten ist.
Quelle: lrbw.juris.de
2.2 – LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2021, L 3 AS 1027/19
Leitsätze
1. Da die gerichtliche Überprüfung eines Konzepts zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenze der durch den Grundsicherungsträger übernahmefähigen Unterkunftskosten als nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet ist, bedarf es einer ins Einzelne gehenden Überprüfung von Detailfragen der Repräsentativität und Validität der dem Konzept zugrundeliegenden Daten erst, wenn fundierte Einwände erhoben werden, die über ein Bestreiten der Stimmigkeit bestimmter Daten hinausgehen (Anschluss an BSG, Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R, juris Rn. 30).
2. Wenn der Angebotswohnungsmarkt größer ist als die Anzahl der durch Auswertung von Vermietungsanzeigen ermittelten Angebotsmieten, weil nicht alle verfügbaren Wohnungen durch Anzeigen vermarktet werden, lässt sich die ausreichende Verfügbarkeit des innerhalb der Angemessenheitsgrenze liegenden freien Wohnraums nicht durch eine Gegenüberstellung der im Vergleichsraum lebenden Bedarfsgemeinschaften mit oberhalb der Angemessenheitsgrenze liegenden Unterkunftskosten und der Anzahl der zur Angemessenheitsgrenze verfügbaren Angebotsmieten ermitteln.
Quelle: lrbw.juris.de
2.3 – LSG Hamburg, Urt. v. 04.06.2021 – L 4 AS 195/20
Voraussetzungen einer rückwirkenden Aufhebung von Leistungen der Grundsicherung bei Bezug von Leistungen nach BAföG
Orientierungssatz
1. Nach § 7 Abs. 5 SGB 2 haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAföG dem Grunde nach förderungsfähig ist, über die Leistungen nach § 27 SGB 2 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. (Rn.47)
2. Nach § 15 Abs. 2a BAföG führt erst eine krankheitsbedingte Verhinderung der Ausbildungsteilnahme für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten zum Wegfall der BAföG-Förderungsfähigkeit. (Rn.48)
3. Die Aufhebung von Leistungen der Grundsicherung mit Wirkung für die Vergangenheit setzt nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB 10 grobe Fahrlässigkeit wesentlicher unrichtiger Angaben voraus. (Rn.50)
4. Dabei reicht es nicht aus, dass der Betroffene Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit seiner Angaben bzw. an der Rechtmäßigkeit hat. Die Zweifel müssen so ausgestaltet sein, dass es für jeden erkennbar ist, dass insoweit wenigstens eine Nachfrage notwendig wäre. (Rn.51)
Quelle: www.landesrecht-hamburg.de
2.4 – LSG Hamburg, Urt. v. 27.05.2021 – L 4 AS 166/18
Der Zufluss auf ein im Soll stehendes Konto ist als Einkommen bei der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung zu berücksichtigen
Orientierungssatz
Bei der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung ist der Zufluss auf ein im Soll stehendes Konto des Hilfebedürftigen als Einkommen nach § 11 SGB 2 zu berücksichtigen. Die entsprechende Dispo-Rückführung ist eine Art der Einkommensverwendung (BSG Urteil vom 29. 4. 2015, B 14 AS 10/14 R). (Rn.38)
Quelle: www.landesrecht-hamburg.de
2.5 – LSG Hamburg, Urt. v. 29.04.2021 – L 4 AS 272/18
Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Grundsicherungsträgers bei Aufhebung einer vorläufigen Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung
Orientierungssatz
1. Ein vorläufiger Bewilligungsbescheid über Leistungen der Grundsicherung kann nicht nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 bis 4 SGB 10 aufgehoben werden, wenn der Grundsicherungsträger keine ausreichenden Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit des Betroffenen unter Berücksichtigung des maßgeblichen Einkommens und Vermögens unternommen hat. (Rn.48)
2. Die Hilfebedürftigkeit des in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Betroffenen entfällt erst dann, wenn innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ein ausreichendes Einkommen erzielt wird. (Rn.49)
3. Ist der Grundsicherungsträger seiner Ermittlungs- und Feststellungspflicht nicht hinreichend nachgekommen, so ist der ergangene SGB 2-Aufhebungsbescheid aufzuheben. (Rn.50)
4. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts durch die Nachholung der vom Leistungsträger unterlassenen Ermittlungen zu schaffen (BSG Urteil vom 25. 6. 2015, B 14 AS 30/14). (Rn.52)
Quelle: www.landesrecht-hamburg.de
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
3.1 – SG Reutlingen, Urteil vom 22.09.2020, S 10 AS 916/20 -rechtskräftig
Keine Rückforderung des Jobcenters, wenn eine Bank Arbeitsentgelt zurückbehält
Quelle: sozialgericht-reutlingen.justiz-bw.de
3.2 – SG Magdeburg, Urt. v. 23.07.2021 – S 7 AS 3445/15
Leitsatz
1. Bei den Kosten für einen Garagenstellplatz handelt es sich gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II um zu übernehmende Kosten der Unterkunft und Heizung, soweit die Wohnung ohne den Garagenstellplatz nicht anmietbar ist und sich der Mietpreis bei fehlender “Abtrennbarkeit” der Garage noch innerhalb des Rahmens der Angemessenheit für den maßgeblichen Wohnort hält.
2. Die analytische Raumkategorie Mittelbereich ist eine geeignete Grundlage, um aus ihr einen homogenen Lebens- und Wohnbereich ableiten zu können.
3. Die Kosten der Unterkunft-Richtlinie auf der Grundlage der Mietwerterhebung 2012 in der Auswertung des Korrekturberichts 2020 beruht für den Zeitraum vom 01. Februar 2015 bis zum 31. März 2015 auf einem schlüssigen Konzept. Die Amtsermittlungspflicht des erkennenden Gerichts beschränkt sich auf eine nachvollziehende Verfahrenskontrolle. Eine ins Einzelne gehende Überprüfung bestimmter Detailfragen verlangt, dass fundierte Einwände erhoben werden, wobei ein bloßes Bestreiten der Stimmigkeit der Daten nicht ausreichend ist (folgend: LSG Sachsen-Anhalt (5. Senat), Urteil vom 15.04.2021 – L 5 AS 391/19).
Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
4.1 – Sächsisches LSG, Urteil v. 14.07.2021 – L 8 SO 101/17
Sozialhilfe – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Einkommenseinsatz – Absetzung von Beiträgen zu privaten Versicherungen – Angemessenheit einer privaten Unfallversicherung – Üblichkeit – statistische Auswertungen – besondere Umstände des Einzelfalles (hier bejahend)
Leitsatz
Ob eine private Unfallversicherung bei Beziehern von Einkommen knapp oberhalb der Grundsicherungsgrenze üblicherweise abgeschlossen wird, wird regelmäßig abgeleitet aus statistischen Auswertungen. Beläuft sich der Prozentsatz auf mindestens 50 vom Hundert der gesamten Bevölkerung, so soll zur Bewertung der Üblichkeit davon ausgegangen werden dürfen, dass auch Bezieher von Einkommen knapp oberhalb der Grundsicherungsgrenze solche Versicherungen regelmäßig abschließen. Die Ermittlung eines solchen Prozentsatzes der Bevölkerung, der zu einer bestimmten Zeit eine derartige Versicherung hielt, lässt jedoch keine abschließende Bewertung der Üblichkeit zu. Denn auch besondere Umstände des Einzelfalles können dazu führen, dass eine private Absicherung als angemessen zu bewerten ist (Anschluss an BSG vom 10.5.2011 – B 4 AS 139/10 R = SozR 4- 4200 § 11 Nr 38 RdNr 22, 23). (Rn.29)
Quelle: Juris
5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbL
5.1 – Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 25.08.2021 – Az.: S 11 AY 15/21 ER
Normen: § 1a Abs. 3 AsylbLG – Schlagworte: AsylbLG, Leistungskürzung, Corona-Test, Spanien, Sozialgericht Kassel
Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
Gewährung ungekürzter Leistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe.
Dabei stützt sich die erkennende Kammer im Hinblick auf die vorläufige Verpflichtung der Leistungsbehörde zur Gewährung ungekürzter Leistungen auf die Ausführungen des Hessischen Landessozialgerichts zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung von § 1a AsylbLG gerade in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem das Scheitern einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme in der fehlenden Mitwirkung des Leistungsbeziehers gesehen wird. Zu nennen ist hier zu insbesondere eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 26.2.2020 im Verfahren L 4 AY 14/19 B ER und vom 26.7.2021 im Verfahren L 4 AY 19/21 B ER.
weiter bei RA Sven Adam
6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher
6.1 – Hartz IV: Garagenkosten sind Kosten der Unterkunft, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt
weiter: sozialberatung-kiel.de
6.2 – Anwendungshinweise des BMI zu den Änderungen im FreizügG, u. a. zu nahestehenden Personen, ein Beitrag von Claudius Voigt
im November 2020 sind umfangreiche Änderungen zum FreizügG in Kraft getreten. Unter anderem ist im neuen § 3a FreizügG ein Aufenthaltsrecht für „nahestehende Personen“ von Unionsbürger*innen eingeführt worden, das in bestimmten Fällen an Verwandte in der Seitenlinie, an Pflegekinder und an Partner*innen in eheähnlichen Gemeinschaften verliehen werden kann. Diese neue Regelung ist kompliziert ausgestaltet und von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig. Das BMI hat zu den Änderungen im FreizügG Anwendungshinweise herausgegeben, in denen unter anderem ausführliche Erläuterungen zu die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nahestehende Personen enthalten sind: www.bmi.bund.de
Weitere Erläuterungen gibt es in der Arbeitshilfe „Freizügigkeitsrechte in familiären Konstellationen“ des Paritätischen Gesamtverbands: www.der-paritaetische.de
6.3 – Kein volles Aufenthaltsrecht nach Scheidung von EU-Bürgerin – Europäischer Gerichtshof verneint Ungleichbehandlung bei häuslicher Gewalt
Nicht-EU-Ausländer, die in einer Ehe mit einem EU-Bürger Opfer häuslicher Gewalt wurden, können nach einer Scheidung nicht auf soziale Unterstützung hoffen. Nach EU-Recht ist es zulässig, wenn die Mitgliedsstaaten den weiteren Aufenthalt von ausreichenden eigenen Mitteln abhängig machen, wie am Donnerstag der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg in einem Fall aus Belgien entschied. (Az: C-930/19)
weiter: www.androidkosmos.de
6.4 – Sachkunde des Gerichts, ein Beitrag von Herbert Masslau
Der nachfolgende Artikel ist veranlasst durch die Unsitte an deutschen Sozialgerichten, eigene Meinungen zu Sachthemen zur Grundlage von gerichtlichen Entscheidungen zu machen, wo eigentlich sachverständige Kunde von anderen Personen angebracht wäre.
weiter: www.herbertmasslau.de
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker