Jobcenter Stadt Kassel unterliegt vor Sozialgericht in Eilverfahren – Familie mit behindertem Kind und schwer erkranktem Vater hat Anspruch auf Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft

In einem Eilverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Kassel (Az.: S 1 AS 98/21 ER) hat das Jobcenter Stadt Kassel eine Niederlage erlitten. Das Jobcenter wurde mit Beschluss vom 07.12.2021 verpflichtet, einer 6-köpfigen Familie vorläufig bis zum Ausgang des Klageverfahrens die Kosten der Unterkunft anhand ihrer tatsächlichen Kosten zu gewähren und nicht anhand der von dem Jobcenter als angemessen angesehenen Kosten. Das Jobcenter berücksichtigte bei der Berechnung monatlich 254,27 € weniger als seitens der Familie gezahlt werden musste.

Die Familie (48, 41, 17, 13, 11 und 5 Jahre alt) war zum 01.07.2021 umgezogen, weil die bisherige Wohnung im 4. OG über keinen Fahrstuhl verfügte und der 5-jährige Sohn auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Sowohl der Sohn mit Behinderung als auch der Vater sind pflegebedürftig im Pflegegrad 2. Die neue Wohnung ist mit einer Grundmiete inkl. Nebenkosten i. H. v. 1.265,00 € monatlich deutlich teurer, entspricht aber den behinderungsbedingten Bedürfnissen der Familie. Eine Kostenübernahme für den Umzug war durch das Jobcenter Stadt Kassel dennoch abgelehnt worden, weil die Wohnung nach dessen Kriterien nicht „angemessen“ sei. Auch ein Widerspruch gegen die gekürzte Übernahme wurde am 27.10.2021 als unbegründet zurückgewiesen. Die Familie musste monatlich 254,27 € aus der ohnehin knappen Regelleistung kompensieren.

Auf einen hiergegen gerichteten Eilantrag vom 29.10.2021 verpflichtete das SG Kassel nun das Jobcenter, die tatsächlichen Kosten der Unterkunft bei der Berechnung zu berücksichtigen. Es seien bereits aufgrund der gesetzlichen Regelungen zum vereinfachten Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie (§ 67 Abs. 3 SGB II) nach einem Umzug während der Pandemie die tatsächlichen Unterkunftskosten der Familie bei der Berechnung heranzuziehen.

Es gibt keine Erhebungen über das ersichtlich knappe behinderungsgerechte Angebot an Wohnraum im Stadtgebiet Kassel. Die Angemessenheitsgrenzen für die Stadt Kassel sind ohnehin schon zu niedrig, diese aber zwanglos in Pandemiezeiten sogar bei Menschen mit Behinderungen anzuwenden, ist nicht hinnehmbar“ ärgert sich der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam, der die Familie vertritt, über das bisherige Verhalten des Jobcenters gegenüber der Familie. „Dass das Sozialgericht das Jobcenter nun sogar mit einer Sonderregelung anlässlich der Covid-19-Pandemie in die Pflicht nehmen musste, hat grundsätzliche Bedeutung auch für alle anderen von Umzügen betroffenen Leistungsempfängerinnen und -empfänger, die sich nun auf die Entscheidung berufen können.“ so Adam weiter.

Wir freuen uns sehr über den positiven Beschluss des Sozialgerichts im Interesse der Familie, da wir wissen wie knapp der bezahlbare Wohnraum ist. Gerade Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung im Sozialleistungsbezug kommen mit den regulären Sätzen kaum bis gar nicht hin, wenn sie etwas Adäquates finden wollen bzw. wie hier finden müssen.“ kommentiert Elke Thimsen, die Geschäftsführerin des Vereins zur Förderung der Autonomie Behinderter (fab e.V.) aus Kassel, die Entscheidung des Gerichts. Der fab e.V. unterstützt die Familie in dem Verfahren.

Der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 07.12.2021 ist hier abrufbar: