Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 27.08.2021 – Az.: S 11 AY 17/21 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragsteller,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Kassel, vertreten durch den Kreisausschuss, Fachbereich Aufsicht und Ordnung
Wilhelmshöher Allee 19-21, 34117 Kassel

Antragsgegner,

hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel durch die Richterin am Sozialgericht xxx als Vorsitzende am 27. August 2021 beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 28.7.2021 vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Überprüfungsantrag und längstens befristet bis 30.11.2021 ungekürzte Leistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.

GRÜNDE
I.

Der Antragsteller begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von ungekürzten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der am xxx in Somalia geborene Antragsteller ist somalischer Staatsangehöriger und reiste nach eigenen Angaben im Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 12.8.2016 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 28.12.2016 wurde der Antrag des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Antrag auf Asylanerkennung und der Antrag auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wurden vom BAMF verneint und der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche zu verlassen, andernfalls erfolge seine Abschiebung nach Somalia. Der Bescheid des BAMF wurde rechtskräftig. Seitdem hält sich der Antragsteller mit jeweils erneut befristeten Duldungen in Deutschland auf und wohnt gegenwärtig in einer Gemeinschaftsunterkunft in Wolfhagen. Wiederholt wurde der Antragsteller in der Vergangenheit von der zuständigen Ausländerbehörde aufgefordert, sich in der Botschaft der Republik Somalia in Berlin einen Pass oder sonstiges Ausweispapier zur Ermöglichung seiner Ausreise ausstellen zu lassen. Dieser Aufforderung ist der Antragsteller bislang nicht nachgekommen. Gegenwärtig verfügt der Antragsteller über eine bis 1.9.2021 gültige Duldung. Mit Bescheid vom 9.3.2021 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller von März bis Juni 2021 auf Grundlage von §§ 3 und 3a Abs. 1 und 2 AsylbLG monatliche Leistungen i.H.v. 328 €.

Mit Bescheid vom 28.5.2021 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, in der Zeit vom 1.6.2021 bis 30.11.2021 würden ihm nur noch gekürzte Leistungen gemäß § 1a Abs. 3 i.V.m. § 1a Abs. 1 Satz 2 – 4 AsylbLG bewilligt. Ausgezahlt würden (neben den Sachleistungen) monatliche Leistungen i.H.v. 173 €. Dazu führte der Antragsgegner aus, gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG sei bei Leistungsberechtigten, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden könnten, der Anspruch einzuschränken. Der Missbrauchstatbestand des § 1a Abs. 3 AsylbLG setze voraus, dass die von der zuständigen Behörde beabsichtigten aufenthaltsbeendenden Maßnahmen wegen des Verhaltens des Ausländers nicht vollzogen werden könnten. Es müsse sich um ein in den Verantwortungsbereich des Ausländers fallendes vorwerfbares Verhalten handeln, das adäquat-kausal die Ursache für die Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme darstelle. Trotz wiederholter Aufforderungen der zuständigen Ausländerbehörde zur Passbeschaffung sei der Antragsteller seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Trotz Corona-Pandemie habe das somalische Generalkonsulat geöffnet und dem Antragsteller wäre es möglich gewesen, mit diesem in Kontakt zu treten, um einen Pass zu beantragen. Mit Schreiben vom 9.3.2021 sei der Antragsteller zur beabsichtigten Kürzung der Leistungen angehört worden. Es liege in seinem Verantwortungsbereich, sich erforderliche Heimreisedokumente zu beschaffen. Die Nichtbeschaffung der erforderlichen Dokumente sei die Ursache für die Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme. Gemäß § 1a Abs. 3 i.V.m. § 1a Abs. 1 Satz 2 – 4 AsylbLG würden Leistungsberechtigte bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung der Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege erhalten. Der Bescheid vom 28.5.2021 wurde bestandskräftig.

Mit an den Antragsgegner gerichtetem Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 26.7.2021 wurde die Überprüfung der Kürzungsentscheidung des Antragsgegners nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) beantragt. Hierüber wurde bislang nicht entschieden.

