Tacheles Rechtsprechungsticker KW 09/2022

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

1.1 – LSG NRW, Beschluss v. 11.02.2022 – L 21 AS 66/22 B ER

Gewährung von Leistungen nach dem SGB II als Zuschuss – vereinfachtes Verfahren für den Zugang aus Anlass der COVID-19-Pandemie – Hausgrundstück Vermögen – § 67 SGB II – Weiterbewilligungsanträge

LSG NRW: Keine Angemessenheitsprüfung der Wohnkosten bei Corona bei selbstbewohntem Wohneigentum

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Selbstbewohnte Immobilie – unabhängig von dessen Angemessenheit – muss von Hartz IV – Empfängern während der Pandemie nicht verwertet werden, denn es gilt nicht als erhebliches Vermögen.

2. Die Bestimmung des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II, wonach die tatsächlichen Aufwendungen für einen Zeitraum von sechs Monaten als angemessen gelten, erfasst nicht nur Neubewilligungen, sondern auch Weiterbewilligungen.

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Weder aus dem Wortlaut noch aus dem Willen des Gesetzgebers lassen sich auch Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die in § 67 Abs. 2 Satz 1 SGB II angeordnete Nichtberücksichtigung von Vermögen für sechs Monate nur einmalig gilt und durch eine Bewilligung „verbraucht“ ist. Vielmehr gilt, wenn nach Ablauf der Sechsmonatsfrist ein Antrag auf Weiterbewilligung gestellt wird und der Beginn des neuen Bewilligungszeitraums wiederum in den Anwendungsbereich des § 67 Abs. 1 SGB II fällt, erneut der vereinfachte Zugang mit den erleichterten Bedingungen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.09.2020 – L 11 AS 508/20 B ER).

2. Weil unter den Voraussetzungen des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGB II Vermögen gar nicht zur berücksichtigen ist, ist für die Dauer des Sechsmonatszeitraums auch eine bloß darlehensweise Leistungsgewährung (§ 9 Abs. 4, § 24 Abs. 5 SGB II) ausgeschlossen; insoweit können dem Leistungsberechtigten auch keine Verwertungsbemühungen abverlangt werden.

3. Die Ausnahme, dass eine Nichtberücksichtigung von Vermögen dann nicht erfolgt, wenn das Vermögen erheblich ist, greift hier nicht. „Erheblich“ im Sinne der Vorschrift ist nur Vermögen, das kurzfristig verwertbar ist, also insbesondere Barmittel oder sonstige liquide Mittel. Von der Erheblichkeitsprüfung ausgenommen sind Vermögensgegenstände, die nicht frei verfügbar und damit nicht geeignet sind, kurzfristig zur Bestreitung des Lebensunterhalts eingesetzt werden zu können. Dazu gehört auch selbstgenutztes Wohneigentum – unabhängig von dessen Angemessenheit.

Quelle: www.justiz.nrw.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Gleiches gilt für Bewohner einer Mietwohnung: Diese Vorschrift wird in der Kommentarliteratur sogar bei sehr hohen Unterkunftskosten bzw. „Luxusmieten“ für anwendbar gehalten (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 28. Juli 2021 – L 16 AS 311/21 B ER –, mit Verweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.09.2020, L 11 AS 508/20 B ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 21.04.2021, L 16 AS 129/21 B ER; Burkiczak: „Hartz IV“ in Zeiten von Corona, NJW 2020, 1180, 1181)

1.2 – LSG Hessen, Urteil vom 15. September 2021 (L 6 AS 316/17):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II lässt sich auf eine mit gewöhnlichem Aufenthalt im Bundesgebiet lebende, bedürftige österreichische Staatsangehörige nicht anwenden.

Dies Antragstellerin kann sich hier auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 2 Abs. 1 des Deutsch-Österreichischen Fürsorgeabkommens vom 17.01.1966 berufen. Beim Arbeitslosengeld II nach den §§ 19 ff. SGB II handelt es sich um Leistungen der öffentlichen Fürsorge, deren Gewährung Angehörige des Staates der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der jeweils anderen Vertragspartei aufhalten, in gleicher Weise, in gleichem Umfang und unter den gleichen Bedingungen beanspruchen können wie Angehörige des Aufenthaltsstaates.

Dies gilt gerade auch dann, wenn eine Einreise in das Bundesgebiet nicht erfolgte, um hier eine solche öffentliche Unterstützung zu erhalten, sondern hierfür höchstpersönliche Motive wie auch die Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz in Deutschland von maßgebender Bedeutung waren. In einem solchermaßen gelagerten Fall hatte die Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen keine prägende Kraft.

1.3 – LSG Hessen, Beschluss v. 04.02.2022 – L 6 AS 551/21 B ER

Zur Frage, ob ein Jobcenter Kontoauszüge der letzten drei Monate des Partners nach § 60 Abs. 4 Nr. 1 SGB II von diesem verlangen kann, ist, höchstrichterlich noch nicht entschieden.

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind Leistungsempfänger nach dem SGB II auch ohne konkreten Verdacht des Leistungsmissbrauchs im Rahmen der auch im Bereich des SGB II ergänzend geltenden Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff. SGB I verpflichtet, bei jeder Leistungsbeantragung ihre Kontoauszüge der letzten drei Monate vorzulegen (BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 10/08 R).

2. Ob eine solche Vorlagepflicht ausnahmsweise auch den Partner im Sinne des § 60 Abs. 4 SGB II treffen kann, ist offen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – LSG Hamburg, Urteil v. 09.09.2021 – L 4 AS 279/20 – anhängig BSG – B 7/14 AS 87/21 R

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – selbst genutzte Eigentumswohnung – Darlehensfinanzierung – spätere Aufnahme eines zusätzlichen Privatdarlehens – Nichtberücksichtigung der Zinsrate für das Privatdarlehen als Unterkunftskosten

Orientierungssatz
Zinsraten für ein – neben dem Finanzierungsdarlehen für eine selbst genutzte Eigentumswohnung – zu einem späteren Zeitpunkt zusätzlich aufgenommenes Privatdarlehen können nicht als Unterkunftsbedarf im Sinne des § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 berücksichtigt werden, wenn das Privatdarlehen weder dem Erwerb noch dem Erhalt der Unterkunft, sondern der Finanzierung der Tilgungsraten des ursprünglichen Immobiliendarlehens dient. (Rn.37) (Rn.46)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Es ist bisher nicht geklärt, ob Finanzierungskosten für Aufwendungen zur Tilgung eines Immobiliendarlehens als Bedarf für Unterkunft anzuerkennen sind, wenn sie nicht zur Vermögensbildung führen und die Aufwendungen insgesamt angemessen sind.

1.5 – LSG Hamburg, Urt. v. 30.09.2021 – L 4 AS 249/18

Anforderungen an den Nachweis der Hilfebedürftigkeit zur Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung – Zuwendungen Dritter als anzurechnende Einkünfte

Orientierungssatz
1. Der Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach § 7 SGB 2 setzt u. a. Hilfebedürftigkeit des Antragstellers nach § 9 SGB 2 voraus. (Rn.20)

2. Unterstützungsleistungen Dritter sind als Einkünfte nach § 11 SGB 2 anzurechnen. Der Zuwachs muss dem Leistungsberechtigten zur endgültigen Verwendung verbleiben. (Rn.22)

3. Ist der Empfänger einer ernstlichen Rückzahlungsverpflichtung nicht ausgesetzt, so gelten die Zuwendungen Dritter als anzurechnende Einkünfte. (Rn.23)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

1.6 – LSG Hamburg, Urt. v. 10.09.2021 – L 4 AS 156/20

Bewilligung von Leistungen für die Unterkunft für einen in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten lebenden Hilfebedürftigen durch den Grundsicherungsträger

Orientierungssatz
1. Leben Hilfebedürftige mit Verwandten oder Verschwägerten in Haushaltsgemeinschaft, so wird nach § 9 Abs. 5 SGB 2 vermutet, dass sie von diesen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. (Rn.20)

2. Die Vermutung ist widerlegt, wenn eine ernsthafte Verpflichtung zur Zahlung von Miete festgestellt werden kann. (Rn.21)

3. Liegt danach keine dauerhafte Stundung des Mietzinses vor, so sind dem Hilfebedürftigen die angemessenen Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB 2 zu bewilligen. Ein gewährter Zahlungsaufschub ist rechtlich unbeachtlich. (Rn.27)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – SG Nordhausen, Urt. v. 30.11.2021 – S 13 AS 1056/20

Orientierungssatz
Schriftstücke, die ein Verfahrensbeteiligter in einen Rechtsstreit einführt, sind vom Gericht auch unter Berücksichtigung des Datenschutzrechts an die Gegenseite weiterzuleiten, sofern nicht offensichtlich kein Bezug zum Gerichtsverfahren gegeben ist.

Quelle: landesrecht.thueringen.de

2.2 – Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 9. Februar 2022 (S 203 AS 466/22.ER):

Ein Umzug ist erforderlich im Sinne des § 22 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 2 SGB II, wenn das Verlassen der bisherigen Wohnung als notwendig aufzufassen ist und die für die neue Mietsache entstehenden Aufwendungen angemessen hoch sind.

Eine Umzugsnotwendigkeit besteht dann, wenn bei einer allein erziehenden Mutter eines Kindes die räumliche Nähe zum im gleichen Haus lebenden Kindsvater zu häufigen Konflikten, die sich gerade auch nachteilig für und belastend auf das gemeinsame Kind auswirken können, führt, was auch vom Jugendamt bestätigt wird.

2.3 – SG Berlin, Urt. vom 15.02.2022 – S 136 AS 2303/18

Mal wieder: die angemessene Miete in Berlin, ein Beitrag von RA Kay Füßlein, Berlin

Orientierungshilfe
1. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 03.09.2020 kristallisiert sich heraus, dass die angemessene Miete nach § 22 SGB II in Berlin sich nach dem Wohngeldgesetz richtet (siehe auch hier: Zusicherung zum Umzug – Mietobergrenzen in Berlin)

2. In dem vorliegenden Fall hat das Gericht insbesondere auch davon abgesehen, ein Gutachten über die Frage der angemessenen Mieten einzuholen, da derartige Werte nicht bzw. kaum im Nachhinein zu ermitteln sind.

3. Auch bei einer bestehenden Kostensenkung kann ein aktueller Bescheid mit einem Widerspruch bzw. rückwirkend mit einem Antrag nach § 44 SGB X angegriffen werden.

Quelle: www.ra-fuesslein.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 08.07.2021 – L 3 AL 57/20 – Revision anhängig BSG B 11 AL 40/21 R

Rückwirkung der persönlichen Arbeitslosmeldung auf den Tag der fehlenden Dienstbereitschaft in einem Fall, in dem während der bereits bestehenden Beschäftigungslosigkeit die persönliche Arbeitslosmeldung erfolgt ist

Zur Auslegung von § 141 Abs. 3 SGB III

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Die Arbeitslosmeldung hat nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift persönlich durch den Arbeitslosen zu erfolgen. Allein für leistungsgeminderte Personen genügt die persönliche Arbeitslosmeldung durch einen Vertreter.

Leitsatz www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Der Gesetzeswortlaut von § 141 Abs. 3 SGB III stellt für die Rückwirkung einer Arbeitslosmeldung auf den ersten Tag “der Beschäftigungslosigkeit” ab.

2. Die beiden gesetzlich definierten Begriffe “Beschäftigungslosigkeit” und “Arbeitslosigkeit” können vom Wortlaut und von der Gesetzessystematik her im Rahmen von § 141 Abs. 3 SGB III nicht gleichgesetzt werden.

3. Die Voraussetzungen für eine erweiternde Auslegung von § 141 Abs. 3 SGB III auf den ersten Tag “der Arbeitslosigkeit” sind nicht gegeben.

4. Für eine analoge Anwendung von § 141 Abs. 3 SGB III auf den ersten Tag nach dem Ende der Arbeitsunfähigkeit oder des Krankengeldbezuges fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke.

5. § 141 Abs. 3 SGB III ist mit Artikel 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG NRW, Urt. v. 24.11.2021 – L 12 SO 330/20

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
Zum Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Hochschulhilfen in Form der Mobilisierung im Rahmen der Eingliederungshilfe, hier bejahend.

Quelle: www.justiz.nrw.de

4.2 – LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 23.06.2021 – L 9 SO 43/15

Sozialhilfe – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Unterkunft und Heizung – angemessene Unterkunftskosten – Einpersonenhaushalt auf der Insel Sylt in Schleswig-Holstein – schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Zu den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft (hier für die Insel Sylt), es lag kein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor.

2. Da hier der Rückgriff auf die Tabellenwerte des Wohngeldgesetzes nicht zu angemessenen Ergebnissen führt, besteht – ausnahmsweise – Anspruch auf Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten.

Quelle: openjur.de

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Kinderzuschlag

5.1 – LSG NRW, Urt. v. 16.12.2021 – L 9 BK 13/21

Keine Erstattung von Schülerfahrtkosten in NRW durch Jobcenter (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.01.2019 – L 7 AS 783/15)

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Der Anspruch auf Schülerbeförderungskosten ist ausgeschlossen, wenn diese von Dritten übernommen würden. Bei einem Schulweg, der die zumutbaren Entfernungsgrenzen übersteige oder aus gesundheitlichen Gründen oder wegen einer besonderen Gefährlichkeit nicht zumutbar sei, übernehme bereits der Schulträger die Fahrtkosten nach Maßgabe der Schülerfahrtkostenverordnung (SchfkVO NRW).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – Sächsisches LSG, Beschluss v. 11.01.2021 – L 8 AY 10/20 B ER

Leitsatz www.sozialgerichtsbarkeit.de
Leistungseinschränkungen nach § 1a Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz dürfen nur zeitlich begrenzt und jedenfalls nicht langjährig verhängt werden. Einschränkungen des Leistungsanspruchs sind im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in jeder Hinsicht eng zu handhaben unter strengen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im konkreten Einzelfall. Die gesetzliche Anordnung in § 1a Abs. 1 Satz 2 Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungsberechtigten das soziokulturelle Existenzminimum vorzuenthalten, erscheint verfassungsrechtlich zweifelhaft.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

7.1 – Newsletter 03/2022 von RA Volker Gerloff

weiter: www.ra-gerloff.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker