Tacheles Rechtsprechungsticker KW 27/2022

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 07.04.2022 – L 10 AS 2286/18

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Zweipersonenhaushalt in Berlin 2015/2016 – Angemessenheitsprüfung – Tabellenwerte der Wohngeldtabelle plus Sicherheitszuschlag

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Es liegt ein Erkenntnisausfall zur angemessenen Referenzmiete vor. Deshalb ist zur Bestimmung der abstrakt angemessenen Unterkunftskosten auf die Werte nach § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) zzgl. eines Sicherheitszuschlages von 10 % iS einer Angemessenheitsobergrenze zurückzugreifen (vgl zu dieser Möglichkeit, wenn das Gericht keine Möglichkeit sieht, abstrakte Angemessenheitswerte selbst festzulegen: BSG, Urteil vom 03. September 2020 – B 14 AS 37/19 R).

Quelle: gesetze.berlin.de

Hinweis:
Ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 16.12.2021 – L 10 AS 1386/21 B ER – Bei Fehlen eines schlüssigen Konzepts kann das Gericht auf die Angemessenheitswerte nach § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10 % zurückgreifen.

1.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.03.2022 – L 1 AS 456/21 WA

Zur Ermittlung der Angemessenheit der Unterkunftskosten 2016- 2017 in Berlin bei Einzelpersonen

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Die angemessene Miete nach § 22 SGB II in Berlin richtet sich nach dem Wohngeldgesetz (hier 2016- 2017).

2. Soweit in der Rechtsprechung zum Teil die Ansicht vertreten wird, die Verfügbarkeit von Wohnraum in Berlin lasse sich nur aus dem Anteil der angebotenen Wohnungen bestimmen, die zu einem als angemessen angesehenen Mietwert anmietbar waren und unter Hinweis auf das Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) auf die unteren 20% der verfügbaren Wohnungen (SG Berlin, Urteil vom 06.07.2021 – S 179 AS 1083/19 oder unter Hinweis auf eine Passage in dem Urteil des BSG vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R auf einen Anteil von 33% (SG Berlin, Urteil vom 19.07.2021 – S 155 AS 14941/16) abgestellt wird, überzeugt dies nicht.

3. Der mithin vorhandene Erkenntnisausfall hinsichtlich der angemessenen Referenzmiete macht den Rückgriff auf die Tabellenwerte des § 12 WoGG zzgl. eines Sicherheitszuschlags von 10% nach generell-abstrakten Kriterien im Sinne einer Angemessenheitsobergrenze erforderlich (BSG, Urteile vom 16.06.2015 – B 4 AS 44/14 R).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Vgl. zu dieser Problematik: LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 01.12.2021 – L 32 AS 579/16 – Revision zugelassen

Angemessenheit der Unterkunftskosten – Angemessenheit der Warmwasserkosten – Sozialer Wohnungsbau – Sozialrechtsoptimierungsgebot – Referenzgruppe

Leitsatz
Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit sind wegen dessen normativer Vorprägung die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Sicherung angemessenen Wohnraums für Hilfebedürftige zu beachten, um sicherzustellen, dass der Vergleich mit der Referenzgruppe gelingt. Dazu gehört in angespannten Wohnungsmärkten der Vergleich mit den Mieten im sozialen Wohnungsbau.

Auch wenn sich das Gericht nicht in der Lage sieht, eine Angemessenheitsgrenze zu bestimmen, ist bei einem Vergleich mit Sozialmieten die Feststellung zulässig, dass die konkrete Bruttokaltmiete im Einzelfall angemessen war.

Das Sozialrechtsoptimierungsgebot des § 2 Abs. 2 SGB I schließt in seiner verfahrensrechtlichen Wirkung bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit die Verortung der Darlegungs- und Beweislast auf Seiten des Leistungsberechtigten aus.

1.3 – LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 12.05.2022 – L 2 AS 468/22 B ER

Angemessenheitsprüfung der Unterkunftskosten in Pandemie nur für sechs Monate ausgesetzt

Während der COVID-19-Pandemie ist trotz gesetzlicher Sonderregelung ein Kostensenkungsverfahren nicht generell ausgeschlossen.

Bei im Zeitraum 01.03.2020 bis 31.03.2022 beginnenden Bewilligungszeiträumen, sei für sechs Monate eine Angemessenheitsprüfung nicht vorzunehmen.

Nach Ablauf der sechs Monate solle jedoch nach dem klaren Gesetzeswortlaut die allgemeine Regelung des § 22 SGB II wieder gelten. Deren Regelungszweck liege darin, dass die von den Auswirkungen der Pandemie Betroffenen sich kurzfristig nicht auch noch um ihren Wohnraum sorgen müssten. Von einem kurzfristigen Verlust dürfe jedoch nach über einem Jahr im SGB II-Leistungsbezug nicht mehr ausgegangen werden.

Pressemitteilung LSG NRW

Anmerkung Redakteur:
Ehrlich, die Pandemie legt grad richtig wieder zu, so dass ich der Auffassung vom LSG NRW nur schwer folgen kann, warten wir mal andere Gerichte ab, denn solange die Pandemie herrscht, muss auch diese Ausnahmeregelung gelten.

Anmerkung Harald Thomé:
Diese Entscheidung des LSG NRW ist max. Auslegung zu Lasten der Leistungsberechtigten, eigentlich nichts anderes als vom LSG NRW in Bezug auf KdU seit Jahren immer schon läuft, das Gesetzt sagt deutlich, die Angemessenheitsfiktion des § 67 Abs. 3 SGB II gelte für jeden neu begonnenen Bewilligungszeitraum, insofern nicht vorher wegen Unangemessenheit schon gekürzt wurde. Diese eindeutige Rechtslage wird von LSG NRW komplett ignoriert. 

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – Sozialgericht Magdeburg vom 16.06.2022 – S 10 AS 2807/18

Leitsatz RA Michael Loewy
Der Amtsermittlungsgrundsatz des § 20 SGB X umfasst auch die Einholung eines Befundberichtes des vom Kläger benannten Arztes. Bei einem Sanktionsbescheides wegen eines Meldeversäumnisses ist der Gegenstand des Verfahrens eine reine Anfechtungsklage, so dass es der Behörde obliegt, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides nachzuweisen. Ein Gericht ist aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes nicht verpflichtet, bei einer reinen Anfechtungsklage Ermittlungen nachzuholen, die die beklagte Behörde unterlassen hat, um die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts selbst festzustellen.

Quelle: www.anwaltskanzlei-loewy.de

Dazu auch Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Sozialgericht Magdeburg, Gerichtsbescheid vom 16. Juni 2022 (S 10 AS 2807/18):

Wenn ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) einer vom Jobcenter gemäß § 59 SGB II in Verbindung mit § 309 SGB III geäußerten Meldeaufforderung zu einem Gespräch über seine berufliche Situation und seine berufliche Perspektive nicht nachkam, diesem SGB II-Träger gegenüber aber sowohl das ihm erhebliche Beschwerden bereitende orthopädische Krankheitsbild als auch wegen der weiteren Einzelheiten den ihn behandelnden Facharzt näher bezeichnete, dann entsprach dieser Alg II-Empfänger seiner Darlegungs- und Nachweispflicht nach § 32 Abs. 1 Satz 2 SGB II im hinreichenden Maße.

Es obliegt hier dem Jobcenter, in Umsetzung des aus § 20 SGB X fließenden Untersuchungsgrundsatzes vom behandelnden Arzt erforderlichenfalls detaillierte Befundberichte anzufordern.

2.2 – SG Detmold, Gerichtsbescheid vom 15.06.2022 – S 35 AS 520/21

Auch Mietkautionen verjähren…. Eine Anmerkung von RA Kay Füßlein
Bis zu einer Änderung des SGB II war es üblich, dass Mietkautionen durch die JobCenter als Darlehen – gesichert mit einer Abtretungserklärung- gestellt worden sind, aber keine Aufrechnung während des Leistungsbezuges erfolgte. Nach einem Umzug (und die passiert häufiger als angenommen) wurde vergessen, die Mietkaution zurückzufordern (oder der Vermieter verweigerte die Rückzahlung unter fadenscheinigen Gründen).