Mit am 28.7.2021 beim Sozialgericht Kassel eingegangenem Schreiben begehrt der Antragsteller die Gewährung ungekürzter Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung. Dazu wird geltend gemacht, entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16) könne die Leistungskürzung nicht verfassungsgemäß sein. Bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit sei im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen der Folgenabwägung zu treffen. Das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum des Antragstellers sei aktuell nicht gesichert. Es sei daher vom Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Sinne von § 86 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszugehen. Die Kürzung des Regelbedarfs um mehr als 50% sei ohnehin mit Artikel 1 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbaren. Die Leistungskürzung müsse bis zum Ausgang der Hauptsache ausgesetzt werden.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 28.5.2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts ungekürzte Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Dazu führt er aus, der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz könne keinen Erfolg haben. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86b Abs. 2 SGG zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile als notwendig erscheine. Voraussetzung hierfür sei, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht würden. Diese Voraussetzungen seien vorliegend nicht erfüllt. Es sei bereits kein Anordnungsgrund ersichtlich. Der Antragsteller erhalte gemäß § 1a Abs. 1, 3 AsylbLG eingeschränkte Leistungen, weil er sich der gemäß § 60b Abs. 3 AufenthG zumutbaren Passbeschaffung verweigere. Die gesetzlich angeordnete Rechtsfolge der gekürzten Leistungserbringung nach § 1a AsylbLG stehe der beantragten verfassungskonformen Auslegung entgegen (vgl. SG Osnabrück vom 9.4.2021 – S 44 AY 77/19 -) Darüber hinaus werde vom Antragsgegner grundsätzlich die Auffassung vertreten, dass er ohne eine direkte Weisung des Regierungspräsidiums als zuständige Fachaufsichtsbehörde darin gehindert sei, von dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut abzuweichen. Da bereits Leistungen in der begehrten gesetzlichen Höhe bewilligt worden seien, bestehe kein weiterer Anspruch und der Antrag sei abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners Bezug genommen, soweit dieser Gegenstand der Entscheidung ist.

II.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), als auch ein Anordnungsanspruch (d. h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG) ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere oder unzumutbare, später nicht wiedergutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG 79, 69 74 m. w. N.). Soweit dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage in einem solchen Eilverfahren nicht möglich ist, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschlüsse v. 12.05.2005 – 1 BvR 569/05, Rd.-Nr. 19, 26 und vom 25.02.2009 – 1 BvR 120/09, Rd.-Nr. 11, jeweils zitiert nach juris).

Vor diesem Hintergrund ist der Antrag des Antragstellers ab Eingang bei Gericht am 28.7.2021, wie im Tenor dieses Beschlusses formuliert, zulässig und auch begründet. Dabei stützt sich die erkennende Kammer im Hinblick auf die vorläufige Verpflichtung der Leistungsbehörde zur Gewährung ungekürzter Leistungen auf die Ausführungen der erkennenden Kammer im Beschluss vom 5.5.2021 (S 11 AY 7/21 ER) und die Ausführungen des Hessischen Landessozialgerichts zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung von § 1a AsylbLG gerade in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem die Nichtdurchführbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen in der fehlenden Mitwirkung des Leistungsbeziehers gesehen wird. Zu nennen sind hier die Entscheidungen des Hessischen Landessozialgerichts vom 26.2.2020 im Verfahren L 4 AY 14/19 B ER und vom 26.7.2021 im Verfahren L 4 AY 19/21 B ER.

Vorliegend kommt als Anlass für die vorgenommene Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG die wiederholt vom Antragsteller geforderte und von diesem nicht erfüllte Passbeschaffung zur Ausreise in das Herkunftsland Somalia in Betracht. Hierzu hat das Hessische Landessozialgericht in der oben genannten Entscheidung vom 26.7.2021 (a. a. O.) ausgeführt, und insoweit folgt die erkennende Kammer diesen Ausführungen, dass die Weigerung, an der Passbeschaffung mitzuwirken, nicht grundsätzlich vorwerfbar sei. Soweit zur Passausstellung von der zuständigen somalischen Passbehörde eine Erklärung zur Freiwilligkeit der Ausreise des Antragstellers nach Somalia für die Passausstellung erforderlich ist, verweist das Hessische Landessozialgericht in der genannten vergleichbaren Entscheidung darauf, dass eine solche vom Antragsteller geforderte Erklärung entgegen seinem eigentlichen Willen von diesem nicht verlangt werden kann und der Wille als solcher staatlich auch nicht beeinflussbar sei. Vorliegend hat sich der Antragsteller seit bestandskräftiger Feststellung der Ausreiseverpflichtung nach Somalia in 2017 jeglicher Mitwirkung an einer Passbeschaffung verweigert und damit auch zum Ausdruck gebracht, nicht freiwillig ausreisen zu wollen. Schon unter dem Aspekt der fehlenden Freiwilligkeitserklärung bestehen im Hinblick auf die Verwirklichung des Missbrauchstatbestandes des § 1a AsylbLG Zweifel an der Berechtigung zur Leistungskürzung durch den Antragsgegner. Im Übrigen bestehen ausweislich des Akteninhalts (Bd. 2 der Verwaltungsakten des Antragsgegners) auch daran Zweifel, ob überhaupt eine Abschiebung nach Somalia gegenwärtig in Betracht kommt. So heißt es in wiederholten Vermerken, zuletzt vom 22.8.2019, dass eine Abschiebung nach Somalia tatsächlich nicht durchgeführt werden würde. Damit ist die für eine Leistungskürzung unabdingbare Verwirklichung des Missbrauchstatbestandes des §§ 1a Abs. 3 AsylbLG in zweifacher Hinsicht nicht mit hinreichender Gewissheit zu bejahen: Zum einen ist die fehlende Passbeschaffung subjektiv nicht vorwerfbar, weil die dem tatsächlichen Willen entgegenstehende Erklärung zur freiwilligen Ausreise aus Deutschland nicht abverlangt werden kann und zum anderen Absicht und gegenwärtige Möglichkeit einer Abschiebung nach Somalia überhaupt zweifelhaft sind. Losgelöst von der darüber hinaus bestehenden grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Problematik der Leistungskürzung im Rahmen des § 1a AsylbLG werden die Voraussetzungen hierfür nach Ansicht der erkennenden Kammer jedenfalls ab Eingang des Eilantrags des Antragstellers bei Gericht am 28.7.2021 nicht erfüllt. Die Leistungskürzung beim Antragsteller ist daher nicht zu rechtfertigen.

Trotz Bestandskraft des Bescheides vom 28.5.2021 und des erst zwei Monate nach Erlass des Kürzungsbescheids bei Gericht gestellten Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist wegen der Kürzung der Leistungen von bisher 328 € monatlich auf 173 € monatlich, d. h. um 155 € monatlich die Eilbedürftigkeit und damit ein Anordnungsgrund zu bejahen. Allein maßgeblich ist, dass die aktuellen Kürzungen um annähernd 50% der bisherigen Leistungen schon wegen Fehlens der hierfür gesetzlichen Voraussetzungen den vom Bundesverfassungsgericht gemachten Vorgaben nicht genügen können. Das menschenwürdige Existenzminimum des Antragstellers ist jedenfalls gegenwärtig nicht gesichert.

Da sich die vom Antragsgegner vorgenommene Leistungskürzung im Bescheid vom 28.5.2021 auf sechs Monate beschränkt und der im Streit stehende Leistungszeitraum insoweit begrenzt wird, war die Entscheidung des Gerichts zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bis zum 30.11.2021 zu befristen.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Im Streit steht die Kürzung von monatlichen Leistungen im Umfang von 155 € für 4 Monate und 4 Tage im Juli 2021 (28.7.2021 – Antragseingang bei Gericht – bis 30.11.2021). Es stehen also nur rund 641 € im Streit und die für ein Hauptsacheverfahren maßgebliche Berufungssumme von 750 € gemäß § 144 SGG wird nicht erreicht. Damit ist vorliegend gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG die Beschwerde ausgeschlossen