Tacheles Rechtsprechungsticker KW 15/2022

1. Besprechung zu Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem (SGB II)

1.1 – Anmerkung zu: BSG 14. Senat, Urteil vom 11.11.2021 – B 14 AS 41/20 R

Autor: Dr. Davor Šušnjar, RiSG

Fahrtkostenerstattungen als zu bereinigendes Erwerbseinkommen nach den §§ 11 ff. SGB II

Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Vom Arbeitgeber für betriebliche Fahrten mit dem privaten Kfz gezahlte Fahrtkostenerstattungen sind als Erwerbseinkommen nach § 11 Abs. 1 SGB II anzurechnen.

2.  Von den Fahrtkostenerstattungen ist neben den sonstigen Absetzungen für Spritkosten und Parkgebühren ein Betrag i.H.v. 0,10 Euro pro Streckenkilometer abzusetzen, soweit nicht höhere Aufwendungen nachgewiesen sind.

weiter: www.juris.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Hamburg, Urt. v. 02.12.2021 – L 4 AS 127/20

Anspruch eines selbständig tätigen Unionsbürgers auf Leistungen der Grundsicherung – Schätzung des erzielten Einkommens

Orientierungssatz
1. Ein Unionsbürger hat bei Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG und bestehender Hilfebedürftigkeit Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach § 7 SGB 2.(Rn.46)

2. Lässt sich das Einkommen des Antragstellers nicht hinreichend feststellen, so ist die Einkommenshöhe zu schätzen. (Rn.51)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2.2 – LSG Hamburg, Urt. v. 03.02.2022 – L 4 AS 287/20

Cannabiskonsum im Job muss nicht „sozialwidrig“ sein

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes wegen Cannabiskonsums dürfen Jobcenter nicht generell gezahlte Hartz-IV-Leistungen wegen „sozialwidrigen Verhaltens“ später zurückfordern.

2. Dem Kläger ist sein Verhalten als grob verkehrswidrig vorzuwerfen; an der Sozialwidrigkeit fehlt es aber bereits deswegen, weil der Kläger es mit seinem Fehlverhalten nicht auf einen Leistungsbezug anlegte oder er erkennbar Risiken mit dieser Tendenz einging, sondern er sich – geradezu im Gegenteil – die Steigerung seiner Arbeitsenergie versprach, um den Lebensunterhalt trotz depressiver Stimmungseintrübung weiter zu sichern.

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2.3 – LSG NRW, Urt. v. 10.02.2022 – L 19 AS 1201/21

Zelt eines Arbeitslosen kann Unterkunft iSd § 22 SGB II sein

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Bei einem Zelt auf einem Campingplatz handelt es sich um eine Unterkunft. Von Jobcentern sind daher die Kosten für den Stellplatz als „Koster der Unterkunft“ zu erstatten.

2. Wenn das Zelt auf einem umzäunten, bauordnungsrechtlich zugelassenen Campingplatz aufgestellt wird, der außerdem Sanitäranlagen und Stromanschlüsse besitzt, so seien die Mindestvoraussetzungen für eine Unterkunft erfüllt.

Quelle: www.lto.de

Volltext hier: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
SG Freiburg, Beschluss vom 13. Januar 2022 – S 9 AS 84/22 ER – Tacheles Rechtsprechungsticker KW 04/2022

Zelt eines Obdachlosen kann Unterkunft iSd § 22 SGB II sein = Kosten für Gas-Heizstrahler sind dann “Kosten der Unterkunft und Heizung”

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung (SGB II)

3.1 – SG Neuruppin, Beschluss v. 11.03.2022 – S 26 AS 63/22 ER

Vermutung einer Bedarfsgemeinschaft: Aufhebungsentscheidung von ALG II rechtswidrig, wenn seitens des Jobcenters keine Ermittlungen zum Einkommen durchgeführt wurden (Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.)

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
Die Annahme, dem Antragsteller stünden keinerlei Leistungen zu, was es rechtfertigen würde, die Leistungsbewilligungen vollständig aufzuheben, war jedenfalls keine Feststellung aufgrund von Ermittlungen, sondern eine bloße Vermutung, auf die jedoch die Aufhebungsverfügungen nicht gestützt werden können (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R).

Quelle: gerichtsentscheidungen.brandenburg.de

3.2 – Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 28. Januar 2022 (S 34 AS 4/22 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
§ 67 SGB II („Vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie“) ist nicht auf diejenigen Leistungsbezieherinnen und -bezieher beschränkt, die direkt von der Corona-Pandemie betroffen sind. Eine Ursächlichkeit zwischen dem Eintritt der Hilfebedürftigkeit und der epidemischen Lage ist hier nicht erforderlich.

Aus der Konzeption des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II folgt die widerlegbare Fiktion, dass sich die tatsächlichen Kosten der Unterkunft (§ 22 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz SGB II) sich als angemessen darstellen. Diese Fiktion gilt der Höhe nach unbegrenzt und erfasst auch überaus hohe Unterkunftskosten.

Die Entstehung einer Deckungslücke bei unterkunftsbezogenen Kosten soll entsprechend § 67 Abs. 3 SGB II – zumindest für einen vorübergehenden Zeitraum – verhindert werden.

§ 67 Abs. 3 SGB II schränkt den Anwendungsbereich des § 22 Abs. 4 SGB II weder ein noch erfolgt durch diese neue Bestimmung eine Modifizierung. § 67 Abs. 3 SGB II bezieht sich seinem Wortlaut nach einzig auf § 22 Abs. 1 SGB II. Dies bedeutet für Umzugsfälle ohne entsprechende Zusicherung während des Zeitraums vom 1. März 2020 bis zum 31. März 2022, dass die Prüfung der Angemessenheit von unterkunftsbezogenen Kosten nach den Grundregeln des § 22 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II erfolgt, was wiederum für den befristeten Zeitraum nach § 67 Abs. 3 SGB II in der Weise eine Modifikation erfährt, indem hier zufolge die tatsächlichen Unterkunftskosten als angemessen gelten.

Dies hat zur Folge, dass sich der SGB II-Träger in diesem Leistungsfall nicht durch eine nach § 22 Abs. 4 SGB II abgegebene Zusicherung gebunden hat, erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihrerseits nur über die Frist des § 67 Abs. 3 Satz 2 SGB II geschützt sind, bevor ein Jobcenter ein Kostensenkungsverfahren gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II einleiten kann.

4. Entscheidungen der Gerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – LSG Bayern, Urt. v. 26.10.2021 – L 10 AL 101/20

Leitsätze
Ein Arbeitsloser, der nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses in Deutschland in einen anderen Mitgliedsstaat umzieht, hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn er sich nicht im zeit- und ortsnahen Bereich einer deutschen Agentur für Arbeit aufhält und die Voraussetzungen für eine Mitnahme des Leistungsanspruchs, insbesondere die Nichterfüllung einer Wartezeit, nicht vorliegen. Wurde er vor dem Umzug hierauf in einer persönlichen Vorsprache hingewiesen und zieht er dennoch dorthin um, dann kann – abhängig von den jeweiligen Umständen dies Einzelfalls – der Fall vorliegen, dass er die Rechtswidrigkeit einer dennoch erfolgten Bewilligung gekannt bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hat.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – SG Osnabrück 43. Kammer, Gerichtsbescheid vom 17.03.2022, S 43 AL 100/20

Gründungszuschuss, 150 Tage Anspruch auf Arbeitslosengeld, Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld in der Corona-Pandemie nach § 421d SGB III, teleologische Extension, Analogie

1. § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB III, der für die Gewährung eines Gründungszuschusses bei Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit einen Anspruch von 150 Tagen Arbeitslosengeld voraussetzt, stellt auf einen tatsächlich noch bestehenden materiell-rechtlichen Anspruch, nicht auf einen fiktiv ggf. noch bestehenden Anspruch ab. Die materiellen Voraussetzungen eines konkreten Zahlungsanspruchs müssen gegeben sein (LSG Hamburg, Urteil vom 10.07.2017, L 2 AL 9/17, Rn. 29). Die Möglichkeit der Anspruchsverlängerung in der Corona-Krise nach § 421d SGB III (in der Fassung vom 20.05.2020) reicht dafür nicht aus.

2. § 421d SGB III (in der Fassung vom 20.05.2020) setzt für die Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld voraus, dass sich der Anspruch in der Zeit vom 01.05.2020 bis zum 31.12.2020 auf einen Tag gemindert hat. Tritt vor diesen Zeitpunkt eine Unterbrechung des Leistungsbezugs ein, erfolgt eine Verlängerung des Anspruchs nicht (BT-Drucks. 19/18866, Seite 29).

3. Ist es deshalb zu der Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld bei Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit nicht gekommen, so ergibt sich eine Möglichkeit der Gewährung von Gründungszuschuss weder aus einer teleologischen Extension des/einer Analogie zu § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB III oder § 421d SGB III (in der Fassung vom 20.05.2020). Hinsichtlich § 93 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke, hinsichtlich § 421d SGB III (in der Fassung vom 20.05.2020) an einer vergleichbaren Interessenslage.

4. § 421d SGB III (in der Fassung vom 20.05.2020) verfolgt das Ziel, die soziale Absicherung für eine absehbar besonders betroffene Gruppe von Arbeitslosengeldbeziehenden für eine bestimmte Zeit aufrecht zu erhalten (dazu: BT-Drucks. 19/18966, Seite 29). Dieser Zweck wird durch den Gründungszuschuss, der eine Maßnahme der aktiven Arbeitsmarktförderung darstellt, nicht in gleicher Form erreicht. Von den Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung hat der Gesetzgeber zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie den Anspruch auf Kurzarbeitergeld ausgewählt.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.02.2022 – L 2 SO 939/21

Leitsätze
Die Sonderregelung des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II ist wegen der detaillierten Bestimmungen in § 82 Abs. 7 SGB XII auf das SGB XII nicht übertragbar. Es bleibt daher dabei, dass eine Nachzahlung laufenden Einkommens als laufendes Einkommen (entgegen § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB II) zu werten ist. Eine auf die Sozialhilfe-Richtlinien des SGB XII-Trägers gestützte, von der BSG-Rechtsprechung abweichende Anrechnung ist somit rechtswidrig. Im Übrigen hat der Gesetzgeber auch nur im SGB II Grund gesehen, die gesetzliche Regelung zu ändern.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5.2 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 16.02.2022 – L 2 SO 2228/20

Leitsätze
Die Kosten bei einer stationären Unterbringung sind bei einem erst zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossenen, aber auf den tatsächlichen Beginn der Heimunterbringung rückwirkenden Heimvertrag auch für den in der Vergangenheit, vor dem Vertragsabschluss liegenden Zeitraum zu übernehmen (vergleiche BSG Urteil vom 13. Juli 2017 – B 8 SO 1/16 R – juris Rn. 32).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5.3 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.03.2022 – L 7 SO 1187/18

Leitsätze
Will ein Sozialhilfeträger im Rahmen des Kostenersatzes durch Erben gem. § 102 SGB XII einen von mehreren Miterben als Gesamtschuldner in Anspruch nehmen, muss die Auswahl im Rahmen einer Ermessensentscheidung erfolgen. Eine Ermessensreduzierung auf Null folgt nicht schon daraus, dass einer der Miterben Betreuer des verstorbenen Leistungsberechtigten war.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 25.03.2022 – S 27 AY 4003/22 ER

Normen: §§ 3, 3a AsylbLG, § 2 AsylbLG – Schlagworte: „Fehlende Ausreise nach Italien“, Corona, nicht rechtsmissbräuchliches Verlängern des Aufenthaltes, Sozialgericht Hildesheim

weiter bei RA Sven Adam

6.2 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Beschluss vom 05.04.2022 – L8 AY 32/21 NZB

Normen: §§ 3, 3a AsylbLG – Schlagworte: Zulassung der Berufung, Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen

Verfassungsmäßigkeit der Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Zur Rechtsfrage, ob die in §§ 3, 3a AsylbLG (in ihren ab 1.9.2019 geltenden Fassungen) bestimmten Geldleistungen verfassungsgemäß sind, deshalb grundsätzliche Bedeutung, weil der Senat mit Beschluss vom 26.1.2021 – L 8 AY 21/19 – dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt hat, ob die im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorgängervorschriften § 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylbLG und § 3 Abs. 2 Satz 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 5 und 8 AsylbLG in der 2018 geltenden Fassung der Bekanntmachungen vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I 1722) und 11. März 2016 (BGBl. I 390) sowie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 26. Oktober 2015 (BGBl. I 1793) mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Verfahren ist bei dem BVerfG unter dem Az. 1 BvL 5/21 anhängig.

weiter bei RA Sven Adam

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker