Tacheles Rechtsprechungsticker KW 02/2022

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 11.11.2021 – L 14 AS 530/21 B PKH

Sozialgerichtliches Verfahren – Prozesskostenhilfe – Erledigung der Hauptsache – Bewilligungsreife – Rechtsschutzgleichheit

Leitsatz
1. Würde Prozesskostenhilfe im Fall der Erledigung der Hauptsache trotz Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags und trotz im Zeitpunkt der Bewilligungsreife hinreichender Erfolgsaussicht nicht gewährt, stünden Unbemittelte stets vor dem Risiko, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren Erledigung Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen (Anschluss an BVerfG vom 16.4.2019 – 1 BvR 2111/17 = NVwZ-RR 2020, 137). (Rn.10)

2. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist die Bewilligungsreife für einen Antrag auf Prozesskostenhilfe daher nicht regelmäßig von einer Stellungnahme der Gegenseite (bzw der Gelegenheit hierzu) abhängig. (Rn.11)

Quelle: gesetze.berlin.de

Hinweis:
Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags trotz fehlender Stellungnahme der Gegenseite, von Dr. Hans-Jochem Mayer, veröffentlicht am 18.12.2021

Dass auch ein Prozesskostenhilfeantrag Bewilligungsreif sein kann, ohne dass eine Stellungnahme der Gegenseite vorliegt, hat das LSG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 11.11.2021 – L 14 AS 530/21 B PKH – zutreffend herausgearbeitet. Das Gericht wies darauf hin, dass die Vorschriften der ZPO über die PKH im sozialgerichtlichen Verfahren nur entsprechend gelten. Die Auffassung, vor einer schlüssigen Begründung des PKH-Antrags sowie einer Stellungnahme der Gegenseite oder zumindest der Gelegenheit hierzu könne das Gericht die Erfolgsaussichten nicht prüfen, möge zwar für das Zivilprozessrecht zu treffen, weil den Zivilgerichten typischerweise außer den Schriftsätzen der Parteien keine weiteren Informationsquellen zu Beurteilung der Erfolgsaussicht zur Verfügung stehe, den zur Beurteilung der Erfolgsaussichten relevanten Sachverhalt könnten die Sozialgerichte jedoch der Verwaltungsakte entnehmen, ohne auf eine Stellungnahme des beklagten Sozialleistungsträgers angewiesen zu sein.

Quelle: community.beck.de

1.2 – LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 05.02.2021 – L 7 AS 3542/20 ER-B

Das Jobcenter wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet höhere Kosten der Unterkunft zu gewähren, denn angemessen für einen Neun – Personen-Haushalt mit 7 Kindern kann eine Wohnfläche bis 165 qm oder neun Zimmer sein.

Orientierungshilfe (Redakteur von Tacheles e. V.
1. Nach Teil 3 Nr. 1.2 über die Wohnflächengrenzen bei der Förderung von Mietwohnraum erfordert eine familiengerechte Unterbringung aber auch eine ausreichende Anzahl an Kinderzimmern. Für einen Haushalt mit drei Kindern müssen mindestens zwei Kinderzimmer vorgesehen sein. Kinderzimmer für ein Kind müssen mindestens 10 qm, Kinderzimmer für zwei Kinder mindestens 15 qm groß sein. Bezüglich der Wohnfläche zur Förderung bei Eigentumsmaßnahme ist nach Teil 3 Nr. 1.1 zudem geregelt, dass hinsichtlich der Belegung der Kinderzimmer zu beachten ist, dass der Altersunterschied von Kindern einer dauerhaften gemeinsamen Unterbringung in einem Kinderzimmer entgegenstehen kann und gleiches für eine dauerhafte gemischt geschlechtliche Unterbringung von Kindern in einem gemeinsamen Kinderzimmer gilt.

2. Insgesamt dürfte den Antragstellern unter Berücksichtigung des jeweiligen Geschlechts und der Altersunterschiede der Antragsteller damit Wohnraum mit mindestens sechs oder gar sieben Zimmern zuzugestehen sein.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – LSG NRW, Urt. v. 18.11.2021 – L 7 AS 1200/21

Zur Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung bei Verwandten- Scheinvertrag

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Das Jobcenter muss keine KdU an den Kläger zahlen, wenn kein ernsthaftes Mietverhältnis mit der Mutter vorlag, hier zum Scheinvertrag.

Quelle: www.justiz.nrw.de

1.4 – LSG NRW, Beschluss v. 15.11.2021 – L 7 AS 350/21 B

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss bei Ortsabwesenheit ohne Zustimmung – Verlängerung des Drei-Wochen-Zeitraums um höchstens drei Tage setzt zuvor genehmigte Ortsabwesenheit voraus

Aufhebung des ALG II wegen einer nicht genehmigten Ortsabwesenheit, hier bejahend

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Im vorliegenden Fall kann auch dahinstehen, ob Ausnahmefälle denkbar sind, in denen eine Ortsabwesenheit eines Hilfebedürftigen ohne vorherige Kontaktaufnahme mit der Behörde gerechtfertigt sein kann und in denen der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4a SGB II deshalb nicht greift (vgl. auch hierzu LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 06. 04.2011 – L 19 AS 2044/10 NZB). Ein solcher Ausnahmefall ist nicht ersichtlich oder vom Kläger vorgetragen.

2. Die Regelung des § 3 Abs. 3 EAO, die eine Verlängerung des Drei-Wochen-Zeitraums um höchstens drei Tage vorsieht, kommt hier nicht in Betracht, weil sie an eine – hier nicht vorliegende – zuvor genehmigte Ortsabwesenheit anknüpft.

Quelle: www.justiz.nrw.de

1.5 – LSG Hessen, Urt. v. 01.12.2021 – L 6 AS 359/19 – Revision zugelassen – da soweit ersichtlich keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, die das Verhältnis von SGB V zum SGB II klärt, wenn medizinisch notwendige Leistungen nach dem SGB V der Eigenverantwortung der Versicherten zugeordnet werden, diese aber wirtschaftlich zur Tragung der daraus folgenden Kosten nicht in der Lage sind.

SGB II: Jobcenter muss monatliche Gebühren für ein Kontaktlinsen-Abo als Härtefallmehrbedarf übernehmen.

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Der Bedarf der Klägerin bezüglich der Versorgung mit Kontaktlinsen stellt einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II (a.F.) dar.

2. Die Versorgung der Klägerin mit Kontaktlinsen war medizinisch indiziert (D. h., es muss eine Indikation vorgelegen haben, die anhand medizinischer Unterlagen nachvollziehbar festgestellt werden kann (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 09.03.2017 – L 7 AS 167/17 B ER -; LSG Hamburg, Urteil vom 19.03.2015 – L 4 AS 390/10 -; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.01.2019 – L 15 AS 262/16)

3. Es handelt sich aufgrund der medizinischen Indikation um einen unabweisbaren Bedarf, da aufgrund der Beschaffung der Kontaktlinsen vor der Gesetzesänderung kein Anspruch auf (anteilige) Kostenübernahme gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse bestand.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Leitsatz
1. Es besteht kein Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II a.F., wenn die Kosten durch die Versorgung mit Kontaktlinsen vor Beginn des maßgeblichen Bewilligungszeitraums gedeckt worden sind. Das gilt auch, wenn die Versorgung nicht durch eine Einmalzahlung, sondern durchlaufende Ratenzahlungen im Bewilligungszeitraum erfolgte.

2. Ist die Versorgung mit Kontaktlinsen medizinisch notwendig, und ist diese Leistung weder nach § 33 Abs. 2 SGB V noch nach § 2 Abs. 1 a SGB V vom Leistungskatalog umfasst, sind die Kosten nach § 21 Abs. 6 SGB II a.F. zu übernehmen. Die Leistungsberechtigten können nicht auf einen Anspruch auf verfassungskonforme Versorgung nach dem SGB V verwiesen werden. Eine solche Verweisung setzt einen entsprechenden Hinweis, Aufklärung oder Beratung des Jobcenters voraus.

3. Ist die Versorgung mit Kontaktlinsen medizinisch notwendig und ist diese Leistung nach § 33 Abs. 2 SGB V vom Leistungskatalog umfasst, sind die Kosten nach § 21 Abs. 6 SGB II a.F. zu übernehmen, soweit die Kosten über eine Festbetragsversorgung hinausgehen. Die Leistungsberechtigten können nicht darauf verwiesen werden, dass einen Anspruch über die Festbeträge hinaus nach dem SGB V bestehe. Eine solche Verweisung setzt einen entsprechenden Hinweis, Aufklärung oder Beratung des Jobcenters voraus.

Quelle: www.rv.hessenrecht.hessen.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – SG Kassel, Urt. v. 24.06.20219 – S 8 AS 585/17 bestätigt durch LSG Hessen, Urt. v. 01.12.2021 – L 6 AS 359/19 – Revision zugelassen

Hartz IV: Jobcenter muss Sehhilfe gewähren, wenn für den Antragsteller die monatl. Belastungsgrenze überschritten wird.

Übernahme der Kosten für ein Kontaktlinsen-Abo als Härtefallmehrbedarf

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Das Jobcenter muss die hierfür monatlich angefallenen Kosten i. H. v. 66,00 bzw. 68,00 € als Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II übernehmen, denn im vorliegenden Fall war die Belastungsgrenze überschritten.

2. Der Bedarf ist unabweisbar im Sinne von § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II (a.F.), da keine vorrangige Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 17.05.2021 – L 3 AL 3/19 – Revision zugelassen

Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs – Urlaubsabgeltung – Grenzgänger – Nichtauszahlung dänischen Feriengeldes nach Beendigung der Beschäftigung in Dänemark – Verbleib auf dem Urlaubskonto – Erhalt des Urlaubsanspruches bei erwarteter erneuter Arbeitsaufnahme in Dänemark

Arbeitslosenversicherung: Anspruch auf Arbeitslosengeld; Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs bei bestehendem Anspruch auf Gewährung einer Urlaubsabgeltung nach dänischem Recht

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Anspruch auf ALG 1, denn kein Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld wegen Anspruchs auf Auszahlung von in Dänemark angespartem Urlaubsgeld.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 14.07.2021 – L 2 SO 2114/19

Zum Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft in der Sozialhilfe, hier verneinend

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Hier besteht keine eheähnliche Gemeinschaft, denn beide haben übereinstimmend erklärt, den Großteil ihrer Freizeit getrennt voneinander zu verbringen, so schlafen beide in getrennten Zimmern, auch verfügen beide über ein eigenes Fernsehgerät und halten sich in der Regel nicht gemeinsam im Wohnzimmer auf.

2. Auch der gemeinsame Einkauf bestimmter Artikel des täglichen Lebens (Nahrungsmittel, Reinigungs- und Sanitärartikel) genügt allein nicht, weil eine derartige Deckung von Grundbedürfnissen auch in reinen Wohngemeinschaften durchaus üblich ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – Sozialgericht Kassel – Beschluss vom 04.01.2022 – Az.: S 11 AY 21/21 ER

Normen: § 1a Abs. 3 AsylbLG, § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG – Schlagworte: Leistungskürzung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG, verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich § 1a AsylbLG, Nigeria, Sozialgericht Kassel

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Dabei stützt sich die erkennende Kammer im Hinblick auf die vorläufige Verpflichtung der Leistungsbehörde zur Gewährung ungekürzter Leistungen auf die Ausführungen der erkennenden Kammer in den hierzu bereits ergangenen Entscheidungen vom 5.5.2021 (S 11 AY 7/21 ER), vom 25.8.2021 (S 11 AY 15/21 ER) und vom 27.8. 2021 (S 11 AY 17/21 ER) sowie die Ausführungen des Hessischen Landessozialgerichts zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung von § 1a AsylbLG gerade in Fällen wie dem vorliegenden, bei dem die Nichtdurchführbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen in der fehlenden Mitwirkung der Leistungsbezieherin/des Leistungsbezieher gesehen wird. Zu nennen sind hier die Entscheidungen des Hessischen Landessozialgerichts vom 26.2.2020 im Verfahren L 4 AY 14/19 B ER und vom 26.7.2021 im Verfahren L 4 AY 19/21 B ER.

Quelle: RA Sven Adam

6.  Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen

6.1 – „Tabellarische Übersicht: Die Möglichkeiten eines unbefristeten Aufenthalts im Aufenthaltsgesetz (Niederlassungserlaubnis und Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU)“

weiter hier: ggua.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker