Tacheles Rechtsprechungsticker KW 17/2022

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 07.02.2022 – L 18 AS 12/22 B ER

einstweiliger Rechtsschutz – Grundsicherung für Arbeitsuchende – Unionsbürger – Leistungsausschluss – gewöhnlicher Aufenthalt von fünf Jahren

Bei höchstrichterlich noch nicht geklärten und hoch streitigen schwierigen Rechtsfragen zum Ausschluss existenzsichernder Leistungen ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Folgenabwägung vorzunehmen.

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Polnischer Obdachloser hat Anspruch auf ALG II im Rahmen der Folgenabwägung.

2. Nach § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II beginnt die Fünf-Jahres-Frist mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Es kann im vorliegenden Verfahren letztlich offen bleiben, ob Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur zu folgen ist, dass die Vorschrift des § 23 Abs. 3 Satz 8 SGB XII (gleichlautend § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II), wonach die Frist nach Satz 7 (gleichlautend § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II) mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginnt, in den Fällen generell teleologisch zu reduzieren ist, in denen der durchgehende Aufenthalt in Deutschland auf andere Weise nachgewiesen werden kann (so LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Mai 2021 – L 9 SO 56/21 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 5. April 2017 – L 15 SO 353/16 B ER und vom 6. Juni 2017 – L 15 SO 112/17 B ER; aA <mindestens erfolgte erstmalige Anmeldung> LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. August 2018 – L 23 SO 146/18 B ER; Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 9. Dezember 2019 – L 6 AS 152/19 B ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 20. Juni 2019 – L 4 AS 34/19 B ER; Urteil des erkennenden Senats vom 11. Mai 2020 – L 18 AS 1812/19; <durchgehende Meldung erforderlich> LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Mai 2021 – L 5 AS 457/21 B ER – L 5 AS 459/21 B ER PKH).

3. Denn eine höchstrichterliche Klärung dieser schwierigen Rechtsfrage, die insbesondere vor dem Hintergrund verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, dass einem Wohnungs- bzw Obdachlosen eine Meldepflicht nicht obliegt und ihm daher das Erfüllen der Rückausnahme bei einer fehlenden „Anmeldung“ von vornherein nicht möglich wäre, ist bislang nicht erfolgt. Dies gilt umso mehr, als die Rückausnahme, die gleichlautend im Recht des SGB XII normiert ist, auch im Lichte des Grundrechts des Antragstellers auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG auszulegen ist, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht, dem Grunde nach unverfügbar ist und das kraft Verfassungsrechts gebietet, dass ein Leistungsanspruch eingeräumt werden „muss“ (so ausdrücklich Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).

Quelle: gesetze.berlin.de

1.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.03.2022- L 9 AS 217/22 B ER

Verjährungsfrist
Verjährung auch bei Rückforderung vorläufiger Bewilligung – Anmerkungen vom Erstreiter RA Kay Füßlein

Bislang ist es umstritten, ob die vierjährige Verjährungsfrist auch bei Rückforderungen nach § 328 SGB III oder § 41a SGB II gilt. Hier hatte das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 2020 entschieden (L 14 AS 553/20 B ER), dass hier eine 30-jährige Verjährungsfrist bestehen könnte.

Nunmehr hat das LSG Berlin-Brandenburg mit Beschluss vom 30.03.2022 sich wegen des Urteiles des BSG vom 04.03.2021 neu sich dahingehend positioniert, als dass auch bei Rückforderungen nach § 40 SGB II iVm. § 328 SGB III bzw. nach § 41a SGB II gleichfalls im Grund eine vierjährige Verjährungsfrist läuft (die jedoch unter bestimmten Bedingungen auf 30 Jahre verlängert werden kann).

Quelle: RA Kay Füßlein

1.3 – LSG NRW, Urt. v. 19.01.2022 – L 12 AS 213/20 – Revision zugelassen

Orientierungssatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Zur Frage, ob § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II nach dessen Änderung zum August 2016 auch ohne Vorliegen eines schlüssigen Konzeptes Anwendung findet, hier bejahend.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – LSG Bayern, Urt. v. 29.04.2021 – L 7 AS 404/20

Leitsätze
Erfolgt eine Krankengeldzahlung unmittelbar an Gläubiger eines Leistungsberechtigten, so ist das Krankengeld trotzdem als Einkommen beim Leistungsberechtigten anzurechnen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.5 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2021 – L 2 AS 448/21

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Einstiegsgeld dient nicht dazu, bei einem bereits gefassten und in die Tat umgesetzten Beschluss, eine Tätigkeit aufzunehmen, lediglich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Leistungsberechtigten zu verbessern (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.06.2012 – L 5 AS 112/12 B; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25.05.2011 – L 13 AS 178/10).

2. Unerheblich ist, dass das Beschäftigungsverhältnis inzwischen wieder beendet worden ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung (SGB II)

2.1 – SG Magdeburg, Urt. v. 28.03.2022 – S 34 AS 751/16

Angelegenheiten nach dem SGB II (AS) – Nichtangetretene Arbeitsgelegenheit – nicht bestandskräftiger Sanktionszeitraum nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Leitsatz
Die Erledigung der Wirksamkeit eines Zuweisungsbescheides nach § 16d SGB II durch Zeitablauf im Sinne von § 39 Abs. 2 SGB X steht einer Minderungsentscheidung nach §§ 31 ff. SGB II nicht entgegen.

Vielmehr erfordert die gerichtliche Überprüfung einer Sanktion im Wege einer Anfechtungsklage die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden Zuweisungsentscheidung (offen gelassen für den Eingliederungsverwaltungsakt: BSG, Urteil vom 13.04.2011 – B 14 AS 101/10 R).

Auch bei nicht bestandskräftigen Sanktionsentscheidungen ist die Prüfung eines Härtefalls und des nachträglichen Wohlverhaltens der Leistungsberechtigten im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Erwägung zu ziehen sein (entgegen LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.06.2020 – L 4 AS 709/15). Die Frage kann offenbleiben, wenn im konkreten Einzelfall aus dem Gesamtzusammenhang Wohlverhaltensbemühungen nicht erkennbar sind.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

Hinweis:
ebenso SG Hamburg, Urt. v. 24.09.2020 – S 58 AS 369/17

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – SG Rostock, Urt. v. 05.04.2022 – S 8 SO 57/21

Vergütung bei gleichzeitiger Erbringung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V und Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI

Leitsatz
Bei gleichzeitiger Erbringung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V und Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI durch die gleiche Pflegeperson und einer nach § 89 SGB XI vereinbarten Vergütung der Pflegesachleistungen nach Leistungskomplexen sind die verrichtungsbezogenen Behandlungsmaßnahmen allein durch die Krankenkasse, die körperbezogenen Pflegemaßnahmen (auf die § 17 Abs. 1 b Satz 2 SGB XI die hälftige Aufteilung allein bezieht) je zur Hälfte von der Pflege- und Krankenversicherung und damit für die Pflegeversicherung nach hälftigen Leistungskomplexen und für die Krankenversicherung nach Maßgabe der Kostenabgrenzungsrichtlinie nach § 17 Abs. 1 b SGB XI sowie die hauswirtschaftliche Versorgung und die pflegerischen Betreuungsmaßnahmen allein von der Pflegeversicherung zu vergüten, wobei die Leistungen der Pflegeversicherung auf den Höchstbetrag für die Sachleistungen des dem Versicherten zuerkannten Pflegegrades begrenzt sind.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

4. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

4.1 – LSG Bayern, Beschluss v. 11.04.2022 – L 8 AY 34/22 B ER

Leitsätze
1. Zur Zuständigkeit bayerischer Leistungsträger für Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG.

2. Voraussetzung einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG ist auch, dass der Leistungsberechtigte über seine Ausreisepflicht belehrt und auf mögliche leistungsrechtliche Folgen beim Verbleib in Deutschland hingewiesen wurde.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

5.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 07.04.2022 – L 4 KR 40/22 B ER

Leitsatz
Die Norm des § 83 Abs. 4 SGB IX schließt einen Anspruch eines minderjährigen Leistungsberechtigten auf Förderung der Kosten der Beschaffung eines KFZ nach § 83 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB IX nicht aus.

Quelle: gesetze.berlin.de

5.2 – Hartz 4-Empfänger fährt mit Fahrrad ins Jobcenter – und bekommt die Fahrtkosten erstattet

Ein Hartz 4-Empfänger fuhr mit dem Fahrrad zum Meldetermin ins Jobcenter: Nun erstritt er sich vor Gericht erfolgreich die Rückerstattung der Fahrtkosten.

Leipzig – Wichtige Hartz 4 News: Ein Bezieher von Hartz IV hat sich wohl gedacht, versuchen kann man es ja mal. Und das Ende vom Lied: recht hat er. Denn der Hartz-IV-Empfänger hat möglicherweise eine wegweisende Klage am Leipziger Sozialgericht gewonnen. Das Gericht urteilte, dass die Fahrkosten für den Meldetermin im Jobcenter erstattet werden müssten, auch wenn der Hartz-IV-Empfänger nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Meldetermin anreist, sondern mit dem Fahrrad.

weiter: www.fr.de

Hinweis:
SG Leipzig, Urt. v. 18.03.2020 – S 17 AS 405/19 – rechtskräftig

Reisekosten auch für Radfahrer

Orientierungshilfe (Redakteur)
Die Fahrtkostenerstattung für die Wahrnehmung von Meldeterminen beim Jobcenter Leipzig steht grundsätzlich auch Fahrradfahrern zu.

Nur zur Höhe der Erstattung habe das Jobcenter einen Ermessensspielraum.

Quelle: www.dgbrechtsschutz.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker