Amtsgericht Hildesheim – Urteil vom 24.02.2021 – Az.: 103 Cs 27 Js 7311/20

URTEIL

103 Cs 27 Js 7311/20

In der Strafsache

gegen

xxx,
geboren am xxx,
wohnhaft xxx,
ledig, Staatangehörigkeit: deutsch,

Verteidiger:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstr. 55, 37073 Göttingen

wegen Verstoßes gegen das nds. Versammlungsgesetzes

hat das Amtsgericht Hildesheim — Strafrichter — in der öffentlichen Sitzung vom 10.02.2021 und 24.02.2021, an der teilgenommen haben:

Richter am Amtsgericht xxx
als Strafrichter

AA’in xxx und StA xxx
als Beamte der Staatsanwaltschaft

Rechtsanwalt Sven Adam
als Verteidiger

Justizobersekretär xxx
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

für Recht erkannt:

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse.

GRÜNDE
I.

Der Angeklagte ist am xxx geboren und deutscher Staatsangehöriger.

Strafrechtlich ist der Angeklagte bislang nicht in Erscheinung getreten.

II.

1.
Dem Angeklagten wurde mit Strafbefehl des Amtsgerichts Hildesheim vom 22.10.2020 folgender Sachverhalt zur Last gelegt:

„Am 18.05.2020 gegen 12:20 Uhr war der Angeklagte zunächst Teilnehmer einer angemeldeten und genehmigten, ca. 1.200 Personen zählenden Demonstration, die sich mit dem Motto „Herz statt Hetze” als Gegenkundgebung zu der ebenfalls genehmigten und fast zeitgleich stattfindenden, fortbewegenden Versammlung (Aufzug mit Kundgebung) der Partei „Die Rechte” im Stadtgebiet von Hildesheim im Rahmen der Europawahlen der Öffentlichkeit präsentieren wollte. Gegen 12:30 Uhr begann der Angeklagte gemeinsam mit ca. 200 weiteren gleichgesinnten, teilweise vermummten Demonstrationsteilnehmern damit, sich in Höhe der Straße „An der Johanniskirche” auf die „Martin-Luther-Straße” zu setzen. Aufforderungen der Versammlungsleiterin, den Aufzug fortzusetzen, kam der Angeklagte nicht nach. Die Straße war an dieser Stelle, die Teil der beabsichtigten Aufzugstrecke der weiteren nachfolgenden Versammlung war, somit in voller Breite blockiert. Das Passieren dieses Streckenabschnitts war zu diesem und zum späteren Zeitpunkt für die gegen 14:30 Uhr nachfolgende Versammlung unter anderem auch wegen des mitgeführten Pkw mit Lautsprecher unmöglich.

Trotz mehrfacher Lautsprecherdurchsagen durch die Einsatzleitung der Polizei vor Ort waren der Angeklagte und die weiteren Blockierer nicht bereit, den Aufzugsweg für die andere Versammlung freizumachen, sodass diese 16 Versammlungsteilnehmer nebst Fahrzeug beabsichtigten, ihren durch die Stadt Hildesheim festgelegten Weg nicht fortsetzen konnten, vielmehr dort in einer Entfernung von ca. 250 m zur Blockade in der Zeit vom 15:10 Uhr bis 16:50 Uhr ausharrten, um dann die Versammlung unfreiwillig dort abzubrechen und zu beenden.

Nachdem zuvor mehrere Vermittlungsversuche sowie Lautsprecherdurchsagen zur zeitnahen Räumung der Fahrbahn gescheitert waren, wurde die als neue Versammlung eingestufte Sitzblockade durch die Polizei aufgelöst, dieses mittels Megaphon mitgeteilt, hierbei die Verfolgung einer Straftat gemäß § 20 Abs. 1 Nummer 2 NVersG angekündigt und gegen 15:40 Uhr mit der Räumung der Teilnehmer der (Verhinderungssitz-) Blockade begonnen.

Durch die Mitwirkung des Angeklagten an dieser Sitzblockade hat er die ordnungsgemäße Durchführung einer anderen genehmigten Versammlung behindert und letztlich in erheblichem Maße vereitelt. In Kenntnis der Sachlage vor Ort, spätestens nach den wiederholten, klar und verständlich sowie formgerecht gemachten Lautsprecherdurchsagen der Einsatzleitung war dem Angeklagten bekannt und bewusst, dass durch sein Verhalten eine erhebliche Störung einer anderen, nicht verbotenen Versammlung mitverursacht wurde, insbesondere deren Teilnehmer von ihrem verfassungsgemäßen Demonstrationsrecht keinen Gebrauch machen konnten. Indem es dem Angeklagten darum ging, die ihm nicht zusagende Versammlung der Partei „Die Rechte” zu verhindern oder derart umzufunktionieren, dass sie nicht dem vom Veranstalter gewünschten Effekt erzielen konnte, handelte er darüber hinaus auch mit Versammlungsvereitelungsabsicht.

Es wäre dem Angeklagten nach den vorgenannten Hinweisen möglich und zumutbar gewesen, dem Beispiel anderer Sitzblockierer zu folgen und sich gleichzeitig räumlich aus diesem Personenkreis zu entfernen und damit die Beeinträchtigung anderer in hinnehmbarer Weise zu gestalten.”

Dem Angeklagten wurde deshalb vorgeworfen, sich eines Verstoßes gegen das niedersächsische Versammlungsgesetz gemäß §§ 4, 20 Abs. 1 Nr. 2 NVersG strafbar gemacht zu haben.

2.
Demgegenüber hat das Gericht folgende Feststellungen getroffen:

Nachdem die ca. 200 Personen umfassende Gruppe um den Angeklagten (im Folgenden: Gegenversammlung) sich gegen 12:31 Uhr auf der Martin-Luther-Straße sitzend niedergelassen hatte, positionierten sich auf dem in Aufzugsrichtung linken Bürgersteig in der Folgezeit zunächst zahlreiche Beamte der an diesem Tag zur Absicherung eingesetzten Polizeihundertschaft. Auf dem rechten Bürgersteig wurde ein Polizeifahrzeug der Marke VW Transporter abgestellt. Um 13:12 Uhr erließ die Polizei die beschränkende Verfügung, dass der Gehweg durch die Demonstrierenden als Rettungsweg freizuhalten sei. Dieser Verfügung wurde auch Folge geleistet; zu keinem Zeitpunkt ließen sich dort Demonstrierende nieder. So war zwischen dem Beginn der Gegenversammlung und dem Beginn ihrer Auflösung seitens der Polizei gegen 15:10 Uhr zumindest der in Aufzugrichtung rechte Bürgersteig der Martin-Luther-Straße zu jedem Zeitpunkt für Einzelpersonen und kleinere Gruppen sicher, für einen mitgeführten PKW zumindest nicht sicher ausschließbar passierbar.

Gleichwohl entschied sich der Einsatzleiter der Polizei vor Ort dazu, die zunächst als Spontandemonstration deklarierte Gegenversammlung schließlich auflösen zu lassen, in dem die einzelnen Teilnehmer angesprochen und weggeführt wurden. Ein Vorbeiführen der anlassgebenden Kundgebung der Partei „Die Rechte” (im Folgenden: anlassgebende Versammlung) nebst des von ihr mitgeführten Fahrzeugs (VW Passat) an der Gegenversammlung wurde durch die Polizei nicht versucht.

Die 200 Personen umfassende Gegenversammlung wurde seitens der vor Ort befindlichen Polizei mittels Lautsprecherdurchsagen zu keinem Zeitpunkt direkt aufgefordert, die Martin-Luther-Straße für die anlassgebende Versammlung zu räumen oder diese freizugeben. Stattdessen wurde den Demonstrierenden lediglich angeboten, die Versammlung jederzeit verlassen zu können.

III.

1.
Die Feststellungen zur Person des Angeklagten beruhen auf dem im Rahmen der Hauptverhandlung verlesenen Bundeszentralregisterauszug vom 08.01.2021.

2.
Die Feststellungen unter II. 2. beruhen auf der durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere auf Vernehmung der Zeugen xxx, xxx, xxx, sowie auf der Inaugenscheinnahme der Videoaufnahmen vom Tattag.

Der Zeuge xxx hat in Hauptverhandlung ausgesagt, er sei an jenem Tag als Einsatzabschnittsleiter vor Ort eingesetzt und konkret zuständig für die Freihaltung der Aufzugsstrecke gewesen. Nachdem sich die Gegenversammlung auf der Straße niedergelassen gehabt habe, habe er, der Zeuge, eigentlich über die polizeilichen Lautsprecherdurchsagen zum Räumen der Straße auffordern lassen wollen. Dies sei aber aufgrund eines polizeiinternen Versäumnisses nicht hinreichend konkret formuliert worden, weswegen den Demonstrierenden lediglich wiederholt angeboten worden, die Versammlung jederzeit verlassen zu können und dass sie sich, so sie diesem Angebot nicht folgten, strafbar machten. Nach einiger Zeit habe er schließlich erfahren, dass die anlassgebende Versammlung auf die ihr genehmigte Aufzugsstrecke bestehe und eine ihr angebotene Alternativroute nicht wahrnehmen wolle. Ein Vorbeiführen der anlassgebenden Demonstration an der Gegenversammlung sei jedoch aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht gewollt gewesen. Er habe sich dagegen entschieden, weil er eine Situation habe vermeiden wollen, in der beide Gruppen – für den Fall einer Eskalation – nur schwer wieder hätten getrennt werden können. Die Frage seitens des Gerichts, ob für den konkreten Tag im Vorfeld Umstände bekannt geworden seien, die ein Zusammentreffen beider Gruppen unmöglich gemacht hätten (Drohungen oder ähnliches), hat der Zeuge verneint. Auf weitere Nachfrage hat der Zeuge geantwortet, dass die 16-17 Personen der anlassgebenden Versammlung an der Stelle (gemeint der Ort der Gegenversammlung) hätten vorbeigeführt werden können, nicht jedoch das von der anlassgebenden Versammlung mitgeführte Fahrzeug. Auf Vorhalt, dass augenscheinlich des Videos vom Geschehen auch ein VW Transporter der Polizei auf dem in Aufzugrichtung rechten Bürgersteig Platz fand, hat der Zeuge geantwortet, dass dieser nicht zu seiner Einheit gehört habe und er nicht wisse, ob dieser Pkw dort bereits im Vorfeld abgeparkt worden sei. Nachgemessen, ob ein Fahrzeug über den Bürgersteig geführt werden könne, habe er jedoch nicht.

Der Zeuge xxx, der an jedem Tag nach eigener Aussäge als Einsatzleiter die Verantwortung für den gesamten Polizeieinsatz getragen habe, hat ausgesagt, dass er laufend über die Lage vor Ort von seinen Einsatzabschnittsleitern auf der Straße berichtet bekommen habe, selbst jedoch in der Polizeiinspektion und damit nicht vor Ort gewesen sei. Die Möglichkeit eines Vorbeiführens der anlassgebenden Versammlung an der sitzenden Demonstration habe er zwar in Erwägung gezogen, nach mehreren Gesprächen mit dem Einsatzabschnittsleiter xxx sich jedoch dagegen entschieden, weil Letzterer aufgrund der räumlichen Gegebenheiten vor Ort ein Vorbeiführen für faktisch nicht möglich erachtet habe. Dieser Einschätzung habe er, der Zeuge xxx, vertraut und sich in der Folge gegen einen solchen Versuch entschieden. Dabei sei ihm bekannt gewesen, dass die anlassgebende Demonstration lediglich aus 16-17 Personen und einem mitgeführten Pkw bestanden habe.

Schließlich hat der Zeuge xxx, der am Tag der Versammlungen als Bereitschaftsführer ebenfalls vor Ort auf der Straße eingesetzt gewesen sei, auf die Frage des Gerichts, wieso ein Vorbeiführen der anlassgebenden Versammlung nicht zumindest versucht wurde, ausgesagt, dass dies „nicht gewollt” gewesen sei. Konkret danach befragt, wie er persönlich die Lage vor Ort eingeschätzt habe, hat der Zeuge geantwortet, dass er ein Vorbeiführen der anlassgebenden Demonstrierenden unter Zuhilfenahme einer Polizeikette zwecks Absicherung durchaus für möglich erachtet habe.

Die im Rahmen der Beweisaufnahme stattgehabte Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen vom Geschehen an jenem Tag hat schließlich ergeben, dass entgegen der Aussagen der Zeugen xxx und xxx augenscheinlich ein Vorbeiführen einer kleineren Personengruppe — wie der anlassgebenden Versammlung – sowie eines Pkw an der Gegenversammlung objektiv möglich gewesen sein dürfte, dies aber zumindest nicht offenkundig unmöglich erschien. So ist auf den Videoaufzeichnungen zu sehen, dass die Gegenversammlung sich zwar auf der Fahrbahnmitte niedergelassen hatte und dabei den selbst mitgeführten Lautsprecherwagen umschloss. Sowohl links, als auch rechts der Fahrbahnmitte ist jedoch sowohl ein Teil der Fahrbahn selbst, als auch der jeweils angrenzende Bürgersteig frei von Demonstrierenden. Auf dem in Aufzugrichtung rechts befindlichen Bürgersteig stehen zahlreiche Personen, die augenscheinlich Beobachter der Gegenversammlung zu sein scheinen. Darüber hinaus steht dort der bereits angesprochene Polizei-Bulli. Auf dem in Aufzugrichtung links befindlichen Bürgersteig stehen ausnahmslos Bereitschaftspolizisten.

Dass die Gegenversammlung die komplette Fahrbahnbreite und die angrenzenden Bürgersteige in voller Breite blockiert, ist nicht zu beobachten. Auf Nachfrage unter Vorhalt der Videoaufnahmen hat der Zeuge Busse darüber hinaus ausgesagt, dass die auf der Videoaufzeichnung ersichtliche Gruppengröße der Gegenversammlung auch den Gegebenheiten entsprach, die vorherrschten, als ich die Polizei zur Räumung entschloss.

IV.

Das Verhalten des Angeklagten erfüllt nicht den Tatbestand des § 20 Abs. 1 Nummer 2 NVersG. Nach dieser Vorschrift wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer in der Absicht, eine nicht verbotene Versammlung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten begeht oder androht oder eine erhebliche Störung der Ordnung der Versammlung verursacht. Ausweislich der Begründung der Gesetzesinitiative (Niedersächsischer Landtag – 16. Wahlperiode, Drucksache 16/2075, zu § 7) sind erhebliche Störungen solche, die objektiv geeignet sind, die Vereitelung der Versammlung zu erreichen. Das Störverhalten muss demnach den ordnungsgemäßen äußeren Ablauf der ursprünglichen Versammlung infrage stellen, die Beeinträchtigung des Störers nach Form und Inhalt seines Verhaltens so schwer sein, dass nur die Beseitigung der Störung als Alternative zur Unterbrechung oder Auflösung der Versammlung in Betracht kommt. Abzustellen ist demzufolge allein auf den objektiven Charakter der Störung und demnach die Frage, inwieweit diese so erheblich war, dass eine Fortführung der anlassgebenden Demonstration faktisch ausgeschlossen war.

Davon konnte sich das Gericht nach durchgeführter Beweisaufnahme nicht überzeugen, zumal mit Ausnahme des Anbietens einer Alternativroute durch die Polizei kein Versuch unternommen wurde; beide Versammlungen parallel stattfinden zu lassen. So wäre es nach Dafürhalten des Gerichts zum einen möglich gewesen, die auf dem in Aufzugrichtung links befindlichen Bürgersteig stehenden, zahlreichen Bereitschaftspolizisten kurzzeitig abzuziehen, und die anlassgebende Versammlung auf diesem Bürgersteig die Gegenversammlung passieren zu lassen. Darüber hinaus blieb für das Gericht zweifelhaft, wieso es aufgrund objektiver Gegebenheiten nicht möglich gewesen sein soll, den rechten Bürgersteig hierfür zu nutzen, zumal dort augenscheinlich nur (unbeteiligte) Beobachter der Gegenversammlung standen und auch ein – im Vergleich zum mitgeführten VW Passat der anlassgebenden Versammlung – breiterer VW Bulli dort Platz fand.

Aufgrund dessen sah sich das Gericht nicht in der Lage festzustellen, dass die Gegenversammlung um den Angeklagten faktisch ein Vorbeilaufen der lediglich aus 16-17 Personen sowie deren Pkw bestehenden anlassgebenden Versammlung unmöglich machte. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Entscheidung des Einsatzleiters und seiner Einsatzabschnittsleiter, beide, Gruppen frühzeitig räumlich dergestalt zu trennen, dass diese nicht einmal in Sichtweite voneinander gerieten, aus rein polizeitaktischen und gefahrabwehrrechtlichen Gründen nachvollziehbar und womöglich richtig erscheint. Entscheidend für die Frage der Strafbarkeit des Angeklagten ist jedoch allein, ob die durch sein Zutun verursachte Störung des ordnungsgemäßen Ablaufs der anlassgebenden Versammlung so erheblich war, dass die Grenze zur Strafbarkeit überschritten wurde. Daran scheitert es aus den dargelegten Gründen.

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 Strafprozessordnung.