Im vorliegenden Fall erhielt die Klägerin nach vielen, vielen Jahren des Auszuges eine Mahnung über die Rückzahlung der Kaution. Problem: meist ist die alte Wohnung verkauft, der Vermieter nicht mehr auffindbar und falls doch, wird – was sein gutes Recht ist- Verjährung eingewandt (nach dem BGB drei Jahre).

Das nunmehr am Wohnort der Klägerin zuständige Sozialgericht Dortmund entschied mit Gerichtsbescheid vom 15.06.2022, dass die Rückforderung verjährt ist:

weiter bei RA Kay Füßlein

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 27.04.2022 – L 2 AL 27/16

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Zur Frage, ob der Kläger Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) hat, insbesondere, ob der Kläger aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung seines Vaters verwiesen werden kann (vgl. § 60 Abs. 2 Nr. 4 SGB III).

2. Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles ist es noch zumutbar für den Kläger, vorübergehend in der Wohnung seines Vaters zu wohnen.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – Sozialgericht Dresden, Urteil vom 5. April 2022 (S 21 SO 199/18):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Bei einem mehrfachbehinderten Menschen kann die Neuanschaffung eines altersgerechten, dem vielschichtig schwierigen Leidenszustand (hier: Betroffenheit mit einem schweren neurologischen Krankheitsbild bei vollständiger Inkontinenz) angepassten Bett eine Teilhabeleistung nach den §§ 90 ff. SGB IX darstellen.

Gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB IX leistungsberechtigte Personen können Leistungen zur Sozialen Teilhabe zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum beitragen (“Leistungen für Wohnraum”), sofern hierfür ein krankheits-/behinderungsbedingtes Erfordernis besteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Nr. 1 sowie Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit § 77 Abs. 1 SGB IX; hier: Anschaffung eines dem Körpergewicht des behinderten Menschen angepassten Massivholzbett mit zusätzlichen Details in Form einer Aussperrung zur Befestigung des Sicherheitsgurtes bzw. einer Holzgalerie als besondere Sicherheitsmaßnahme).

Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens – wie ein Bett – können gemäß § 9 Abs. 1 und 2 Nr. 12 EingliederungshilfeVO ein Hilfsmittel darstellen, das für die Ausstattung und die Erhaltung eines behindertengerechten Wohnraums notwendig sein kann (§ 77 Abs. 1 Satz 2 SGB IX).

Es handelt sich hier um eine auf einen bedeutenden Teil der Alltagsbewältigung gerichtete Leistung zur sozialen Rehabilitation.

5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

Mehrsprachige Erklärvideos zum Thema EU-Freizügigkeit

Die aufenthalts- und sozialrechtliche Regelungen für EU-Bürger*innen und ihre Familien sind sehr komplex. Daher stehen Menschen, die aus anderen EU-Staaten nach Deutschland ziehen, häufig vor Fragen, wie zum Beispiel:

– Benötige ich als EU-Bürger*in eine Aufenthaltserlaubnis

– Kann ich mein Recht auf Freizügigkeit verlieren?

– Haben ich und meine Familie Anspruch auf Sozialleistungen?

– Dürfen meine Familienangehörigen nachziehen, auch wenn sie keine EU-Bürger*innen sind?

Diese und viele andere Fragen werden in den vorliegenden Videos verständlich und einfach erklärt und mit Untertitel in 10 EU-Sprachen versehen: Bulgarisch, English, Französisch, Griechisch, Italienisch, Kroatisch, Polnisch, Rumänisch, Spanisch, Ungarisch. Die Sprachen der Untertitel können auf Youtube unter “Einstellungen” ausgewählt werden.

Das Video „EU-Freizügigkeit“ behandelt die verschiedene Freizügigkeitsrechte und ihre Auswirkung auf die Ansprüche auf Sozialleistungen.

weiter: www.der-paritaetische.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker