Tacheles Rechtsprechungsticker KW 18/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem (SGB II)

1.1 – BSG Urteil v. 14.12.2021 – B 14 AS 73/20 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Sozialgeldanspruch – temporäre Bedarfsgemeinschaft – Kind

Umgang mit getrenntem Vater kann höheres Hartz IV begründen

Dazu Leitsatz von Dr. Manfred Hammel
Die Anwendung des § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II setzt kein dauerhaftes Leben unter 25jähriger Kinder in einem Haushalt voraus. Die Kinder müssen hier aber einem Haushalt der in § 7 Abs. 3 Nrn. 1 bis 3 SGB II näher bezeichneten Personen angehören.

Entsprechendes kann in Bezug auf die „Hauptbedarfsgemeinschaft“, die von bedürftigen Kindern zusammen mit ihrer Mutter gebildet wird, innerhalb der Zeiten, in denen die Kinder aufgrund der bestehenden Vereinbarung über die Wahrnehmung des Umgangsrechts sich bei ihrem Vater aufhalten, nicht bejaht werden.

Wechselt hier ein Kind umgangsbedingt in gewisser Regelmäßigkeit jeweils von der Bedarfsgemeinschaft des Obhutselternteils in den Haushalt des anderen, ebenfalls umgangsberechtigten Elternteils, dann hat seitens des Jobcenters eine Abgrenzung der Zugehörigkeit zu einer der beiden Bedarfsgemeinschaften nach dem zeitlichen Umfang des Aufenthalts zu erfolgen (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB II).

Wird an einem Tag ein umgangsbedingter Wechsel der Haushaltszugehörigkeit vollzogen, dann ist nach der zeitlich überwiegenden Zuordnung zu entscheiden. Wegen der möglichen Gesamtaufenthaltsdauer von 24 Stunden hat in der Regel ausschlaggebende Bedeutung, in welcher Bedarfsgemeinschaft sich ein Kind länger als zwölf Stunden, bezogen auf den jeweiligen Kalendertag, aufhält.

Auch hier hat der Grundsatz Gültigkeit, dass in dieser Lebenslage eines in einer „temporären Bedarfsgemeinschaft“ lebenden Kindes dieser junge Mensch seinen Regelbedarf decken können muss.

Eine regelmäßige Abwesenheit eines Kindes vom Haushalt der Hauptbedarfsgemeinschaft bei gleichzeitiger Zugehörigkeit zum Haushalt des ebenfalls umgangsberechtigten Elternteils ist gerade nicht anderen, von vornherein rein vorübergehend angesetzten Phasen wie Verwandtenbesuchen und Klinikaufenthalten gleichzusetzen.

Welche konkreten Ansprüche Kinder hier gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II auf Regelbedarf (§ 20 SGB II) geltend machen können, richtet sich stets danach, an welchen Tagen diese Kinder sich jeweils hauptsächlich (in Abhängigkeit von Wegezeiten in der Regel zwölf Stunden) bei ihrer Mutter aufhalten. Nur für diese Zeiten sind der Regelbedarf der Kinder wegen der alternativen Zugehörigkeit zu zwei Bedarfsgemeinschaften nach Tagen aufzuteilen.

Die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II kann ich Betracht kommen, wenn bei der Zugehörigkeit eines Kindes zu zwei Bedarfsgemeinschaften erwiesenermaßen in einem der beiden Haushalte fortlaufend höhere Bedarfe, die nicht durch vorrangige Unterhalts- oder andere Leistungen nach dem SGB II gedeckt werden, wegen der wechselnden Aufenthalte dieses Kindes entstehen.

In Bezug auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) hat das Jobcenter jeweils den vollen Kopfteil der monatlichen Aufwendungen für die Wohnung, die ein Kind zusammen mit seiner Mutter bewohnt, zu berücksichtigen.

In der Wohnung des ebenfalls umgangsberechtigten Vaters wird der Unterkunftsbedarf des minderjährigen Kindes bei einem Bestehen solcher Gegebenheiten nicht gedeckt, auch wenn mit diesem Elternteil eine (temporäre) Bedarfsgemeinschaft gebildet wird. Dieses Kind hat aber seinen Lebensmittelpunkt nicht in dieser, sondern in der Wohnung des Obhutselternteils.

Einzig die monatsweise Zuordnung der unterkunftsbezogenen Bedarfe für das Kind als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft des Obhutselternteils sichert hier eine vollständige Bedarfsdeckung.

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Hamburg, Urteil v. 24.02.2022 – L 4 AS 266/21

Sanktion – Minderungen Arbeitslosengeld II – Ermessensausübung – Rechtsfolgenbelehrung zeitlich vor der Entscheidung des BVerfG zur teilweisen Verfassungswidrigkeit von Sanktionsregelungen – Zuweisung in Arbeitsgelegenheit war rechtmäßig

Eine Rechtsfolgenbelehrung kann sich stets nur auf die im Zeitpunkt der Belehrung bestehende Rechtslage beziehen (Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.).

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

Rechtstipp Redakteur v. Tacheles e. V.:
vgl. hierzu Hessisches LSG, Urteil vom 12.11.2021 – L 6 AS 147/21 und LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.1.2021 – L 2 AS 24/21 B ER und ganz aktuell LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 17.02.2022 – L 20 AS 229/20

2.2 – Auffassung: SG Speyer, Gerichtsbescheid v. 22.04.2021 – S 15 AS 117/19

Minderung des Arbeitslosengeld II – Eintritt von Sanktionstatbeständen vor dem 5.11.2019 – Anforderungen an die vorherige Rechtsfolgenbelehrung – Rückwirkung der Rechtsprechung des BVerfG – Hinweis- und Aufklärungspflichten der Grundsicherungsträger – Aufhebung nicht bestandkräftiger rechtswidriger Sanktionsbescheide – verfassungskonforme Auslegung

Leitsatz
1. Eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II liegt nur bei vorheriger schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis durch den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vor. Die gesetzlichen Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung müssen daher vollständig dargelegt (bzw gekannt) werden, einschließlich aller Möglichkeiten, die Rechtsfolgen des Sanktionstatbestands unter bestimmten Umständen abzumildern oder ganz zu vermeiden. (Rn.30)

2. Hierzu gehören auch die Modifikationen, die das BVerfG in seinem Urteil vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16) mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs 2 BVerfGG) angeordnet hat. Diese gelten mangels entsprechender Einschränkungen im Tenor des Urteils rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der für mit der Verfassung unvereinbar erklärten Vorschriften (Anschluss an SG Hamburg vom 24.9.2020 – S 58 AS 369/17 = info also 2021, 86 = juris RdNr 37ff). (Rn.31)

3. Aus der rückwirkenden Geltung der vom BVerfG festgelegten Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung nach § 31 Abs 1 SGB II ergibt sich, dass Betroffene auf diese Rechtsfolgen hätten hingewiesen werden müssen bzw ihnen diese hätten bekannt sein müssen, damit eine Minderung des Auszahlungsanspruchs hätte eintreten können. Der Umstand, dass den Behörden eine entsprechende Aufklärung bei Sanktionstatbeständen vor der Urteilsverkündung des BVerfG objektiv unmöglich war, ändert hieran nichts. (Rn.37) (Rn.42)

4. Hieraus folgt, dass alle Minderungsbescheide auf Grundlage der §§ 31a Abs 1 S 1, 2 und 3, 31b Abs 1 S 3 SGB II in Verbindung mit § 31 Abs 1 SGB II, die an Sachverhalte vor dem 5.11.2019 anknüpfen, rechtswidrig und – soweit nicht bestandskräftig (vgl § 40 Abs 3 S 1 Nr 1 SGB II) – aufzuheben sind. (Rn.43)

Hinweis:
a. Auffassung auch SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 27.01.2021 – S 114 AS 3501/17

2.3 – LSG Hamburg, Urt. v. 27.01.2022 – L 4 AS 99/21 – Revision zugelassen

Sind erst im Klageverfahren vorgelegte Unterlagen zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen bei abschließenden Entscheidungen nach § 41a Absatz 3 SGB II zu berücksichtigen, wenn bereits im Verwaltungsverfahren unter Fristsetzung eine Aufforderung zur Vorlage erfolgt war?

Der Vorschrift des § 41a Abs. 3 S. 4 SGB II kommt keine materielle Präklusionswirkung zu (Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

Rechtstipp Redakteur von Tacheles e. V.:
so bereits Urteile des Senats vom 22.6.2021 – L 4 AS 215/20 –, Revision anhängig unter B 4 AS 58/21 R, sowie vom 5.8.2021 – L 4 AS 189/20 –, Revision anhängig unter B 4 AS 64/21 R; so auch SG Leipzig, Urteil vom 29.5.2018 – S 7 AS 2665/17; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II, § 41a SGB II Rn. 376; Conradis, in: LPK-SGB II, § 41a SGB II Rn. 23; Kemper, in: Eicher/Luik, SGB II, § 41a SGB II Rn. 49 ff; a.A. SG Osnabrück, Urteil vom 16.4.2019 – S 16 AS 245/18; SG Dortmund, Urteil vom 8.12.2017 – S 58 AS 2170/17; Kallert, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 41a SGB II Rn. 85 ff, Stand März 2017).

2.4 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 18.02.2022 – L 4 AS 1285/21 B PKH

Subsidiarität der Feststellungsklage gegenüber der vorrangigen Leistungs- bzw. Gestaltungsklage – sozialgerichtliche Feststellungsklage – arbeitsgerichtliche Leistungsklage

Orientierungssatz
1. Die Subsidiarität der Feststellungsklage ist im SGG nicht ausdrücklich geregelt. Sie gilt aber auch für das sozialgerichtliche Verfahren (BSG Urteil vom 8. 5. 2007, B 2 U 3/06 R). Der Subsidiaritätsgrundsatz gilt auch dann, wenn die vorrangige Leistungs- oder Gestaltungsklage nicht auf dem Sozialrechtsweg zu erheben wäre (BVerwG Beschluss vom 19. 3. 2014, 6 C 8/13). (Rn.7)

2. Begehrt der Kläger mit der zum Sozialgericht erhobenen Klage die Feststellung, dass seine Ansprüche für Arbeitsentgelt, Urlaubsabgeltung und Abfindung gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber nicht gemäß § 115 SGB 10 auf den Grundsicherungsträger übergegangen sind und Zahlungen, welche dieser an den Grundsicherungsträger geleistet hat, an ihn zu erbringen sind, so sind diese Fragen inzident im Rahmen eines bei einem Arbeitsgericht bereits anhängigen Verfahrens zu klären. (Rn.8)

3. Damit besteht für die von dem Kläger zum Sozialgericht erhobene Feststellungsklage kein Feststellungsinteresse und infolgedessen kein Rechtschutzbedürfnis. (Rn.9)

Quelle: gesetze.berlin.de

2.5 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.02.2022 – L 1 AS 108/22 B ER

Verwandte in gerader absteigender Linie – Rumänische Staatsangehörige

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Vorläufiger Anspruch auf ALG II, denn Verwandte in gerader absteigender Linie sind nicht nur Kinder, sondern auch Enkel und Urenkel.

2. In der genannten Begriffsbestimmung verwendet das FreizügG/EU anders als etwa in § 4 S. 2 FreizügG/EU nicht den engeren Begriff des Kindes, sondern den Begriff des Verwandten, in Übereinstimmung mit § 1589 Abs. 1 S. 1 Bürgerliches Gesetzbuch, wonach alle Personen, deren eine von der anderen abstammt, in gerader Linie verwandt sind. Nur der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten, nicht die Verwandtschaft in gerader Linie selbst.

Quelle: gesetze.berlin.de

2.6 – Sächsisches LSG, Urt. v. 07.04.2022 – L 7 AS 833/19

Leitsätze
Ein Student ist – auch außerhalb eines Urlaubssemesters – dann nicht von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen, wenn er zwar organisationsrechtlich der Hochschule aufgrund seiner Immatrikulation angehört, er jedoch sein Studium tatsächlich nicht betreibt

Bemerkung
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Rücknahme und Erstattung – Besuch einer Ausbildungsstätte – bloße organisatorische Zugehörigkeit zur Hochschule – ohne tatsächliches Betreiben des Studiums – kein Leistungsausschluss für Auszubildende – auch außerhalb eines Urlaubssemesters

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.7 – LSG NSB, Beschluss vom 01.04.2022 – L 11 AS 18/22 B ER

Grundsicherung für Arbeitsuchende, kein Anspruch auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung, Nichtigkeit des Mietvertrages, Niedersächsisches Wohnraumschutzgesetz vom 16. März 2021 (Nds. GVBl. 2021, 128), Überbelegungsverbot, Verbotsgesetz, einstweiliger Rechtsschutz

Leitsatz
1. Es besteht kein Anspruch auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II, wenn der Mietvertrag für die Unterkunft wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz nach § 134 BGB nichtig ist und dies dem Hilfesuchenden bekannt ist oder bekannt sein muss (vgl BSG, Urteil vom 22. September 2009 – B 4 AS 8/09 R -).

2. § 6 Abs 1 Niedersächsisches Wohnraumschutzgesetz – NWoSchG – (Überbelegungsverbot für Wohnraum und für Unterkünfte für Beschäftigte) ist ein Schutzgesetz im Sinne des § 134 BGB.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – Bay LSG, Beschluss v. 25.04.2022 – L 2 AL 62/22 B

Leitsätze
1. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens im sozialgerichtlichem Verfahren nach § 111 SGG kann nicht nur zur Sachverhaltsaufklärung, sondern auch im Interesse einer effektiven Verhandlung oder zweckmäßigen Erledigung (u.a. Vergleichsgespräche, Erläuterung der Erfolglosigkeit eines Rechtsmittels) erfolgen.

2. Die Auferlegung eines Ordnungsgeldes ist rechtswidrig, wenn der mit persönlichem Erscheinen geladene Beteiligte sein Ausbleiben genügend entschuldigt hat.

3. Die vorherige Ablehnung eines Antrags des Beteiligten nach § 110a SGG auf Teilnahme mittels Videokonferenz begründet unabhängig von der Rechtmäßigkeit dieser Ablehnung alleine keinen ausreichenden Entschuldigungsgrund, der der Auferlegung von Ordnungsgeld entgegensteht.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20. Oktober 2021 (L 8 SO 158/21 B ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine fortlaufend aufrechterhaltene einwohnerrechtliche Meldung stellt keine Voraussetzung für die Bejahung einer fünfjährigen Aufenthaltsverfestigung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II dar, sondern hier reicht ein fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt (gA) im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II in Verbindung mit § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB II nach erstmaliger ordnungsbehördlicher Anmeldung im Inland aus.

Für die Beurteilung, in welchem Zeitraum ein gA bestanden hat, ist nicht auf die Rechtmäßigkeit dieses Aufenthalts abzustellen.

Ein Unionsbürger darf erst dann als ausreisepflichtig aufgefasst werden, wenn die Ordnungsbehörde festgestellt hat, dass diese Person ein Recht auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet nicht mehr geltend machen kann (§ 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Bis zum Erlass einer solchen Verfügung besteht aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung ein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet.

Die Ausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4, 1. Halbsatz SGB II von den Leistungsausschlüssen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann dann zur Anwendung gelangen, wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts entsprechend § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zwar festgestellt, vom Betroffenen hiergegen aber mit aufschiebender Wirkung Widerspruch erhoben wurde.

Hinweis:
ebenso LSG BB, Urt. v. 11. Mai 2020 – L 18 AS 1812/19, vgl. aktuell dazu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 07.02.2022 – L 18 AS 12/22 B ER

4.2 – LSG Hessen, Urt. v. 16.03.2022 – L 4 SO 119/21

Leitsätze
1. § 3 Satz 5 SodEG eröffnet durch den Sicherstellungsauftrag des § 2 SodEG verpflichteten Leistungsträger einen Ermessenspielraum hinsichtlich der Festlegung eines niedrigeren Bemessungssatzes für den Zuschuss als 75 Prozent.

2. Steht bei der Bewilligung der Zuschüsse nach dem SodEG der Zahlungsanspruch aus dem Rechtsverhältnis zwischen sozialem Dienstleister und Sozialleistungsträger i. S. v. § 2 Satz 2 SodEG dem Grunde und der Höhe nach für den Monat, für den der Zuschuss beantragt wird, fest, sind insbesondere Zahlungen an den Sozialdienstleister bereits geflossen (tatsächlicher Zufluss vorrangiger Mittel i. S. v. § 4 Satz 1 Nr. 1 SodEG), ist die Saldierung von Zuschuss und Leistungsvergütung geboten und das Ermessen des gewährleistungsverantwortlichen Sozialleistungsträgers auf Null reduziert.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4.3 – SG Karlsruhe, Urt. v. 29.03.2022 – S 2 SO 2888/20

Leitsätze
1.) Obwohl es sich bei einem Zinsanspruch lediglich um eine akzessorische Nebenforderung zu einem Hauptanspruch handelt, stellt die Entscheidung, ob Zinsen nach § 44 SGB I zu gewähren sind, einen eigenständigen Verwaltungsakt dar. Hat die Behörde über eine Verzinsung in der streitigen Entscheidung nicht ausdrücklich entschieden, ist eine auf Verzinsung gerichtete Klage regelmäßig unzulässig.

2.) Die Bestattung in einer vorhandenen (Familien‑) Grabstätte des Ehegatten gehört unter Beachtung des aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) abgeleiteten postmortalen Persönlichkeitsschutzes und dem nach Art. 6 Abs. 1 GG abgeleiteten Schutzes von Ehe und Familie regelmäßig zu den angemessenen Wünschen des Verstorbenen und ist deshalb nach § 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII zu berücksichtigen (Anschluss an: Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. Oktober 2018 – L 8 SO 294/16 –, Rn. 43, juris).

3.) Die Kosten für Sterbeurkunden sind nicht nach § 74 SGB XII anzuerkennen, wenn eine Sterbeurkunde für die Bestattung nicht erforderlich ist, weil gemäß den gesetzlichen Vorgaben zur Bestattung eines Bundeslandes (i.v.F. Baden-Württemberg) bei einem Todesfall der nicht vertrauliche Teil der Todesbescheinigung ausreicht.

4.) Mahngebühren und Säumniszuschläge, die durch eine zu geringe oder verspätete Zahlung des Sozialhilfeträgers entstehen, hängen nicht unmittelbar mit der Beerdigung zusammen und können deshalb im Rahmen von § 74 SGB XII nicht anerkannt werden. Die Übernahme kann allenfalls nach den Grundsätzen der Amtshaftung gemäß § 839 BGB vor den hierfür zuständigen Zivilgerichten verfolgt werden.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – Sozialgericht Neuruppin, Beschluss vom 20. Januar 2022 (S 27 AY 2/22 ER):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Eine Anspruchseinschränkung gemäß § 1a Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 1 AsylbLG ist bei einer entsprechend § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG leistungsberechtigten Person gerechtfertigt, wenn an der Beschaffung von Identitätspapieren nicht in objektiv möglicher und subjektiv zumutbarer Art und Weise mitgewirkt, z. B. kein Kontakt zu den im Herkunftsland noch lebenden Angehörigen oder weiteren Verwandten aufgenommen wird, damit ein gültiger Pass oder Passersatz ausgestellt werden kann.

Eine mit Verweis auf § 14 Abs. 1 AsylbLG gleichzeitig verfügte Absenkungsentscheidung für die Dauer von sechs Monaten stellt einen rechtswidrigen, den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht wahrenden Verwaltungsakt dar, wenn hier in keiner Form ebenfalls ausgeführt wird, weshalb die auf dieser Grundlage maximale Dauer dieser Anspruchseinschränkung erfolgt, und welche Ermessenserwägungen hier von maßgebender Bedeutung waren. § 14 Abs. 1 AsylbLG räumt der zuständigen Behörde hinsichtlich der Dauer der von ihr ausgesprochenen Anspruchseinschränkungen ein pflichtgemäß wahrzunehmendes Ermessen ein, wovon im Einzelfall stets Gebrauch zu machen ist. Alles andere stellt einen rechtswidrigen Ermessensnichtgebrauch dar.

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 13.12.2021 – L 7 R 122/19

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren – Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander – Anspruch des nachrangig verpflichteten Grundsicherungsträgers gegen den Rentenversicherungsträger aufgrund der Bewilligung einer Witwenrente – erhöhte Witwenrente im Sterbevierteljahr – Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – zweckbestimmte Einnahme – ausdrücklich genannter Zweck

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Bei der erhöhten Witwenrente im sog. Sterbevierteljahr handelt es sich nicht um eine nach öffentlichen Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbrachte Leistung im Sinne des § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II.

2. Der Sterbevierteljahresbonus dient der Sicherung des Lebensunterhalts des Hinterbliebenen im Übergangszeitraum und damit demselben Zweck wie die Leistungen des SGB II.

Quelle: www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de

6.2 – EIGENANTEILE FÜR DIE UNTERBRINGUNG IN SAMMEL-UNTERKÜNFTEN FÜR GEFLÜCHTETE

ein Beitrag von RA Volker Gerloff

weiter: www.ra-gerloff.de

6.3 – Aktualisierung der Daten über angemessene Kosten der Unterkunft im Landkreis Göttingen

Die Seite mit Angemessenheitsgrenzen für Kosten der Unterkunft im Sinne von § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 35 Abs. 1 u. 2 SGB XII und § 3 Abs. 3 S. 3 AsylbLG im Landkreis Göttingen wurde vollständig überarbeitet und an die Werte für die Zeit ab 01.01.2022 angepasst.

weiter bei RA Sven Adam

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker