Tacheles Rechtsprechungsticker KW 01/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urt. v. 30.06.2021 – B 4 AS 70/20 R

Sozialgerichtliches Verfahren – Unzulässigkeit der Berufung – wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr – Überprüfungsverfahren für mehrere Bewilligungszeiträume – Arbeitslosengeld II

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr iSv § 144 Abs 1 S 2 SGG sind in Angelegenheiten des SGB II nur gegeben, wenn der einzelne Bewilligungszeitraum mehr als ein Jahr umfasst.

2. Dies gilt auch im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X.

Quelle: www.rechtsprechung-im-internet.de

1.2 – BSG, Urt. v. 05.08.2021 – B 4 AS 26/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss wegen Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung – Maßregelvollzug im psychiatrischen Krankenhaus – Vollzugslockerung – dauerhafte Beurlaubung in die eigene Wohnung – Beendigung der Unterbringung

SGB II-Anspruch bei Beurlaubung im Maßregelvollzug

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Ein Antragsteller, der sich im Rahmen einer Dauerbeurlaubung aus dem Maßregelvollzug in einer eigenen Wohnung aufhält, unterfällt nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 4 Satz 2 SGB II.

2. Eine Einrichtung im Sinne von § 7 Abs 4 Satz 2 SGB II liegt nur vor, wenn die Unterkunft des Berechtigten der Rechts- und Organisationssphäre des Einrichtungsträgers so zugeordnet ist, dass sie als Teil des Einrichtungsganzen anzusehen ist, wobei die Bindung an ein Gebäude gegeben sein muss. Eine derart enge Bindung lag bei dem „Probewohnen“ des Klägers in einer von ihm angemieteten Wohnung, die räumlich keinem Träger zugeordnet werden konnte, nicht mehr vor.

Quelle: www.rechtsprechung-im-internet.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Nordrhein-Westfalen, 29.06.2021 – L 2 AS 2217/17 – Revision anhängig beim BSG – B 14 AS 63/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss wegen Unterbringung in stationärer Einrichtung bzw in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung – betäubungsmittelabhängiger Straftäter – viermonatige stationären Entwöhnungsbehandlung unmittelbar nach vorheriger Unterbringung in einer JVA – Gesamtunterbringungsdauer in beiden Einrichtungen über 6 Monate – keine Anwendbarkeit des § 7 Abs 4 S 3 Nr 1 SGB 2

Unter welchen Voraussetzungen ist ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Absatz 4 Satz 1 oder Satz 2 SGB II gegeben, wenn eine hilfebedürftige Person aus einer Strafhaft eine stationäre Drogentherapie nach § 35 BtMG 1981 beginnt?

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Kein Arbeitslosengeld II für eine hilfebedürftige Person während einer stationären Drogentherapie nach Strafhaft.

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Ein Ausschluss für Leistungen nach dem SGB II ist bei einer Haft gegeben. Der Systemwechsel würde deshalb bei einer Haft mit nachfolgender Drogentherapie nach § 35 BtMG immer eintreten, was dafürspricht, einen Leistungsausschluss jedenfalls dann anzunehmen, wenn Haft und Drogentherapie – wie hier – zusammen prognostisch mindestens sechs Monate dauern. Nur dadurch wird der Zweck der Regelungen, einen kurzzeitigen Wechsel zwischen den beiden Systemen zu vermeiden und klare Abgrenzungen zu erreichen, erfüllt.

2. Der anders lautenden Auffassung des LSG Niedersachsen, das einen diesbezüglichen Systemwechsel mit der Begründung verneint hat, der Kläger habe unmittelbar zuvor keine SGB XII-Leistungen bezogen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.02.2019, L 11 AS 474/17, NZB wurde aus formalen Gründen als unzulässig verworfen, BSG, Beschluss vom 22.05.2020 – B 4 AS 27/20 B) folgt der Senat deshalb nicht.

Quelle: www.justiz.nrw.de

2.2 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 29.09.2021 – L 5 AS 275/21 B

Rechtsanwaltsvergütung

Leitsatz
1. Vertritt ein Rechtsanwalt mehrere Streitgenossen, die nicht alle einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, besteht zwar ein Vergütungsanspruch in Höhe der vollen Gebühren gegen die Staatskasse. Die Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG bestimmt sich aber nur nach der Zahl der Streitgenossen, für die Prozesskostenhilfe bewilligt wurde.

2. Besteht gegen den Prozessgegner ein Anspruch auf teilweise Übernahme von außergerichtlichen Kosten, muss der Rechtsanwalt sich gemäß § 58 Abs. 2 RVG die erhaltenen Zahlungen anrechnen lassen. Dies gilt aber nur, soweit diese die von ihm vertretenen prozesskostenhilfebedürftigen Kläger betreffen.

3. Sowohl bei der Bestimmung des Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse als auch die Anrechnung erhaltener Zahlungen erfolgt keine kopfanteilige Berechnung (hier: Bewilligung von Prozesskostenhilfe für zwei von drei Klägern).

Rechtstipp Redakteur von Tacheles e. V.:
(vgl. die Darstellung der verschiedenen Auffassungen der Rechtsprechung durch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Januar 2018, L 39 SF 186/16 BE [12 f.]).

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

2.3 – LSG München, Urteil v. 13.02.2020 – L 7 AS 396/19

Titel:
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Kein Anspruch eines Heizöllieferanten gegen das Jobcenter auf Bezahlung der an einen Grundsicherungsempfänger gerichteten Rechnung

Leitsätze:
Ein Heizmittellieferant, der an einen Leistungsempfänger nach dem SGB II liefert, hat gegenüber dem Jobcenter keinen Auszahlungsanspruch auf für das Brennmaterial bewilligte Leistungen, sofern sich aus dem Bewilligungsbescheid kein direkter Auszahlungsanspruch für den Lieferanten ergibt. (Rn. 22)

§ 22 Abs. 7 SGB II begründet nur eine abweichende Empfangsberechtigung und keinen eigenen Rechtsanspruch des Zahlungsempfängers gegen das Jobcenter auf Begleichung an Leistungsempfänger gerichtete Rechnungen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Quelle: www.gesetze-bayern.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Der „betrogene“ Heizmittelhändler – Anmerkung zu BayLSG v. 13. Februar 2020 – L 7 AS 396/19 von Josef Berchtold, abgedruckt in ASR Heft 2 2021

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

3.1 – SG Duisburg, Urteil vom 30.11.2021 – S 49 AS 1815/19

Zum Bestehen eines Ersatzanspruches nach § 34 SGB II, hier aber verneinend

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Keine Ersatzpflicht des Leistungsberechtigten auch für das schuldhafte Handeln eines Dritten.

2. Überweist ein hilfebedürftiger Antragsteller den Auszahlungsbetrag aus der Riesterrente an seine Nichte, stellt dies kein sozialwidriges Verhalten dar.

Quelle: www.justiz.nrw.de

Amtlicher Leitsatz (beck-online):
§ 34 Absatz 1 SGB II begründet einen „deliktsähnlichen“ (BSG, Urt. v. 29.08.2019 – BSG Aktenzeichen B14AS4918R B 14 AS 49/18 R, juris, Rn. 25 m.w.N.; Grote-Seifert, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 34, Rn. 23), sekundären Ersatzanspruch des Grundsicherungsträgers zum Ausgleich in Geld gegenüber dem volljährigen Leistungsberechtigten für schuldhaft, sozialwidrig und grundlos herbeigeführte oder fortgesetzte Primärleistungen nach dem SGB II, die ihrerseits rechtmäßig durch die Behörde zunächst zu erbringen war. (Rn.28)

Redaktioneller Leitsatz (beck-online):
Um eine (unzulässige) Ausweitung des Anwendungsbereiches dieser Ausnahmevorschrift zu vermeiden, beschränkt sich die Ersatzpflicht des Leistungsberechtigten nach § 34 SGB II auf sog. sozialwidrige Verhaltensweisen. (Rn. 27)

3.2 – SG Bayreuth, Beschluss vom 03.12.2021 – S 13 AS 453/21 ER

Teilzeitstudium – Anspruch auf ALG 2 ?

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Auch Teilzeit-Studierende, die nicht nach dem BAföG förderungsfähig sind, können Arbeitslosengeld II beanspruchen (Anschluss an LSG Hessen, Beschluss v. 15.12.2020 – L 9 AS 535/20 B ER).

Quelle: RA Christopher Richter L.L.M Eur – veröffentlicht auf www.anwalt.de SG Bayreuth: Hartz IV auch für Teilzeitstudenten möglich!

Quellen: www.anwalt.de und www.anwaltskanzlei-wue.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – LSG Bayern, Urt. v. 20.07.2021 – L 10 AL 84/20

arbeitsgerichtlicher Vergleich, Bemessungsentgelt, Nachzahlung von Arbeitsentgelt, Verzinsungsbeginn, Zinsen

Verzinsung einer Nachzahlung von Arbeitslosengeld (Alg), hier bejahend

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Die Regelung, für welchen Zeitraum Alg geleistet wird, ist von der Frage, wann der höhere Anspruch fällig ist, zu trennen. Die Verzinsung beginnt immer erst, wenn die für den jeweiligen Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind, so dass ein solcher Anspruch nicht rückwirkend entstehen und damit fällig werden kann, denn anderenfalls bestünde eine vom Gesetz nicht gewollte Verzinsungspflicht auch für Zeiten, in denen die erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen noch nicht vorgelegen haben (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.06.2013 – L 8 SO 222/10).

2. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG liegt nicht vor, denn es handelt sich bei einem Vergleich einer späteren (teilweisen) Nachzahlung von Arbeitsentgelt zu dem Fall, dass das Arbeitsentgelt bereits vollständig gezahlt gewesen ist, um unterschiedliche Sachverhalte. Zudem liegt mit der Regelung in § 131 Abs. 1 SGB III a.F. bzw. § 151 Abs. 1 SGB III n.F. und der darin normierten Verwaltungsvereinfachung, die gerade auch im Interesse der Arbeitslosen einer schnellen Berechnung und Auszahlung des Alg dient, eine Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung der Sachverhalte vor.

3. Die Annahme eines späteren Verzinsungsbeginns kommt nicht in Betracht, denn der vollständige Leistungsantrag als solcher lag bereits vor. Die Beklagte hat auch aufgrund dieses Antrages Alg bewilligt. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass zu den gesetzlichen Voraussetzungen das Vorliegen einer Arbeitsbescheinigung, die vom Arbeitgeber zu erstellen ist, nicht gehört (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18.11.2008 – L 12 AL 185/05 – juris). Damit kommt es auch nicht darauf an, dass vom Arbeitgeber erst später eine berichtigte Arbeitsbescheinigung unter Berücksichtigung der Lohnnachzahlung erstellt worden ist. Für das Entstehen des Anspruchs auf Alg selbst kommt es weder auf die Kenntnis des Berechtigten noch auf die des Leistungsträgers an (Krott in jurisPK-SGB I, 3. Auflage, § 40 Rn. 15).

4. Da ein vollständiger Leistungsantrag bereits vorlag, war nach § 44 Abs. 1 SGB I die Verzinsung nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt der Fälligkeit des höheren Anspruchs auf Alg mit 4 v.H. zu verzinsen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Leitsätze:
Wird einem Arbeitnehmer Arbeitsentgelt aufgrund eines arbeitsgerichtlichen Vergleichs nachgezahlt, ändern sich die Verhältnisse im Hinblick auf die Höhe des zu berücksichtigenden Arbeitsentgelts im Rahmen des Bemessungsentgelts zu dessen Gunsten, so dass das Arbeitslosengeld gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X neu zu bemessen ist.

2. Der weitergehende Zahlungsanspruch für das über den zuvor gezahlten Betrag hinausgehende Arbeitslosengeld wird mit dem Zufluss der Nachzahlung aus dem Vergleich beim Arbeitnehmer fällig, so dass ein Anspruch auf Verzinsung nach § 44 Abs. 1 SGB I nach Ablauf eines Kalendermonats besteht, sofern sechs Kalendermonate seit dem Eingang des ursprünglichen Antrags auf Arbeitslosengeld bereits verstrichen sind (§ 44 Abs. 2 SGB I). Auch wenn in der ursprünglichen Arbeitsbescheinigung nur das geringere Arbeitsentgelt bescheinigt war, lag deshalb kein unvollständiger Antrag auf Arbeitslosengeld vor.

Quelle: www.gesetze-bayern.de

4.2 – SG Nürnberg, Urt. v. 10.12.2021 – S 22 AL 411/20

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach Entlassungsentschädigung, hier rechtswidrig.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbL

5.1 – SG Potsdam, Beschl. v. 01.03.2021 – S 20 AY 5/21 ER

Orientierungshilfe RA Volker Gerloff
1a Bescheide müssen Prognose für Erfolg der Sanktion enthalten.

Quelle: twitter.com

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen

6.1 – Berliner Hartz-IV-Empfänger können ab Januar besser wohnen!

Die B.Z. nennt die wichtigsten Veränderungen im neuen Jahr.

Für Paare: Sie dürfen nach B.Z.-Informationen auch größer wohnen: Angemessen sind rechnerisch 65 statt bisher 60 Quadratmeter und damit eine monatliche Bruttokaltmiete von bis zu 515,45 Euro. Bislang sind es maximal 500,40 Euro.

weiter zur Quelle: www.bz-berlin.de

6.2 – Häufig mehr Geld für die Miete in Schleswig-Holstein, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

Quelle: sozialberatung-kiel.de

Wir wünschen allen Lesern und Menschen auf diesem Planeten ein Frohes und Gesundes Neues Jahr!

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker