1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zu Angelegenheiten des Kinderzuschlags und der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II
1.1 – BSG, Urt. v. 09.03.2022 – B 7/14 AS 31/21 R
Erzieher hat Anspruch auf eine Weiterbildungsprämie in Höhe von 1000 EUR nach § 16 Abs. 1 SGB II iVm § 131a Abs 3 Nr 1 SGB III.
Doppelte Prämie für Weiterbildungserfolg – Die Ablegung des ersten Teils einer gestreckten Abschlussprüfung ist mit einer Zwischenprüfung gleichzusetzen und begründet einen zusätzlichen Prämienanspruch.
Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Die Weiterbildungsprämie nach § 131a Abs 3 SGB III ist Teil der dem Kläger bewilligten Leistungen nach § 16 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB II aF. Gemäß § 131a Abs 3 Nr 1 SGB III in der maßgeblichen Fassung erhalten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die an einer nach § 81 SGB III geförderten beruflichen Weiterbildung teilnehmen, die zu einem Abschluss in einem Ausbildungsberuf führt, für den nach bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften eine Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren festgelegt ist, nach Bestehen einer in diesen Vorschriften geregelten Zwischenprüfung eine Prämie von 1000 Euro, wenn die Maßnahme vor Ablauf des 31.12.2020 beginnt.
2. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, vorausgesetzt die bestandene Prüfung nach Abschluss des theoretischen Ausbildungsteils kann einer Zwischenprüfung gleichgestellt werden. Denn der Kläger kann nicht unmittelbar aus § 131a Abs 3 Nr 1 SGB III einen Zahlungsanspruch für sich ableiten, weil die Vorschrift für Weiterbildungsmaßnahmen gilt, die zu einem Berufsabschluss führen, der vom BBiG und vergleichbaren Vorschriften erfasst wird. Hierunter fällt die Fachschulausbildung des Klägers an einem Berufskolleg nicht.
Quelle: www.bsg.bund.de
1.2 – BSG, Urt. v. 09.03.2022 – B 7/14 KG 1/20 R
Kinderzuschlag – Familienleistung – Asylbewerberleistungsgesetz – Türkei
Assoziationsrechtlich ableitbarer Anspruch türkischer Staatsangehöriger auf Kinderzuschlag
Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Türkische Staatsangehörige, die leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG sind, können über das assoziationsrechtliche Diskriminierungsverbot des Artikel 3 Absatz 1 ARB Nummer 3/80 die Gewährung von Kinderzuschlag beanspruchen.
Quelle: www.bsg.bund.de
1.3 – BSG, Urt. v. 09.03.2022 – B 7/14 AS 79/20 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss – EU-Ausländer – Fortwirkung – Erwerbstätigenstatus
Orientierungshilfe RA Volker Gerloff
§ 2 III 1 Nr. 2 FreizügG/EU sagt, dass EU-Bürger:innen, die „mehr als ein Jahr“ Erwerbstätigkeit waren, dauerhaft die Arbeitnehmer:innen-Eigenschaft behalten
BSG hat entschieden, dass das auch gilt, wenn eine Erwerbstätigkeit exakt ein Jahr bestand.
Quelle: www.bsg.bund.de
1.4 – BSG, Urteil vom 9.3.22 – B 7/14 AS 91/20 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss – EU-Ausländer – Elternzeit – Erwerbstätigenstatus
Orientierungshilfe RA Volker Gerloff
EU-Bürgerinnen bleiben während Elternzeit Arbeitnehmerinnen und dürfen daher in der Elternzeit nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen werden.
Quelle: www.bsg.bund.de
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)
2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 07.01.2022 – L 19 AS 1506/20
Gerichtsbescheid – Beschwerdewert im Zugunstenverfahren – fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung – Zulässigkeit des Antrags auf mündliche Verhandlung
Leitsatz
Belehrt das Sozialgericht im Gerichtbescheid unzutreffend über die Berufung als statthaftes Rechtsmittel, ist ein Antrag auf mündliche Verhandlung grundsätzlich unbefristet möglich.
Der Beschwerdewert ist auch im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X nach dem mit der Berufung sachlich verfolgten Ziel, dem materiellen Kern des Verfahrens zu bestimmen.
Quelle: gesetze.berlin.de
2.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 28.01.2022 – L 37 SF 266/19 EK AS
Überlanges Gerichtsverfahren – Entschädigungsklage – unangemessene Verfahrensdauer – Ruhen des Ausgangsverfahrens – Wiedergutmachung auf andere Weise – gerichtliche Feststellung der Überlänge des Verfahrens – Verhalten der Verfahrensbeteiligten
Leitsatz
1. Verfahrensverlängerungen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Verfahren (weiterhin) geruht hat, obwohl objektiv kein Ruhensgrund (mehr) vor-lag, fallen zumindest auch in den Verantwortungsbereich des Gerichts und sind somit dem Staat zuzurechnen.
2. Das Verhalten der Beteiligten, das ggf. darin besteht, weder einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen noch von sich aus das Gericht überhaupt über den Wegfall des Ruhensgrundes zu benachrichtigen, entbindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Plicht, ein zügiges Verfahren sicherzustellen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.08.2013 – 1 BvR 2965/10 – juris Rn. 25; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 – 20027/02 – juris Rn. 78).
3. Die dem Staat zurechenbare gerichtliche Untätigkeit beginnt jedenfalls dann, wenn das Ausgangsgericht keine Kontrollmechanismen wie etwa regelmäßige Wiedervorlagen eingerichtet hat, die es ihm ermöglichen, den Wegfall des Ruhensgrundes in angemessener Zeit zu bemerken, mit dem auf den Weg-fall folgenden Monat.
4. Der Umstand, dass die Beteiligten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen haben, weil sie – obwohl ihnen der Wegfall des Ruhensgrundes bekannt war – das Gericht hierüber nicht informiert haben, kann bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob die Wiedergutmachung des eingetretenen immateriellen Nachteils auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG in Betracht kommt.
5. Rechtlich begegnet es keinen Bedenken, für bestimmte Phasen der Verzögerung des Ausgangsverfahrens eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG als ausreichend zu betrachten, während für andere Phasen desselben Ausgangsverfahrens ein Anspruch auf eine Entschädigung in Geld zuerkannt wird (vgl. BFH, Urteil vom 04.06.2014 – X K 12/13 – juris Rn. 37).
Quelle: gesetze.berlin.de
2.3 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 28.01.2022 – L 37 SF 284/19 EK AS
Überlanges Gerichtsverfahren – Entschädigungsklage – unangemessene Verfahrensdauer – Ruhen des Ausgangsverfahrens – Wiedergutmachung auf andere Weise – gerichtliche Feststellung der Überlänge des Verfahrens – Verhalten der Verfahrensbeteiligten
Leitsatz
1. Verfahrensverlängerungen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Ver-fahren (weiterhin) geruht hat, obwohl objektiv kein Ruhensgrund (mehr) vor-lag, fallen zumindest auch in den Verantwortungsbereich des Gerichts und sind somit dem Staat zuzurechnen.
2. Das Verhalten der Beteiligten, das ggf. darin besteht, weder einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen noch von sich aus das Gericht überhaupt über den Wegfall des Ruhensgrundes zu benachrichtigen, entbindet das Gericht nicht von der rechtsstaatlichen Plicht, ein zügiges Verfahren sicherzustellen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.08.2013 – 1 BvR 2965/10 – juris Rn. 25; EGMR, Urteil vom 11.01.2007 – 20027/02 – juris Rn. 78).
3. Die dem Staat zurechenbare gerichtliche Untätigkeit beginnt jedenfalls dann, wenn das Ausgangsgericht keine Kontrollmechanismen wie etwa regelmäßige Wiedervorlagen eingerichtet hat, die es ihm ermöglichen, den Wegfall des Ruhensgrundes in angemessener Zeit zu bemerken, mit dem auf den Weg-fall folgenden Monat.
4. Der Umstand, dass die Beteiligten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen haben, weil sie – obwohl ihnen der Wegfall des Ruhensgrundes bekannt war – das Gericht hierüber nicht informiert haben, kann bei der Frage zu berücksichtigen sein, ob die Wiedergutmachung des eingetretenen immateriellen Nachteils auf andere Weise im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 GVG in Betracht kommt.
Quelle: gesetze.berlin.de
2.4 – LSG Sachsen, Beschluss v. 21.02.2022 – L 7 AS 245/18
Leitsätze
Eine abschließende Entscheidung über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die auf einer rechtswidrigen Schätzung des Einkommens nach dem bis zum 31.07.2016 geltenden Recht beruht, ist nicht aufheben, wenn die Hilfebedürftigkeit nicht nachgewiesen ist.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.5 – LSG NSB, Beschl. v. 16.02.2022 – L 11 AS 479/21 B ER
Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Kein Anspruch des Hilfebedürftigen auf Schulgeld für den Besuch einer Privatschule vom Jobcenter.
Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de
2.6 – LSG NSB, Urt. v. 03.02.2022 – L 11 AS 578/20
1. Aus der Direktzahlung der Miete an den Vermieter (§ 22 Abs 7 SGB II) ergeben sich grundsätzlich keine einklagbaren Ansprüche des Vermieters.
2. Der Vermieter hat keinen Anspruch gegenüber dem Jobcenter auf Angabe eines konkreten Verwendungszwecks der Überweisung bei einer Direktzahlung nach § 22 Abs 7 SGB II.
3. Die Klage eines Vermieters gegen das Jobcenter auf Direktzahlung der Miete eines Grundsicherungsempfängers ist gerichtskostenpflichtig (§ 197a SGG).
Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de
Hinweis:
Vermieter kann keine Miete vom Jobcenter einklagen
Das LSG Celle-Bremen hat entschieden, dass ein Vermieter trotz der Möglichkeit der Direktzahlung der Miete keine eigenen einklagbaren Ansprüche gegen das Jobcenter hat.
Quelle: Pressemitteilung des LSG Celle-Bremen Nr. 5/2022 v. 07.03.2022
2.7 – LSG Hessen, Beschluss v. 26.01.2022 – L 6 SF 7/21 DS – Beschwerde anhängig beim BSG B 1 SF 1/22 R
Leitsätze
Aus Art. 34 Satz 3 GG folgt nicht nur die Eröffnung des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten für Schadensersatzansprüche aus Amtspflichtverletzung, sondern (weiterhin) eine abschließende Rechtswegzuweisung.
Diese umfasst auch Schadensersatzansprüche aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO, sofern die geltend gemachten Verstöße in einem öffentlich-rechtlichen Sozialleistungsverhältnis wurzeln.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.8 – Hessisches Landessozialgericht, Beschluss v. 21.02.2022 – L 6 AS 585/21 B ER
Normen: § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 67 Abs. 3 SGB II – Schlagworte: Covid-19-Pandemie, Jobcenter Kassel, Kosten der Unterkunft, Hessisches Landessozialgericht, Stadt Kassel, vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung
Familie mit behindertem Kind und schwer erkranktem Vater hat Anspruch auf Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft während der Pandemie.
Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. SGB II-Leistungsbezieher müssen sich nicht in der Zeit der Pandemie auch noch um ihren Wohnraum sorgen, denn es gilt § 67 Abs. 3 SGB II.
2. Diese Vorschrift wird sogar bei sehr hohen Unterkunftskosten bzw. „Luxusmieten“ für anwendbar gehalten.
Quelle: RA Sven Adam
2.9 – LSG Erfurt, Urt. v. 25.11.2021 – L 7 AS 623/17
Unterkunftskosten in der Stadt Jena nicht angemessen
Leitsatz
Die zur Erstellung des schlüssigen Konzepts eines Grundsicherungsträgers erhobenen Daten müssen ein realistisches Abbild des Wohnungsmarktes liefern. Wird der Wohnungsmarkt nicht deutlich überwiegend oder nahezu ausschließlich durch große Wohnungsunternehmen und Genossenschaften geprägt, bedarf es zur repräsentativen Abbildung des Wohnungsmarktes der Sicherstellung, dass auch ausreichend Daten von kleineren Vermietern in die Erhebung einfließen.
Quelle: landesrecht.thueringen.de
3. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)
3.1 – LSG Bayern, Urteil v. 21.02.2022 – L 10 AL 39/21
Leitsätze
Beiträge zu einer privaten Kranken- und Pflegeversicherung können nur dann übernommen werden, wenn der Leistungsbezieher nach dem SGB III zugleich als Versicherungsnehmer vertraglich die Beiträge an das Versicherungsunternehmen schuldet.
Bei der Rücknahme einer Leistungsbewilligung ist – soweit es sich nicht um eine gebundene Entscheidung handelt – neben der Prüfung des Vertrauensschutzes auch das Ermessen pflichtgemäß auszuüben.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
3.2 – LSG Bayern, Urt. v. 21.02.2022 – L 10 AL 81/20
Leitsätze
1. Auch nach der Umgestaltung des SGB IX durch das BTHG ist für die Abgrenzung der Zuständigkeiten für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben einerseits und Leistungen zur sozialen Teilhabe andererseits weiterhin auf den Schwerpunkt der jeweils in Frage stehenden Maßnahme abzustellen; eine einheitliche Leistungsgewährung durch einen einzigen Rehabilitationsträger unabhängig von der Zuordnung der jeweiligen Leistungen zu den Leistungsgruppen wurde durch die Gesetzesänderung nicht beabsichtigt.
2. Die heilpädagogische Unterbringung eines Jugendlichen in Berufsausbildung kann grundsätzlich sowohl als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben als auch als Leistung zur sozialen Teilhabe anzusehen sein. Die Abgrenzung hat nach der Zielsetzung der konkreten Unterbringung im jeweiligen Einzelfall zu erfolgen.
3. Handelt es sich bei der Unterbringung nicht um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, kommt es auf die Frage eines grundsätzliches Vor- und Nachrangs zwischen der Bundesagentur für Arbeit und dem Träger der Jugendhilfe nicht an.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
4.1 – LSG Hessen, Urt. v. 19.01.2022 – L 4 SO 143/19 – Revision zugelassen
Leitsätze
1. § 22 Abs. 10 SGB II ist auf die Bildung der Angemessenheitsgrenze für Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB XII analog anzuwenden, soweit die Regelungen hierfür im Übrigen im SGB II und SGB XII inhaltsgleich sind (hier bejaht bei Kosten der Unterkunft und Heizung für Mietwohnraum des allgemeinen Wohnungsmarktes).
2. Ob eine Gesamtangemessenheitsgrenze nach § 22 Abs. 10 SGB II gebildet wird, unterliegt nicht einem behördlichen Ermessen.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern
5.1 – Newsletter von RA Volker Gerloff 04/2022 und 05/2022
Sozialleistungen für Ukraine Flüchtlinge- Einkommen und Vermögen
weiter: Ra Gerloff – Newsletter 04-2022 und Ra Gerloff – Newsletter 05-2022
5.2 – Schwerbehindertenausweis ist auch bei unbefristeter Feststellung eines Grades der Behinderung grundsätzlich zu befristen
Das LSG Stuttgart hat entschieden, dass auch bei unbefristeter Feststellung des GdB nach § 152 Abs. 5 Satz 3 SGB IX grundsätzlich nur ein Anspruch auf Ausstellung eines befristeten Schwerbehindertenausweises besteht.
weiter: www.juris.de
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker