Tacheles Rechtsprechungsticker KW 26/2022

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 12.05.2022 – L 3 AS 243/20

Leitsätze
1. Ein im Verwaltungsverfahren Beteiligter hat keinen Anspruch darauf hat, dass eine Verwaltungsakte in einer bestimmten Weise, zum Beispiel chronologisch, geordnet geführt wird, oder dass sie blattiert oder paginiert wird.

2. Eine ungeordnete oder unvollständige Verwaltungsakte kann lediglich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung sein: Zum einen kann eine solche Akte darauf hindeuten, dass die Behörde ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X nicht nachgekommen ist oder zumindest die entscheidungserheblichen Fakten nicht aktenkundig gemacht hat. Zum anderen kann eine ungeordnete oder unvollständige Verwaltungsakte auch den Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzen. In beiden Fällen muss ein entsprechender Mangel aber vom Verfahrensbeteiligten substantiiert gerügt und nicht nur ins Blaue hinein behauptet werden.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – Sächsisches LSG, Urt. v. 17.03.2022 – L 3 AS 568/21

Leitsätze
1. Wenn ein Leistungsberechtigter gegenüber seinem Vermieter die Unterkunftskosten mindert, sind dies gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II die tatsächlich zu berücksichtigenden laufenden Unterkunftskosten, sofern die Mietminderung nicht offensichtlich unwirksam ist.

2. Wenn später in einem wegen der Mängel der Wohnung geführten Gerichtsverfahren festgestellt wird, dass dem Mieter kein Minderungsrecht oder jedenfalls kein Minderungsrecht in der geltend gemachten Höhe zugestanden hat, und es zu Nachforderungen kommt, gehören diese dann einmalig geschuldeten Zahlungen als weiterer einmaliger Unterkunftsbedarf im Rahmen der Kostenangemessenheit zum aktuellen Bedarf des Monats, in dem die Nachforderung rechtskräftig und damit fällig geworden ist.

3. Der Zeitpunkt der Fälligkeit der Mietforderung des Vermieters einerseits und der Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs auf Übernahme einer Nachzahlung gegenüber einem Jobcenter andererseits können auseinanderfallen.

4. Wenn der Gesetzgeber einem Mieter die Möglichkeit eröffnet, prozessrechtlich aktiv einen Rechtsstreit in einem Mietrechtsverhältnis gerichtlich klären zu lassen (hier im Rahmen einer Feststellungsklage), ist es einem Jobcenter verwehrt, den Mieter darauf zu verweisen, sich in dem Mietrechtsstreit prozessrechtlich passiv zu verhalten.

5. Eine Verjährung tritt nicht durch Zeitablauf „automatisch“ ein, sie muss vielmehr geltend gemacht werden.

6. Eine grundsicherungsrechtliche Verpflichtung eines Leistungsberechtigten, gegenüber dem Vermieter die Einrede der Verjährung zugunsten eines Jobcenter zu erheben, ist nicht erkennbar.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – LSG Hessen, Beschluss v. 13.06.2022 – L 6 AS 196/22 B ER

Leitsätze
Die Rücknahme aus § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbs. 2 SGB II, wonach ein Anspruch auf laufende Leistungen zum Lebensunterhalt der Grundsicherung für Arbeitsuchende trotz fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ausgeschlossen sind, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde, kommt nicht zur Anwendung, wenn der entsprechende Bescheid weder bindend noch sofort vollziehbar ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.4 – LSG NRW, Urt. v. 23.06.2022 – L 6 AS 120/17

Unterkunftskosten im Märkischen Kreis für Empfänger nach Leistungen des SGB II/ SGB XII zu niedrig, denn die Grundsicherungsträger verfügen über kein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG (Redakteur von Tacheles e. V.)

Pressemitteilung von RA Lars Schulte- Bräucker zu den Unterkunftskosten im Märkischen Kreis für Empfänger nach Leistungen des SGB II/ SGB XII

Auszug:
Hintergrund sind die aus Sicht des Grundsicherungsträgers als angemessen angesehenen Unterkunftskosten für Leistungsbezieher nach dem SGB II/ SGB XII nach dem Konzept der Firma Analyse und Konzepte.

Das Verfahren stammt aus dem Jahr 2015.

Das Sozialgericht Dortmund hatte die Klage in dem Verfahren S 19 AS 3392/15 am 01. Dezember 2016 noch abgewiesen und war davon ausgegangen, dass das Konzept schlüssig im Sinne der Rechtsprechung ist.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat der Klägerin nunmehr am heutigen Tagen in weiten Teilen Recht gegeben und festgestellt, dass das Konzept des beklagten Jobcenters Märkischer Kreis nicht schlüssig im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist.

Begründet wurde dies vor allem mit der fehlenden Repräsentativität und Validität der verwandten Daten für das Konzept der Firma Analyse und Konzepte.

Das beklagte Jobcenter Märkischer Kreis konnte ein genaues Verhältnis der einzelnen Vermietertypen im angeforderten Datenmaterial, das dem Konzept zu Grunde lag, nicht belegen, was aber für die Schlüssigkeit erforderlich ist.

Es wurde z.B. vom Unterzeichnenden festgestellt, dass die IGW mit nach eigenen Angaben mehr als 2000 Wohnungen bei der Erstellung des Konzeptes gänzlich unberücksichtigt geblieben ist.

Diese Mängel bei der Erstellung des Konzeptes führten nach Ansicht des Landessozialgerichts demnach zur fehlenden Schlüssigkeit der Richtlinien des Märkischen Kreises zu den Unterkunftskosten.

Daraus folgt, dass aufgrund der fehlenden Schlüssigkeit die Werte nach dem Wohngeldgesetz zzgl. eines Sicherheitszuschlages von 10 % als Kosten der Unterkunft für die Leistungsbezieher und damit auch die Klägerin zu gewähren sind.

Damit dürfte bis auf weiteres für Leistungsempfänger keine Kürzung der Kosten der Unterkunft mehr möglich sein, weil bis heute aus Sicht des Unterzeichnenden kein schlüssiges Konzept des Jobcenters Märkischer Kreis bzw. des Märkischen Kreises vorliegt, weil auch die nachfolgenden Konzepte in den Folgejahren nach den gleichen Maßstäben entwickelt worden sein dürften.

Eine Revision gegen die Entscheidung wurde in dem Urteil am heutigen Tage nicht zugelassen.

Quelle: RA Lars Schulte – Bräucker

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Köln, Urteil vom 17. Mai 2022 (S 15 AS 322/21):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Auch wenn in einem Bundesland grundsätzlich Lernmittelfreiheit besteht, sind auch hier durch Schülerinnen und Schüler regelmäßig darüberhinausgehende Bücher für den Unterricht anzuschaffen, ohne dass diese Medien von der Lernmittelfreiheit erfasst werden.

Die landesgesetzlich verfügte Lernmittelfreiheit ist insoweit nicht als umfassend einzuschätzen.

Dies hat zur Folge, dass die von der Lernmittelfreiheit nicht mit abgedeckten Schulbüchern vom Jobcenter als Härtefallmehrbedarf gemäß § 21 Abs. 6a SGB II anzuerkennen sind.

Die vom SGB II-Träger entsprechend § 28 Abs. 3 SGB II zu bewilligende Pauschale für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf umfasst nicht auch die Ausstattung mit notwendigen Schulbüchern.

Das im Regelbedarf (§ 20 SGB II) enthaltene Ansparpotential reicht bei einer nicht vollständigen Lernmittelfreiheit in keiner Weise zur Finanzierung auch dieses Sonderbedarfs aus.

2.2 – Sozialgericht Köln, Urteil vom 17. Mai 2022 (S 15 AS 4356/19):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Bei Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren für ein zusammen mit seiner nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigten Mutter im Bundesgebiet ständig lebenden, nichtdeutschen Kindes, deren Vorlage das Jobcenter als Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II verlangt, handelt es sich um einen besonderen, vom SGB II-Träger gemäß § 21 Abs. 6 SGB II anzuerkennenden Bedarf.

Ein Betrag in einer Höhe von EUR 244,80 (Kosten für die Ausstellung des Ausweises: EUR 136,-; Fahrkosten zur zuständigen Auslandsvertretung: EUR 108,80) übersteigt die in den Regelbedarf (§ 20 SGB II) eingestellten Aufwendungen für die Anschaffung deutscher Ausweispapiere bei Weitem. Für unter 14jährige Personen sind die für die Beibringung von Ausweispapieren entstehenden Kosten in keiner Weise vom Regelbedarf mit umfasst.

Die Gewährung eines Darlehens entsprechend § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II kommt nicht in Betracht, wenn das Jobcenter die Kindsmutter mehrfach und über Monate hinweg zur Vorlage von Ausweispapieren für ihr nichtdeutsches Kind aufgefordert und die Gewährung von Leistungen an diese minderjährige Person hiervon abhängig gemacht hat.

Von einer Unabweisbarkeit nach § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II des in diesem Zusammenhang entstehenden Mehrbedarfs ist hier deshalb auszugehen.

Gemäß § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II anerkennungsfähig sind allerdings einzig die Aufwendungen für die Ausstellung des Ausweises und die in diesem Zusammenhang erwiesenermaßen entstehenden, notwendigen Fahrkosten. Die Aufwendungen für die Anfertigung eines Reisepasses müssen hier als nicht erforderlich eingeschätzt werden. Das Interesse eines bedürftigen Kindes, Reisen in außereuropäische Länder durchführen zu können, unterfällt grundsätzlich nicht den existenzsicherungsrechtlich geschützten Bedarfslagen.

Dazu auch RA Volker Gerloff auf Twitter:
Passbeschaffungskosten für ausländisches Kind können über § 21 Abs. 6 SGB II vom JobCenter zu übernehmen sein, wenn JobCenter Vorlage des Passes zur Leistungsvoraussetzung macht.

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 31.03.2022 – L 3 AL 12/20

Leitsätze
1. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung scheidet aus, wenn die Verfügbarkeit aus anderen Gründen als der konkreten Weiterbildungsmaßnahme (hier: stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme) nicht gegeben ist.

2. Der Kostenträger der stationären Behandlung nach § 146 SGB III muss nach dem klaren Gesetzeswortlaut eine Krankenkasse sein. Maßnahmen auf Kosten des Rentenversicherungsträgers oder der Berufsgenossenschaft erfüllen nicht den Tatbestand des § 146 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB III.

3. Einer analoge Anwendung des § 146 SGB III gestützt werden. Einer Analogie steht neben dem klaren Gesetzeswortlaut (stationäre Behandlung auf Kosten der Krankenkasse) das Fehlen einer planwidrigen Regelunglücke entgegenstehen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.4.2022 – L 2 SO 3201/21

Leitsätze
Die Covid-19-Ausnahmeregelung in § 141 Abs. 2 SGB XII gilt ausnahmslos für alle (Erst-)Antragsteller im Rahmen des vorgegebenen Zeitfensters. Eine Beschränkung auf die unter anderem insbesondere in der Gesetzesbegründung benannten Gruppen von Kleinunternehmern, Solo-Selbstständigen oder auch Minijobber ist dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen.

Quelle: lrbw.juris.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 18.05.2022 – L 8 AY 4/21

Leitsätze
Leistungen der Hilfe zur Pflege sind einem Bezieher von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG von dem Zeitpunkt an zu erbringen, sobald dem Leistungsträger bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. „Bekanntwerden“ in diesem Sinne bedeutet, dass die Notwendigkeit einer Leistung der Sozialhilfe als solche dargetan oder sonst erkennbar ist (Anschluss an BSG, Urteil vom 28. August 2018 – B 8 SO 9/17 R). Davon ist auszugehen, wenn dem zuständigen Sozialleistungsträger in dem Behandlungsbericht eines Krankenhauses Tatsachen mitgeteilt werden, die auf den erheblichen Pflegebedarf des Betroffenen hinweisen. Unerheblich erscheint daher, ob dessen Eltern, die der deutschen Sprache seinerzeit nicht mächtig gewesen sind, mit der Hilfe Dritter dazu imstande gewesen wären, entsprechende Leistungen zu beantragen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker