Tacheles Rechtsprechungsticker KW 12/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II

1.1 – BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 16/20 R und B 14 AS 15/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Entschädigungszahlung – unangemessene Dauer – Gerichtsverfahren

Ist eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens nach § 198 GVG als Einkommen zu berücksichtigen?

Entschädigung wegen langen Gerichtsverfahrens mindert nicht Hartz IV

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Hartz-IV-Bezieher können eine erhaltene Entschädigung wegen eines zu lange dauernden Rechtsstreits mit dem Jobcenter behalten.

2. Entschädigungszahlungen wegen einer überlangen Verfahrensdauer sind nicht als Einkommen auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen.

Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 33/20 R

Grundsicherung für Arbeitssuchende – Einkommensberücksichtigung – Schülereinkommen

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Wird eine Erwerbstätigkeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ferien ausgeübt, bleibt allein privilegiert das in den Ferien erarbeitete Einkommen.

Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 41/20 R

Grundsicherung für Arbeitssuchende – Einkommensberücksichtigung – Fahrkostenerstattung

Zur Berücksichtigung einer Fahrkostenpauschale, die der Leistungsberechtigte von seinem Arbeitgeber für betrieblich veranlasste Fahrten mit seinem privaten Kraftfahrzeug erhalten hat, als Einkommen nach dem SGB II.

Pauschaler Fahrkostenersatz durch einen Arbeitgeber ist Einkommen aus Erwerbstätigkeit

Leitsatz Redakteur von Tacheles e.V.
1. Fahrkostenersatz durch einen Arbeitgeber ist als Einkommen aus Erwerbstätigkeit iS des § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II bei der Berechnung des Alg II zu berücksichtigen.

2. Ist der Fahrkostenersatz Einkommen, sind hiervon die mit seiner Erzielung verbundenen notwendigen Aufwendungen nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB II vor seiner Berücksichtigung bei der Leistungsberechnung abzusetzen.

3. Pro gefahrenem Kilometer auf einem Betriebsweg steht ALG II Empfängern ein Absetzbetrag in Höhe von zehn Cent zu. Bei entsprechendem Nachweis können auch darüberhinausgehende höhere Fahrtkosten ebenfalls abgesetzt werden.

Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG NRW, Beschluss v. 14.02.2022 – L 7 AS 930/21 B

Einkommensanrechnung für Aufwandspauschalen

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Zuschüsse des Arbeitgebers für Fahrtkosten und Internetnutzung sind anrechenbares Einkommen.

2. Es handelt sich hierbei um Aufwandspauschalen und nicht um Aufwandsentschädigungen, die nach einem individuellen festgestellten Bedarf bemessen sind und anhand von Einzelbelegen des Arbeitnehmers tatsächlich nachvollzogen werden können, und damit um Arbeitsentgelt (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 14.11.2016 – L 19 AS 885/16).

Quelle: www.justiz.nrw.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
vgl. dazu BSG, Urt. v. 11.11.2021 – B 14 AS 41/20 R

2.2 – LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. September 2021 – L 7 AS 1260/20)

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Die Behörde kann von einem Beistand jederzeit Namen und Personalien sowie die Vorlage eines Ausweises verlangen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG NRW, Urt. v. 28.10.2021 – L 6 AS 491/19

Versagung von ALG II wegen fehlender Mitwirkung des Leistungsbeziehers bei einer Erbschaft

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Die Aufforderung zur Vorlage von Nachweisen über die Höhe der Erbschaft / des Vermächtnisses und den Zeitpunkt des Zuflusses stehen in einem angemessenen Verhältnis zu den beantragten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, weil nur so Grund und Höhe des (etwaigen) Leistungsanspruches festzustellen waren.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 17.01.2022 – L 4 AS 524/20 NZB

Leitsatz
Die Vereinbarung der Verrechnung einer Kindergelderstattung mit laufenden Kindergeldleistungen stellt eine Disposition des Leistungsempfängers dar. Die rechtlichen Grundsätze hierzu sind höchstrichterlich entschieden und haben keine grundsätzliche Bedeutung (mehr).

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

2.5 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 07.03.2022 – L 4 AS 40/22 B ER

Leitsatz
§ 67 Abs 3 SGB II findet auch bei nicht pandemiebedingten Umzügen Anwendung, sodass für die ersten sechs Monate die tatsächlichen Unterkunftskosten zu übernehmen sind. Der Wortlaut der Vorschrift und die Gesetzgebungsgeschichte rechtfertigen keine restriktive Begrenzung des Anwendungsbereichs auf bereits bewohnten Wohnraum.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
vgl. dazu SG Neuruppin, Gerichtsbescheid vom 25.02.2022 – S 25 AS 865/20 (nur Leitsatz veröffentlicht) und Hessisches Landessozialgericht, Beschluss v. 21.02.2022 – L 6 AS 585/21 B ER

2.6 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 27.01.2022 – L 4 AS 585/17

Leitsatz
1. Die ab 1. April 2012 geltende KdUH-Richtlinie des Landkreises Anhalt-Bitterfeld auf der Grundlage der Mietwerterhebung 2012 in der Fassung des Korrekturberichts von Oktober 2019 und der Neuberechnung im Gewichtungsverfahren vom 3. Dezember 2021 beruht auf einem schlüssigen Konzept.

2. Die vom Landkreis Anhalt-Bitterfeld gebildeten drei Vergleichsräume sind nicht zu beanstanden. Die früheren Mittelzentren des Landkreises und jetzigen sog zentralen Orte, die Städte Bitterfeld-Wolfen, Köthen und Zerbst/Anhalt, sind die Versorgungskerne in ihrem Einzugsgebiet für die Daseinsvorsorge. Sie stellen mit ihren Einzugsgebieten jeweils homogene Wohn- und Lebensräume dar.

3. Um die Repräsentativität der erhobenen Daten für ein KdUH-Konzept sicherzustellen, ist der (lokale) Mietwohnungsmarkt wirklichkeitsgetreu abzubilden. Die Datenerhebung muss in ihrer Zusammensetzung und in der Struktur der relevanten Merkmale der Grundgesamtheit möglichst ähnlich sein.

4. Ein KdUH-Konzept ist nicht repräsentativ, wenn institutionelle Vermieter nicht entsprechend ihrem Marktanteil, sondern deutlich überproportional im Verhältnis zu den sog Kleinvermietern in der Mietwerterhebung vertreten sind, und bei einer gesonderten Auswertung der Mieten nach Vermietertyp erhebliche Preisunterschiede bei den Nettokaltmieten festzustellen sind. Es ist methodisch unplausibel, eine Stichprobe bei privaten Kleinvermietern mit einer (annähernden) Vollerhebung bei institutionalisierten Vermietern zu vermischen.

Dieser Mangel kann durch eine gewichtete Neuberechnung – differenziert nach Nettokaltmieten und Betriebskosten – korrigiert werden, in der private Kleinvermieter einerseits und institutionelle Großvermieter andererseits nach ihrem Anteil auf dem Mietwohnungsmarkt berücksichtigt werden.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – LSG Baden-Württemberg, urt. v. 13.12.2021 – L 3 AL 1847/21

Leitsätze
1. Der Herstellungsanspruch kann einen Versicherungsträger nur zu einem Tun oder Unterlassen verpflichten, das rechtlich zulässig ist.

2. Kommt die Verwaltung ihrer gesteigerten Informations- und Beratungspflicht nicht nach, greift der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nur insoweit, als sie den Leistungsempfänger dann so zu stellen hat, als hätte er die Lohnsteuerklasse nicht gewechselt.

3. Wegen der Tatbestandswirkung einer eingetragenen Lohnsteuerklasse ist aber eine Heilung über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, indem die eingetragene durch eine günstigere Lohnsteuerklasse ersetzt wird, nicht möglich, wenn ein Lohnsteuerklassenwechsel von den Ehegatten beziehungsweise Lebenspartnern nicht vorgenommen worden ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

4.1 – Angemessene Kosten für Unterkunft und Heizung – Arbeitslosengeld-II-Regel zur Gesamtangemessenheitsgrenze gilt im Sozialhilferecht analog – LSG Hessen, Urt. v. 19.01.2022 – L 4 SO 143/19 – Revision zugelassen

Das LSG Darmstadt hat entschieden, dass für die Berechnung angemessener Aufwendungen für Unterkunft und Heizung auch im Sozialhilferecht die Bildung einer Gesamtangemessenheitsgrenze maßgeblich und die entsprechende Regelung aus dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende analog anzuwenden ist.

Sozialhilfeempfänger hält höhere Heizungskosten für angemessen

weiter zur Quelle: Pressemitteilung des LSG Darmstadt Nr. 2/2022 v. 15.03.2022

4.2 – Wirksamkeit eines nach einem Erbfall vereinbarten Pflichtteilsverzichts eines Leistungsbeziehers mit Behinderungen

Ein Vertrag, mit dem ein behinderter Sozialleistungsbezieher nach dem Tod des Vaters gegenüber seiner Mutter auf Pflichtteilsansprüche verzichtet, ist nicht sittenwidrig

weiter: www.juris.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker