Tacheles Rechtsprechungsticker KW 21/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem (SGB II) und zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 18.05.2022 – B 7/14 AS 1/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Bedarfe für Unterkunft und Heizung – Betriebsstrom – Gastherme

Gastherme kann Mehrbedarf für Hartz-IV-Bezieher begründen

Eine Gastherme in einem Hartz-IV-Haushalt kann den Anspruch auf einen Mehrbedarf für Warmwasser begründen. Voraussetzung für den Erhalt der gesetzlichen Pauschale ist, dass die Gastherme nicht nur als Heizung dient, sondern auch zur dezentralen Warmwasserversorgung verwendet wird (www.evangelisch.de)

Quelle: www.evangelisch.de

1.2 – BSG, Urt. v. 18.05.2022 – B 7/14 AS 27/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Sozialhilfe – Leistungsausschluss – EU-Ausländer

EU-Bürger können Anspruch auf SGB XII Leistungen haben

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Im Hinblick auf das Vorbringen des beigeladenen Sozialhilfeträgers, seine Verurteilung zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII komme bereits deswegen nicht in Betracht, weil es sich vorliegend um ein Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X gegenüber dem Jobcenter handele, verweist der erkennende Senat auf die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 29.3.2022 (B 4 AS 2/21 R). Er schließt sich dieser insoweit an. Auch in einer solchen Konstellation ist dem prozessökonomischen Zweck der sogenannten unechten notwendigen Beiladung iS des § 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG Rechnung zu tragen.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis:
Dazu RA Volker Gerloff auf Twitter:
EU-Bürger:innen u Existenzsicherung

Deutet sich Dissens zwischen 4. u 7. Senat des BSG an?

29.3.22, B 4 AS 2/21 R: EU-Bürg. können von Existenzsicherung komplett ausgeschlossen werden
18.5.22, B 7/14 AS 27/21 R: EU-Bürg. können Anspruch auf SGB XII haben

1.3 – BSG, Urt. v. 18.05.2022 – B 7/14 AS 9/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – einmalige Einnahme – Überstundenvergütung – abschließende Feststellung

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Grundsätzlich gilt, dass im Rahmen des § 41a Abs 4 Satz 1 SGB II aF die durchzuführende Bildung eines Durchschnittseinkommens alle Einkommensarten und alle Monate des Bewilligungszeitraums erfasst. Es ist je Einkommensart ein Durchschnittseinkommen zu berechnen und abschließend das Durchschnittseinkommen um die Absetzbeträge nach § 11b SGB II zu bereinigen.

2. In die Bildung eines Durchschnittseinkommens nach § 41a Abs. 4 S. 1 und 3 SGB II sind auch im Bewilligungszeitraum zu berücksichtigende Teilbeträge einer einmaligen Einnahme einzubeziehen.

Quelle: www.bsg.bund.de

1.4 – SG, Urt. v. 19.05.2022 – B 8 SO 13/20 R

Sozialhilfe – Eingliederungshilfe – Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft – Kosten einer Urlaubsreise – Begleitperson

Der Wunsch, sich jährlich einmal auf eine einwöchige Urlaubsreise zu begeben und dafür die hier in Rede stehenden Kosten aufzuwenden, ist ein angemessenes soziales Teilhabebedürfnis und geht nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfeberechtigten Erwachsenen hinaus.

Behinderungsbedingte Mehrkosten einer Urlaubsreise als soziale Teilhabeleistung vom Sozialhilfeträger zu erstatten

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft kommen auch Kosten in Betracht, die aus einem legitimen Teilhabebedürfnis des behinderten Menschen nach Freizeit und Freizeitgestaltung und damit auch nach einem Erholungsurlaub folgen. Allerdings ist das allgemeine Urlaubsbedürfnis nicht behinderungsbedingt, sondern besteht bei behinderten wie nicht behinderten Menschen in gleicher Weise.

2. Kosten hierfür werden grundsätzlich nicht als Leistung der Eingliederungshilfe übernommen. Dagegen sind behinderungsbedingte Mehrkosten wie die Reisekosten einer notwendigen Begleitperson, mit denen der behinderte Mensch allein aufgrund seiner Behinderung konfrontiert ist, zu übernehmen, wenn sie vor dem Hintergrund seiner angemessenen individuellen Wünsche notwendig zum Erreichen der Leistungsziele sind und das Teilhabebedürfnis – hier nach Erholung – nicht bereits erfüllt ist.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis:
Bundessozialgericht erleichtert Urlaubsreisen für Rollstuhlfahrer

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Pressemitteilung BSG:
Behinderungsbedingte Mehrkosten einer Urlaubsreise als soziale Teilhabeleistung vom Sozialhilfeträger zu erstatten

weiter: www.bsg.bund.de

1.5 – BSG, Urteil v. 19.05.2022 – B 8 SO 1/21 R

Sozialhilfe – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – einmaliger Bedarf – „weiße Ware“ – Waschmaschine

Waschmaschine muss von Sozialhilfebeziehern angespart werden.

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Die Gewährung eines Zuschusses für die Anschaffung von Haushaltsgeräten kommt nur in Betracht, wenn es sich um einen Fall der Erstausstattung, nicht aber – wie hier – um einen Fall der Ersatzbeschaffung handelt.

2. Zu einer erweiternden Auslegung des § 31 Abs 1 Nr 1 SGB XII, wonach die Kosten für die Anschaffung von langlebigen und deshalb besonders teuren Geräten – sogenannte “weiße Ware” – auch dann zu zahlen wären, wenn die Neuanschaffung verschleißbedingt notwendig wird, sieht sich der Senat nicht aus verfassungsrechtlichen Erwägungen gedrängt.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis:
Sozialhilfebezieher müssen für neue Waschmaschine spare

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Kommentar von Harald Thomé/ Tacheles e.V.:
Diese Entscheidung wäre für das BSG gewesen sich mit den unzureichenden SGB II/SGB XII Regelleistungen zu beschäftigten und diese aufzubrechen. Das BVerfG war in seiner Entscheidung zu den SGB II-Regelleistungen aus dem Jahr 2014 klarer und hat dort deutlich gesagt, der Gesetzgeber müsse wegen der unzureichenden Festsetzung der Regelleistungen eine Anspruchsgrundlage für Elektroweißgeräte, also auch Waschmaschinen schaffen.

Genau an der Stelle hätte das BSG mit dieser Entscheidung ansetzen können und müssen.

Fazit: Die Obergerichte legen Rechtslagen meistens max. restriktiv aus und legitimieren und zementierten damit diese Armutssysteme im SGB II /SGB XII! Diese Entscheidung ist ein Fundament der Armutszementierung.

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 01.12.2021 – L 18 AS 1367/21 B ER, L 18 AS 1371/21 B ER PKH

Einstweiliger Rechtsschutz – Folgenabwägung – verfassungskonforme Auslegung bei existenzsichernden Leistungen – Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – vorherige Zusicherung des Grundsicherungsträgers im Hinblick auf einen Umzug bzw die Übernahme von Unterkunftskosten für eine neue Unterkunft

Orientierungssatz
1. Der vorherigen Zusicherung im Sinne des § 22 Abs 4 SGB 2, bei der es sich um einen Verwaltungsakt handelt (vgl BSG vom 22.11.2011 – B 4 AS 219/10 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 57), kommt die Funktion zu, vor einem Umzug zu klären, ob die ggf höheren Kosten einer neuen Unterkunft übernommen werden. Die Regelung dient damit auch dem Schutz des Hilfebedürftigen vor den weitreichenden Konsequenzen einer etwaigen “Deckelung” der Unterkunftskosten gemäß § 22 Abs 1 S 2 SGB 2 (vgl BSG vom 30.8.2010 – B 4 AS 10/10 R = BSGE 106, 283 = SozR 4-4200 § 22 Nr 40). (Rn.2)

2. Zur einstweiligen Anordnung der Erteilung einer Zusicherung gemäß § 22 Abs 4 SGB 2 für eine konkret nachgewiesene, noch nicht angemietete, aber noch verfügbare neue Unterkunft im Rahmen der Folgenabwägung unter Berücksichtigung der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG bei existenzsichernden Leistungen, wenn die Anmietung der konkreten Unterkunft auch nach Aussage des Vermieters nur unter Zusicherung möglich ist. (Rn.3)

Quelle: gesetze.berlin.de

2.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.08.2021 – L 18 AS 2267/18

Zuständiger Sozialleistungsträger für die Festsetzung der Rechtsanwaltsgebühr im Überprüfungsverfahren

Orientierungssatz
1. Über die Rücknahme eines Bescheides im Überprüfungsverfahren nach Unanfechtbarkeit des zu überprüfenden Bescheides entscheidet nach § 44 Abs. 2 SGB 10 die sachlich zuständige Behörde. Dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist, § 44 Abs. 3 SGB 10.(Rn.17)

2. Hat die Agentur für Arbeit über eine Kostenfestsetzung als zuständiger Träger i. S. des § 63 SGB 10 entschieden, so folgt aus § 90 SGB 10 keine Zuständigkeit des Grundsicherungsträgers. Damit ist die Arbeitsagentur nach § 44 Abs. 3 SGB 10 auch für das Überprüfungsverfahren zuständig.(Rn.18)

Quelle: gesetze.berlin.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – SG Karlsruhe, Urt. v. 10.05.2021 – S 2 AL 1377/21

Leitsätze
1.) Für das Tatbestandsmerkmal „die zu einem Abschluss in einem Ausbildungsberuf führt, für den nach bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften eine Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren festgelegt ist“ in § 131a Abs. 3 SGB III kommt es auf die Regelausbildungsdauer an. Eine Verkürzung der Ausbildungsdauer auf ein Jahr wegen Anrechnung eines erworbenen Abschlusses steht einer Prämiengewährung nicht entgegen.

2.) Das Tatbestandsmerkmal „die an einer nach § 81 SGB III geförderten beruflichen Weiterbildung teilnehmen“ in § 131a Abs. 3 SGB III verweist lediglich auf die Erforderlichkeit der Durchführung des Bildungsgutscheinverfahrens (§ 81 Abs. 4 SGB III); die Gewährung einer Weiterbildungsprämie ist deshalb auch bei einer nach § 82 SGB III erfolgenden Förderung der Weiterbildung nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

4.1 – LSG Bayern, Beschluss v. 15.03.2022 – L 8 AY 7/22 B ER

Leitsätze
1. Auch für die Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG ist im Wege der normerhaltenden teleologischen Reduktion zu fordern, dass dem Leistungsberechtigten ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen ist.

2. Die Vorwerfbarkeit des Unterlassens der freiwilligen Ausreise setzt voraus, dass der Leistungsberechtigte Kenntnis von seiner Verpflichtung zur freiwilligen Ausreise hat.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

5.1 – SG Oldenburg, Beschluss 17.01.2022 – S 43 AS 1/22 ER

Herbert Masslau

Regelleistung 2022 – Kritik an der SG Oldenburg-Entscheidung

weiter bei Herbert Masslau

5.2 – Höhere Jobcentermieten in Berlin 2022, ein Beitrag von RA Matthias Göbe

Die Jobcenter in Berlin begrenzen die übernahmefähigen Mieten derzeit auf Basis der “AV-Wohnen”, welche für einen 1-Personen Haushalt derzeit regulär eine Bruttokaltmiete (Grundmiete + Betriebskosten) von 426 €, für zwei Personen 515,45 €, für 3 Personen 634,40 € usw. vorsieht (für die Heizkosten gelten gesonderte Grenzwerte).

Liegt die tatsächliche Miete darüber, muss der Betreffende die Differenz nach Aufforderung des Jobcenters, die Mieten binnen sechs Monaten zu senken, aus eigener Tasche dazuzahlen, was je nach Lücke zu erheblichen Mehraufwendungen führt.

Die Grenzwerte der AV-Wohnen nehmen auf die Preissteigerungen auf dem angespannten Wohnungsmarkt, insbesondere bei Neuanmietungen, jedoch nur unzureichend Rücksicht.

Die Kammern des Sozialgerichts Berlin erkennen diese Grenzwerte daher zunehmend nicht mehr an und verwenden vielmehr die Grenzwerte aus dem Wohngeldgesetz.

weiter auf www.anwalt.de

Hinweis Redakteur von Tacheles e. V.:
Siehe aktuell dazu die erstrittene Entscheidung von RA Kay Füßlein: SG Berlin, Urt. vom 15.02.2022 – S 136 AS 2303/18

weiter: www.ra-fuesslein.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker