Sozialgericht Marburg – Beschluss vom 01.02.2022 – Az.: S 9 AY 4/21 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Antragsteller,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Regierungspräsidium Gießen Erstaufnahmeeinrichtung, Abteilung VII
Lilienthalstraße 2, 35394 Gießen

Antragsgegner,

hat die 9. Kammer des Sozialgerichts Marburg am 1. Februar 2022 durch die Vorsitzende, Richterin xxx, beschlossen:

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.

GRÜNDE

Der Antrag des Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners vom 13. April 2021 (Bl. 42 der Gerichtsakte), den Antragsgegner im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 193 Absatz 1 Satz 3 SGG zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen zu verpflichten, hat Erfolg.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gemäß § 193 Absatz 1 Satz 3 SGG entscheidet das Gericht auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren auf andere Weise beendet worden ist. Gemäß Schriftsatz vom 12. April 2021 ein Anerkenntnis für Leistungen ab dem 16. März 2021 abgegeben. Der Prozessbevollmächtigte hat das Anerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit für erledigt erklärt.

Die Kostenentscheidung erfasst nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung dabei alle durch den Rechtsstreit und das Vorverfahren entstehenden erstattungsfähigen Kosten (B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage 2020, § 193 Rn. 2 m.w.N.).

Gemäß § 193 Absatz 1 SGG entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens. Maßgeblich sind demnach insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage. Es ist in der Regel billig, dass derjenige die Kosten trägt, der unterlegen wäre (Bundessozialgericht [BSG], BSGE 17, 124 [128]; BSG, Beschluss vom 13. Dezember 2016, B 4 AS 14/15 R, juris). Bei teilweisem Erfolg kommt eine Quotelung in Betracht. Das Gericht hat dabei die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und alle wertungsrelevanten Gesichtspunkte einzustellen.

Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen ist der Antragsgegner zu verpflichten, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.

Der Antrag hatte bei Erledigung Aussicht auf Erfolg.

Es handelt sich bei dem Bescheid des Antragsgegners vom Bescheid vom 8. Juli 2020 in der Form des Änderungsbescheides vom 3. Februar 2021 um einen Dauerverwaltungsakt. Der Antragsgegner hat vorliegend Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG für einen unbestimmten Zeitraum bewilligt. Diesen hebt der Bescheid des Antragsgegners vom 5. März 2021 zumindest teilweise für die Zukunft auf.

Gemäß § 48 Absatz 1 Satz 1 SGB X in entsprechender Anwendung ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit sich in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Nach § 1 a Absatz 7 Satz 1 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 1 oder 5, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 31 Absatz 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt wurde und für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des Asylgesetzes angeordnet wurde, nur Leistungen entsprechend Absatz 1, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist.

Die Norm des § 1 a Absatz 7 AsylbLG begegnet jedoch erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Wegen der grundrechtlichen Gewichtung der Leistungen, die die Menschenwürde des Leistungsempfängers sichern sollen, musste daher vorliegend das Vollzugsinteresse hinter dem Aussetzungsinteresse zurückstehen.

Die umstrittene Frage, ob die Norm verfassungsgemäß auszulegen ist, mit der Folge, dass Leistungen entgegen des Wortlauts nach § 3 Absatz 1 AsylbLG zu gewähren sind (so das Landessozialgericht Hessen für § 1a Absatz 1 Satz 3 AsylbLG, Beschluss vom 26. Februar 2020 – L 4 AY 14/19 B ER – juris Rn. 49 ff.; s.a. LSG Hessen, Beschluss vom 31. März 2020 – L 4 AY 4/20 B ER für § 1a Absatz1 und Absatz 2 AsylbLG, BeckRS 2020, 6698 Rn. 34 ff.) kann vorliegend dahinstehen, da die Norm des § 1a Absatz 7 AsylbLG vorliegend unangewendet bleiben kann.

Die Kammer ist nicht daran gehindert die Norm des § 1a Absatz 7 AsylbLG unangewendet zu lassen. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der Gesetzesbindung der Fachgerichte (Art. 20 Absatz 3 GG) sowie dem Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (Art. 100 Absatz 1 Satz 1 GG). Zwar können die Fachgerichte den Rechtskreis des Rechtsschutzsuchenden nicht ohne gesetzliche Grundlage erweitern. Ihnen ist es daher verwehrt, unter Berufung auf ein vermeintliches verfassungswidriges defizitäres Handeln des Gesetzgebers, einen Anspruch zuzusprechen. Andererseits kann das Fachgericht den Rechtsschutzsuchenden vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt (oder Übergriffen privater Dritter) schützen, soweit dies aufgrund Art. 19 Absatz 4 Satz 1 GG bzw. Art. 2 Absatz 1 i.V.m. Art. 20 Absatz 3 GG geboten ist und keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden.

Die Fachgerichte können ergo dann einstweiligen Rechtsschutz gewähren, wenn sie ernstliche Zweifel haben, ob eine Norm des einfachen Rechts, die von der Behörde als Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen genutzt wird, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dies war vorliegend der Fall.