Sozialgericht Hildesheim – Gerichtsbescheid vom 20.09.2021 – Az.: S 42 AY 55/21

GERICHTSBESCHEID

S 42 AY 55/21

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Klägerin –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Beklagter –

hat die 42. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 20. September 2021 gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Richter am Sozialgericht xxx für Recht erkannt:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2021 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 01. Dezember 2020 bis zum 31. Mai 2021 privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog unter Anrechnung der für diesen Zeitraum bereits bewilligten Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren.

Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

TATBESTAND

Die Klägerin wendet sich gegen die Kürzung der privilegierten Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe – analog für die Zeit vom 01. Dezember 2020 bis zum 31. Mai 2021.

Die 19xx geborene, alleinstehende Klägerin ist nach eigenen Angaben staatenlos und reiste am 28. Mai 2015 in das Bundesgebiet ein. Während des Asylverfahrens wurde mehrfach eine Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation bei armenischer Volkszugehörigkeit vermerkt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und die Anerkennung von Asyl ab, stellte keine Abschiebungsverbote fest und forderte die Klägerin zur Ausreise auf. Andernfalls werde sie in die Russische Föderation abgeschoben. Dagegen eingelegte Rechtsbehelfe blieben erfolglos.

Die Klägerin wurde zum 03. August 2015 der Samtgemeinde Hattorf am Harz zugewiesen und verfügte im streitigen Zeitraum weder über einsetzbares Einkommen noch verwertbares Vermögen. Der Beklagte forderte die Klägerin am 02. Juli 2019 in einem Gespräch auf, ihren ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten nachzukommen. Nach dem Vermerk des Sachbearbeiters xxx vom 15. Juli 2019 habe die Klägerin gegenüber der ukrainischen Botschaft um Ausstellung von Passpapieren gebeten, was 6 Monate dauern könne. Es sei ihr erklärt worden, dass eine Passbeschaffung erst dann unzumutbar sei, wenn alle infrage kommenden Botschaften (Russland, Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Iran) dies endgültig verweigerten. Am 13. August 2019 folgte eine weitere Aufforderung. Daraufhin erteilte er eine Duldung nach § 60b Absatz 2 und 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Der Beklagte bewilligte der Klägerin – wie bisher – mit Bescheid vom 04. Mai 2020 privilegierte Leistungen gemäß § 2 AsylbLG für die Zeit vom 01. Juni bis zum 30. November 2020 in Höhe von monatlich 842,67 Euro. Mit Bescheid vom 07. Oktober 2020 bewilligte er privilegierte Leistungen für die Zeit vom 01. Dezember 2020 bis zum 31. Mai 2021 in unveränderter Höhe.

Der Beklagte gewährte ihr nach vorheriger Anhörung mit Bescheid vom 20. November 2020 für die Zeit vom 01. Dezember 2020 bis zum 31. Mai 2021 gekürzte Leistungen gemäß „§ 1a AsylbLG“ in Höhe von monatlich 646,67 Euro und begründete dies damit, dass sie an der Beschaffung von Passpapieren nicht mitwirke, obgleich dies möglich und zumutbar sei. Sie sei seit dem 02. Juli 2019 wiederholt und hinreichend über ihre ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten belehrt worden. Die Leistungen würden auf 186,– Euro monatlich beschränkt, wobei auf den Bedarf für Ernährung 150,44 Euro, Körperpflege 26,58 Euro und Gesundheitspflege 8,98 Euro entfielen.

Dagegen legte die Klägerin am 03. Dezember 2020 Widerspruch ein, den sie damit begründete, weder über eine Geburtsurkunde noch über einen Pass zu verfügen. Sie warte auf eine Liste mit Vertrauensanwälten aus der Ukraine und sei auch mit der Russischen Botschaft in Kontakt getreten.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02. März 2021 zurück und führte zur Begründung an, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von der Klägerin zu vertretenden Gründen nicht vollstreckt werden könnten, weil diese die Beschaffung von Heimreisedokumenten vereitele.

Dagegen hat die Klägerin am 03. März 2021 Klage erhoben.

Sie trägt vor:

Eine Sanktion nach § 1a AsylbLG sei verfassungswidrig, wovon auch das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen ausgehe. Ferner habe sie keine Mitwirkungshandlungen zur Klärung der Identität verweigert.

Die Antragstellerin beantragt:

  1. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 20. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2021 verurteilt, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen im Zeitraum 01.12.2020-31.05.2021 in gesetzlicher bzw. verfassungsgemäßer Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor.

Die Beteiligten wurden von der Kammer über die Möglichkeit, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, angehört.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des Verfahrens S 42 AY 4029/20 ER, der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage hat Erfolg.

Der Rechtsstreit wird nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Absatz 1 SGG entschieden, denn der Sachverhalt ist geklärt und die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art auf.

Der Bescheid des Beklagten vom 20. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. März 2021 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten.

Der Beklagte stützt die angegriffenen Bescheide zu Unrecht auf § 9 Absatz 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X). Die Kammer folgt dem Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 24. Juni 2021 – L 8 AY 20/21 B ER -, nach dem keine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. Der Bescheid vom 07. Oktober 2020 hätte daher nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X zurückgenommen werden können. Eine Umdeutung scheitert jedoch an der Tatsache, dass der Beklagte kein Ermessen ausgeübt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung nicht der Zulassung, weil hier die Beschwer des Beklagten den Schwellenwert von 750,– Euro übersteigt.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.